Martins Menetekel Leichtsinn oder kalkuliertes Risiko?

Das Vorgehen Englands, notabene England und nicht UK, sorgt für Diskussionen und sehr abschätzende Beurteilung hier in Deutschland.
Die Belastung des Gesundheitssystems als Kennziffer
Nach meinem Dafürhalten ist das nicht gerechtfertigt. Die Öffnung beruht auf der Annahme, dass die wirklich gefährdeten Gruppen, darunter alle über 60 Jahre Alten, ausreichend geimpft sind und in ihrem Lebenskreis die Herdenimmunität erfüllen. Sie liegt bei der Delta-Variante bei etwa 85 Prozent. Wenn jetzt als Kennziffer die Belastung des Gesundheitssystems genommen und zeitnah überwacht wird, ist es ein kalkuliertes Experiment mit interessanten Ergebnissen für die ganze Welt. Das Risiko ist hoch, denn neue Varianten drohen, dass der Impfschutz doch nicht so durchschlagend ist – vor allem aber der Kontakt mit Nichtgeimpften völlig unkontrollierbar ist. Für Deutschland mit seiner geringeren Impfrate empfiehlt sich das Vorgehen Englands nicht.
Eine weitere Annahme habe ich öfters gehört: Die Pandemie hört sowieso nie auf, wir müssen mit ihr leben. Das ist nicht richtig!
Wenn der Reproduktionsfaktor R einer Seuche zuverlässig unter einer festen Schranke RS, die echt kleiner als 1 sein muss, liegt, hört die Seuche von selbst auf. Genauer ist es, wenn man zuverlässig weiß, das die täglichen Zuwächse der Fallzahlen um wenigsten 1 abnehmen. Dann ist irgendwann die 0 erreicht.
Wir waren auf einem guten Weg dahin. Um den 26. Juni gab es den minimalen Zuwachs von etwas unter 500 pro Tag. Wir konnten genau ausrechnen, wann die Zuwächse in der gesamten Republik unter 100 fallen würden. Dann hätten wir mit gutem Gewissen alle Einschränkungen aufheben können.
Für mich als Analytiker ist es absurd, dass gerade jetzt, wo die Fallzahlenzuwächse wieder hochschnellen, die Einschränkungen gelockert werden.
Das alte Dilemma!
Ich zeige deshalb noch einmal unsere alten Referenzkurven mit den kumulierten Fallzahlen, die deutlich zeigen, dass es seit zwei Wochen wieder aufwärts geht, allerdings nicht mit der Bekämpfung der Pandemie, sondern mit den Fallzahlen:

Selbst die violette Exponentialkurve mit der höchsten Schranke für S ist obsolet!
Die neuen Approximationen sind in Arbeit, das Datenmaterial noch zu dünn für eine Auswertung, da sowohl Exponentialannäherung als auch Verhulst keine obere Schranke angeben.
Aber eine Grafik ist so interessant, dass ich sie zeige. Ich hatte vor einigen Wochen gesagt, dass Verhulst auch für beschleunigtes Wachsen gilt:
N’(t) = kN(t)(1- N(t)/S) ist die Form für limitiertes Wachstum mit Schranke S.
Allgemeiner gilt:
N’(t) = kN(t) + lN(t)*N(t) . Wenn hier l positiv ist, wächst N’ irgendwann mit dem Quadrat von N(t) und sprengt alle Grenzen.
Hier das Ergebnis für unsere Pandemie:

Am 23. September ist Schluss. Um die Mächtigkeit dieser Polstelle zu demonstrieren, hier die Fallzahlenprognose der acht Tage vorher:
4.795.196
4.989.604
5.257.758
5.651.120
6.283.549
7.467.006
10.474.044
33.599.629
In der Nacht kippt es und der Wert für den 24. September ist -9.259.264.
Die schwarze Kurve sieht aus wie ein exakt gebogenes Winkeleisen in Draufsicht, Winkel 90 Grad. Die rote Kurve ist übrigens die Exponentialapproximation, gegenüber Verhulst praktisch eine Parallele zur Zeitachse. Ein exponentielles Wachstums ist schon sehr schlimm, ein Wachstum mit noch so kleinem Verstärkungsfaktor l viel schlimmer.
Das würde passieren, wenn R(t) ständig wächst. Deshalb als letzte Grafik R(t) seit dem März 2020. Immer dort wo sich R um eine Konstante schlängelt, herrscht die Exponentialfunktion, steigend, wenn die Konstanze > 1 ist, abfallend, wenn die Konstante < 1 ist.
Aber zwischen diesen Phasen herrscht Verhulst!

Unsere Politiker sprachen davon, dass die Seuche wieder exponentiell zunimmt. Wir wissen es jetzt besser: Es war ein hyperexponentieller Anstieg!
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