Moderator Henrik Hübschen mit den beiden BVM-Vorständen Frank Knapp (rechts) und Christian Thunig (mitte) bei der Eröffnung (Bild: SNFV).
„Das Feld sauber zu sortieren, darum wird es insbesondere auch beim Kongress gehen“, sagte BVM-Vorstand Christian Thunig im Vorfeld des Kongresses im Interview mit marktforschung.de. Gemeint war der zunehmende Überfluss an Daten, der in Unternehmen vorliegt. Das Thema des Kongresses lautete dementsprechend auch: „Daten über Daten und kein Ende – wie Research Analytics Überblick und Orientierung schafft“. Wer aufgrund des Themas nach Frankfurt kam, wurde gut bedient. Der BVM hatte sich vier hervorragende Keynote-Speaker eingeladen, die aus ihren jeweiligen Perspektiven bei der Sortierung mithalfen.
Daten sind ungleich der Realität
Viel lernen konnten die Zuschauenden bei der Keynote von Dr. Teresa Kubacka (Bild: SNFV).
Den Anfang machte
Dr. Teresa Kubacka, promovierte Physikerin und aktuell Data Scientist an der ETH Zürich, die in ihrem Vortrag deutlich machte, dass Daten zwar an vielen Stellen ausgesprochen hilfreich sind, aber die Realität nur teilweise widerspiegeln. Sie schilderte als Beispiel eine Analyse zu der Frage, wer der bedeutendste Wissenschaftler sei. Erwartet hätte sie Albert Einstein. Die Analyse, aufbauend auf vorhandenen Datenpools, wäre aber zu ganz anderen Schlüssen gekommen: Würde man vorhandene Daten, wie zum Beispiel die Anzahl der Zitationen in Google Scholar als Kriterium heranziehen, so läge „et al“ (und andere) mit weitem Abstand und mehr als vier Millionen Nennungen vorne. Einstein hat dagegen lediglich 167 Zitationen. Auch weitere Kriterien halfen nicht, um Indikatoren zu finden, die Einstein als wichtigsten Wissenschaftler bestätigen. In Bezug auf KI machte sie deutlich, dass KI auf Daten und statistischen Zusammenhängen basiere, nicht aber auf der Realität. Noch dazu gäbe es gänzliche Intransparenz, wie genau ChatGPT 4 funktionieren und welche Ausgangsdaten überhaupt einbezogen würden. Ihr Plädoyer: Ohne Bewertung durch den Menschen und ohne einen menschlichen Kontext seien Daten bedeutungslos.
Die Zukunft ist menschlich
Andera Gadeib überzeugte mit einer überbordenden Keynote-Speech (Bild: SNFV).
Ins gleiche Horn blies die zweite Keynote, gehalten von Dialego-Gründerin
Andera Gadeib, die aufgrund ihres ungewöhnlichen Vornamens bislang von ChatGPT gar nicht erst gefunden wird, da die Autokorrektur aus Andera automatisch Andrea mache. Ausgesprochen kurzweilig und überbordend von Gedanken und Ideen war ihre Keynote, die in 35 Minuten einen Ritt vom Besuch mit Ex-Wirtschaftsminister Philipp Rösler im Silicon Valley zum Taxifahrerprinzip nach Aachen absolvierte: „Hol die Menschen dort ab, wo sie stehen“. Und da Andera Gadeib aufgrund ihrer Marktforschungsvergangenheit die Branchenbefindlichkeiten gut kennt, hatte sie viel Erhellendes und Aufmunterndes im Gepäck, um die Kongressbesucher abzuholen. Wer mitgeschrieben haben sollte, dem dürften die Zitate für die nächsten dreißig LinkedIn- und Insta-Posts nicht ausgehen. Das Fazit ihrer Keynote? Schwer zu sagen angesichts der Fülle an Botschaften, aber wer dabei war, dürfte zumindest deutlich optimistischer in die Zukunft blicken.
Mit Daten die Welt realistischer einstufen
Aufgrund von Daten die Welt besser und optimistischer wahrzunehmen, ist auch das Credo der Gapminder Foundation, deren beiden Mitgründer, das Ehepaar Rönnlund, auf dem Kongress als Persönlichkeiten des Jahres ausgezeichnet wurde. Dieser Preis wurde erstmals seit langem wieder vom BVM verliehen, glücklicherweise nicht mehr an eine Software wie 2018, sondern an Menschen, die auch gleich einen mitreißenden Vortrag auf dem Kongress halten können. Das übernahm Anna Rosling Rönnlund, während ihr Ehemann Ola Rosling zuhause in Schweden die Kinder hütete. Beide sind nicht nur Mitgründer der Gapminder Foundation, sondern neben dem 2017 verstorbenen Schwiegervater Hans Rosling auch Mitautoren des Bestsellers „Factfulness“. Ähnlich wie in dem Buch ging es auch in ihrer Keynote darum aufzuzeigen, wie und warum der Mensch Daten falsch interpretiert und damit die Weltlage dramatischer einstuft als sie eigentlich ist. Auch die Marktforschenden im Raum tappten in die gleiche Falle und schätzten den Anteil von armen Ländern in der Welt völlig falsch ein. Diese Krankheit nennen die beiden Preisträger „Database Hugging Disorder“.
Als Gegenmittel empfahl sich der BVM-Kongress, da auch die letzte Keynote von Physiker und Kabarettist Vince Ebert, sich vor allem mit Lichtblicken und weniger dem Blackout befasste. Ähnlich wie bei Gadeib gab es eine Fülle an humorvollen und intelligenten Bonmots. Ebert riet den Marktforschenden, den Freak in sich rauszulassen und den Mut nicht zu verlieren. Das war ein wunderbarer Abschluss eines insgesamt mutmachenden Kongress der Marktforschung.
Viele Preise wurden verliehen
Interrogare stellten einen Toolkit basierend auf dem Ansatz von Byron Sharp vor (Bild: SNFV).
Im Rahmen des Kongresses wurden auch verschiedene Preise verliehen. Mit dem Innovationspreis werden Studien oder Verfahren ausgezeichnet, die methodisch innovativ sind, gegenüber bestehenden Ansätzen Effektivitäts- und Effizienzvorteile aufweisen und breite Einsatzmöglichkeiten bieten. Drei Einreichungen von
Caplena &
Beiersdorf,
Interrogare sowie
Sd Vybrant &
Vodafone hatten es in diesem Jahr auf die Shortlist geschafft. Letztlich überzeugte der Beitrag „
Was treibt die Sterne(-Bewertung)? KI-gestützte Treiberanalyse von Hansaplast Amazon-Reviews“ von
Caplena und Beiersdorf die Jury am meisten. Ausschlaggebend dafür dürfte der Business-Impact sowie die Skalierbarkeit der entwickelten Methode gewesen sein. Die Innovation von Caplena mit Beiersdorf ist eine automatisierte Treiberanalyse aufbauend auf Online-Reviews, wie sie von Kunden zum Beispiel bei Amazon vergeben werden. Um aus der Sternebewertung und dem Review-Text Erkenntnisse abzuleiten, wurde eine Methode entwickelt, die unstrukturierte mit strukturierten Daten verbinden kann.
Neben dem Innovationspreis wurde auch der Preis „Best of FAMS“ verliehen, mit dem Facharbeiten der FAMS-Berufsschüler ausgezeichnet werden. Das Gewinnerteam stammt vom Kölner Joseph-DuMont-Berufskolleg und beschäftigt sich in einer qualitativen Studie mit der „Evaluation des Distanzunterrichts während der Covid-19-Pandemie 2020/21 an unterschiedlichen Schulformen“. Im Anschluss an die schmissige Präsentation der Studie durch den FAMS Niklas Krause überreichte Dr. Otto Hellwig, Vorstandsvorsitzender der DGOF, die Urkunden an das Gewinnerteams.
Über den Preis für die beste Dissertation und Masterarbeit lesen Sie hier.
Dashboards in ihrer jetzigen Form auf dem Sterbebett?
Die Qual der Wahl hatten die Besuchenden bei der PechaKucha-Session (Bild: SNFV).
In gewisser Weise ähnelte auch der Block „Was können folgende Methoden wirklich“, der im PechaKucha-Formate abgehalten wurde, einem Wettbewerb, da die Besuchenden wählen durften, welchen Kurzvortrag sie nach der Kaffeepause weiter vertiefen mochten. In diesem Jahr fiel die Wahl knapp auf das Thema „
Multi-Sourced Heuristic Modelling: Warum Dashboards nicht immer den Überblick bringen und wie gute Sozialforschung zur Reduktion der Komplexität beitragen kann“, das Medienforscher
Dirk Engel in den Wettbewerb der Kurzvorträge einbrachte.
Lars-Alexander Mayer von TD Reply ruft das Ende der Dashboards in ihrer aktuell verwendeten Form aus (Bild: SNFV).
Das Dashboards den Zenit des Hype Cyles mittlerweile überschritten haben, tauchte auch in weiteren Beiträgen auf, wie zum Beispiel bei Lars-Alexander Mayer von
TD Reply, der gleich den Tod der Dashboards in ihrer aktuell verwendeten Form verkündete. Andererseits gab es an diversen Stellen auch überzeugende Beispiele interaktiver Datenpools, wie zum Beispiel
Skopos Elements und die
Hassia-Gruppe in ihrer Präsentation zeigten.
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