Märkte & Marktforschung im Umbruch: Russland & Ukraine

Russland und die Ukraine. Zwei Staaten mit einer gemeinsamen Vergangenheit, die in den vergangenen Jahrzehnten eher instabile Entwicklungen genommen haben auf politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene.

Godehardt Wakenhut (Bild: Godehardt Wakenhut, GIM)

Godehardt Wakenhut (Bild: Godehardt Wakenhut, GIM)

Von Godehard Wakenhut

Nichtsdestotrotz hat sich in beiden Ländern über die Jahre eine professionelle Marktforschungslandschaft entwickelt, die es schafft, trotz unterschiedlicher Widrigkeiten verlässliche Forschung zu bieten. Grund genug, sich die spezifischen Gemeinsamkeiten beider Märkte sowie die Rahmenbedingungen und Besonderheiten für Marktforschung einmal genauer anzusehen.

 

Die kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen 

Gemeinsame sowjetische Heritage 

Der große Rahmen, der beide Staaten eint, ist natürlich ihre sowjetische Vergangenheit. In beiden Ländern sind Gesellschaft und Menschen seit dem Zerfall der Sowjetunion auf der Suche nach einer neuen Identität auf kultureller, politischer und ökonomischer Ebene. Ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist.  Zwei Dimensionen spielen hierbei in beiden Ländern eine große Rolle. 

Erstens das historisch höchst emotionale, ambivalente Verhältnis zum „Westen“. Man will irgendwie dazu gehören, empfindet sich dann aber doch wieder als sehr anders. Das führt zu Begeisterung für westliche Produkte, aber bisweilen auch zu deren Ablehnung und zur Rückbesinnung auf alles Eigene und Nationale. Insbesondere in Russland wird die kulturelle Distanzierung zum Westen seit einigen Jahren auch politisch stark gefördert.  Die zweite Dimension ist eine starke materialistische Werteorientierung. Konsum und Statusorientierung spielen in beiden Ländern eine wichtige Rolle, postmaterialistische Tendenzen sind nur in sehr kleinen Bevölkerungsgruppen ausgeprägt. Beide Gesellschaften folgen, grob gesagt, der „klassischen Logik“ von Schwellenländern. Fazit: Die gemeinsame „Sowjet-Heritage“ prägt bis heute das jeweilige politische System, die gesellschaftlichen Wertegerüste, aber auch den Konsum in beiden Märkten.

Ökonomische Entwicklung: Schwankend und mit rückläufigen Tendenzen 

Ökonomisch hatten sowohl Russland als auch die Ukraine in der vergangenen Dekade mit Problemen zu kämpfen – mit entsprechendem Impact auf die Kaufkraft der Bevölkerung. So vermeldete die Russische Statistikbehörde Rosstat Anfang 2017 einen Rückgang der Realeinkommen gegenüber den beiden Vorjahren von knapp 9 Prozentpunkten. In der Ukraine geht es zwar inzwischen wieder langsam aufwärts – aber eben nur, wenn man die absoluten Krisenjahre Anfang des Jahrzehnts als Maßstab heranzieht. Das nominale Bruttoinlandsprodukt betrug laut Internationalem Währungsfonds 2016 mit 93,3 Mrd. US $ weniger als die Hälfte (!) des Niveaus von 2008. 

In Russland ist vor allem die Spirale aus Sanktionen des Westens und entsprechenden Gegensanktionen zu nennen. Und das nachdem es einen regelrechten Wirtschaftsboom in den Nullerjahren gab, in denen Moskau endgültig zur Mega City aufstieg. Daneben gab es zwei drastische Abwertungen des Rubels binnen der letzten 20 Jahre, die letzte ausgelöst durch die Finanzkrise 2008/2009. Die Folgen: gesamt-ökonomische Schwankungen und massive Entwertung von Gehältern und materiellen Besitztümern von bis zu 50 Prozent. 

Die Ukraine war hingegen abgesehen von einer Blütezeit am Ende des 19. Jahrhunderts noch nie ein wirklich "wohlhabendes“ Land. Etwa ein Drittel der Wirtschaftskraft der Türkei und eine jährliche Inflationsrate von etwa 10 Prozent sprechen eine klare Sprache. Zudem knebelt die Rohstoffabhängigkeit von Russland sowie die Verteuerung von westlichen Waren durch relativ hohe Einfuhrzölle das ökonomische Wachstum. Und doch ist Zukunftspotenzial da, vor allem aufgrund der fruchtbaren Böden für die Landwirtschaft. Die Ukraine hat mit 56 Prozent der Landfläche den weltweit höchsten Anteil an Ackerboden bester Qualität – Schwarzerde.  Seit 2013 zeichnet sich langsam ab, dass einheimische Unternehmer aber besonders westliche und chinesische Investoren die ukrainische Landwirtschaft aus ihrer Produktivitätskrise herausführen.

Marktforschung in Russland - Mehr Normalität als vielfach gedacht      

Vorweg: der politische Rahmen hat in beiden Staaten auf die jeweilige Marktforschungsszene keinen sichtbaren Einfluss. Heißt: Vorstellungen, wonach Sicherheitskräfte bei einer Focus Group zum Thema Schokolade hinter der Scheibe sitzen oder mithören, sind Unsinn. Mafo-Projekte werden nicht kontrolliert und es wird staatlicherseits kein Einfluss auf die Inhalte genommen. 

Und doch hat die russische Branche während der letzten Dekade einen dramatischen Wandel erfahren: Unternehmen aus dem Westen haben ihre Forschungsbemühungen im Vergleich zu den Nullerjahren massiv heruntergefahren. Auf der anderen Seite gibt es neue Auftraggeber aus Asien und auch Staat und Politiker nutzen zunehmend die Dienste von Marktforschern. 

Russland: Tappen westliche Unternehmen in eine Falle?            

Was steckt hinter der "neuen Zurückhaltung“ westlicher Auftraggeber? Es sind verschiedene Ursachen, die sich gegenseitig verstärken. Da sind zum einen Sicherheitsbedenken: Kann mir am Ende etwas passieren? Kann ich mich frei bewegen? Zudem herrscht aufgrund der relativ stabilen Wertemuster bisweilen das Gefühl, Markt und Menschen zu kennen: „Dort tut sich eh nichts, wir haben den Markt verstanden.“ Ja, es stimmt: in Ländern, in denen die Kaufkraft nachlässt, wird generell weniger geforscht. Aber: Zunehmend treten in Russland Auftraggeber aus China oder Südkorea an die Stelle westlicher Unternehmen und lassen ihre Angebote beforschen. Und das machen sie bestimmt nicht ohne Grund. Russische Konsumenten switchen derzeit in ihren Präferenzen auf asiatische Produkte um – stabile Wertemuster hin oder her. Daraus entwickeln sich neue Fragestellungen für Anbieter aus dem Westen. Zum Beispiel die, was man tun muss, um nicht aus dem "Relevant Set" zu fallen. Außerdem: lauern wirklich Gefahren für Leib und Leben, wenn man IDIs in einem Studio in Moskau verfolgt? All dies gilt es vielleicht noch einmal zu überdenken. Letztlich geht es um die Frage: Gibt man den Markt erst einmal auf oder beforscht man ihn weiterhin unter neuen, veränderten Gesichtspunkten? 

Marktforschungs-Infrastruktur: Hohe Professionalität allerorten       

Die Institutslandschaft in Russland ist dank des Nachfrageschubs der Nullerjahre hochprofessionell. Von der „Goldgräberstimmung“ dieser Phase profitiert man noch heute: hohe Forschungsstandards und Kompetenzen und eine technische Ausstattung nahezu auf dem Niveau westlicher Studios, prägen die Forschungsinfrastruktur. Vor allem in Moskau, aber auch in anderen Großstädten. Wie gesagt bleiben jedoch vor allem Kunden aus dem Westen aus. Die Potenziale, die der Markt von der Infrastruktur her bietet, werden nicht ausgeschöpft. Deshalb sieht man Vertreter von Instituten und Studios sowie Freelancer verstärkt auf Messen wie der Research & Results: sie wollen sich präsentieren und neue Kunden gewinnen, um die vorhandenen Kapazitäten auszulasten. 

Watch-Out in Russland: Sample Point-Auswahl

Russland ist nicht nur riesig, sondern auch ein Vielvölkerland mit großen regionalen Unterschieden. Wer weiß, wie sein neuestes Produktdesign in der Mega City ankommt, darf nicht davon ausgehen, dass die Zielgruppe in Jekaterinburg am Ural das genauso sieht. Deshalb unbedingt immer verschiedene Sample Points planen! Logistisch wurde das in den letzten Jahren allerdings etwas erschwert. So hat die Lufthansa etwa ihre Flugverbindungen nach Russland geändert und manche Direktverbindungen gestrichen. Man kommt in viele regionalen Städten nicht mehr mit Direktflug aus Westeuropa, das heißt, es dauert unverhältnismäßig lange, weil alles über Moskau angeflogen werden muss. Tipp: entweder Videokonferenzen für Supervisionen oder zwei Tage mehr für die Reise einplanen. 

Marktforschung in der Ukraine: Der Bedarf ist da – der Krieg weit weg 

Die Ukraine ist hingegen – wenn auch auf niedrigem Niveau – weiterhin für Unternehmen aus Westeuropa, der Türkei oder den USA ein gefragter Forschungsmarkt. Auch wir als GIM sind regelmäßig dort, um für verschiedene Kunden zu forschen. Und das, wie in Russland, auf durchaus professionellem Level! Zwar gibt es weitaus weniger Studios, aber ein reibungsloser Ablauf in Sachen, Studienorganisation, Rekrutierung und Feldarbeit ist meist garantiert – ebenso wie kompetente Moderation. Die Szene konzentriert sich auf Kiew und Lemberg. Expectation Management ist allerdings hinsichtlich Catering und Innenausstattung der Studios: sie sind nicht wirklich "schön“ – und das Catering ist nicht auf dem Standard, wie wir es zum Beispiel hierzulande haben.

Aus eigener Erfahrung können wir sagen: In der Ukraine zu forschen ist heute so ungefährlich wie vor zehn Jahren auch. Der schwierige politische Rahmen hat so gut wie keinen Impact auf die Durchführung von Forschungsprojekten. Klar: keiner möchte derzeit auf der Krim forschen oder in der Ost-Ukraine, wo noch gekämpft wird. Aber diese Regionen gehörten noch nie zum relevant set "normaler“ westlicher Auftraggeber. 

“Sichere“ Sample Points: Kiew und Lemberg 

Man forscht in der Regel in der Hauptstadt Kiew und in der Westukraine, und zwar in Lemberg. Das hat mit der historischen kulturellen Zweiteilung des Landes zu tun. Es gibt den habsburgisch geprägten westlichen Teil des Landes, in dem traditionell ukrainisch gesprochen wurde und der Einfluss von katholischer, jüdischer und österreichischer Kultur stark waren. Demgegenüber gibt es die russisch geprägten Landesteile von Kiew an ostwärts. Hier spricht man traditionell russisch, es herrschte die orthodoxe Kirche und eine russisch geprägte Alltagskultur. Um die beiden kulturellen Welten des Landes zu erfassen, ist es bei vielen Fragestellungen erforderlich, Lemberg als zweiten Sample Point in das Forschungsdesign aufzunehmen.

Die Nachfrage ist durchaus da, wir haben dort in den vergangenen Jahren etwa im Bereich Lebensmittel, Beauty und Durables verschiedene Studien für unsere Kunden abgewickelt. Der Forschungsbedarf ist aus unserer Sicht nicht kleiner als in Rumänien oder vergleichbaren Ländern im südosteuropäischen Raum. 

Sprachen in der Ukraine: Zweisprachigkeit im Auge behalten 

Die kulturelle Zweiteilung des Landes muss bei Forschung auch in sprachlicher Hinsicht berücksichtigt werden. In der Region um Lemberg wird Ukrainisch gesprochen (als lingua franca). Zwar breitet sich die Sprache von hier kommend zunehmend aus im Land (und bildet dabei die Keimzelle eines neuen Nationalbewusstseins). Dennoch sprechen in den anderen Landesteilen viele Menschen noch immer kein Ukrainisch – sondern die zweite Amtssprache Russisch. Kiew ist insofern ein Sonderfall, als beide Sprachen relevant sein können. Für Research bedeutet dies: frühzeitig mit dem Auftraggeber das Sprachenthema klären, die Rekrutierung entsprechend aussteuern – und für alle Fälle alle Forschungsinstrumente wie Screener oder Leitfäden, aber auch Stimulusmaterialien in zwei Sprachen anfertigen. Entsprechend sollten bei quantitativen Projekten stets Sprachauswahlen angeboten werden. 

Abschließende Tipps für beide Märkte 

StudienteilnehmerInnen: Cultural Brokerage

Wer in Russland von Interviewpartnern Aussagen über die politische Lage und anverwandte Aspekte erwartet, sollte realistisch sein: die Menschen äußern sich generell nicht mehr oder nur sehr vorsichtig über Politik. Ja, da ist die (begründete) Angst vor Repression, aber auch Resignation im Spiel: für viele herrscht die Gewissheit vor, Politik und Gesellschaft sind voneinander entkoppelt. Man mischt sich nicht mehr ein, die breite Bevölkerung wird immer entpolitisierter. Nun ist dies eher selten Forschungsgegenstand, es strahlt aber ab: Wo früher eigene Produkte oder Dienstleistungen gerne schlecht geredet wurden, ist man nun eher vorsichtig. Oder gleich zynisch. 

Ein konkreter Punkt, der in beiden Märkten beachtet werden muss: die Menschen sind viel besser naturwissenschaftlich ausgebildet und deshalbsehr stark interessiert an Technik! Beim Test eines technischen Produkts wird entsprechend nachgefragt, man will es genau wissen, man will Details. Bedeutet: die Moderation und Studienleitung müssen vorbereitet sein, Kennzahlen müssen sitzen, Betriebsanleitungen bereitgelegt werden. Zu guter Letzt: das Genderthema: das Rollenverständnis in beiden Ländern entspricht bei vielen Menschen über 35 in etwa dem des Deutschlands der 50er Jahre. Studien zu Technik werden daher in der Regel mit Männern gemacht (auch Haushaltsgeräte!). Bei allen anderen Gütern, sind eher die Frauen die Entscheiderinnen und sollten eingeladen werden. Frauen und Männer jenseits der 30 sollten zudem in Qual Projekten immer getrennt eingeladen werden – in beiden Ländern! 

Fazit & Outlook

Strukturen und Potenzial sind vorhanden – sie müssen nur genutzt werden 

Dass zahlreiche Unternehmen ihre Forschungs-Invests in Russland eingefroren haben, ist verständlich. Und doch: es gibt Dynamiken im russischen Markt – und eine neue Herausforderung: nämlich herauszufinden, wie deutsche (oder europäische) Services oder Produkte gegen die wachsende Konkurrenz aus Asien punkten können. Selbstverständlich gilt in dieser Frage das Primat der Sanktionspolitik: Wenn Research deshalb aktuell keinen Sinn macht, sollte man eben abwarten, die Entwicklung im Auge behalten und existierende Barrieren regelmäßig neu bewerten. 

Für die Ukraine sehen wir weiterhin gute Gründe, um dort Forschung zu betreiben:

Das Land selbst ist voller konsumorientierter Menschen, die – wenn auch langsam – eine immer größere Mittelschicht bilden. In Ermangelung einer starken Konsumgüterindustrie können die Bedürfnisse dieser Menschen nur im Bereich von Lebensmitteln mit eigener Produktion gedeckt werden. Hier gibt es also größtes Potential für ausländische Marken – sowohl im Luxusbereich als auch im Mainstream. 

Der Autor 

Godehard Wakenhut ist Senior Research Director bei der GIM mit Fokus auf Gesundheit, Beauty und kulturvergleichender Forschung. Er studierte Internationale Beziehungen und Verwaltungswissenschaften in Konstanz, Wien und Kiew und ist seit 2000 bei der GIM. Seit seiner Kindheit spricht er fließend Russisch und forscht regelmäßig in Russland und der Ukraine.

 

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