Edward Appleton, H/T/P Kurz und Knapp? Insights-Aktivierung vor "tl;dr" schützen!

Edward Appleton
tl;dr steht - in Zeiten spärlich vorhandener Zeit - symbolisch für das weitverbreitete Bedürfnis, schriftliche Kommunikation kurz und bündig zu gestalten, ist gleichzeitig das Motto der diesjährigen re:publica.
In der Marktforschung könnte tl;dr auch einfach für "top-line; didn't read" stehen: das Problem kennen wir alle ;)
Krisenzeiten für Aktivierungsstrategien?
Ist der tl;dr-Slang ein ernsthafter Anstoß für Marktforscher, weniger mit Wörtern und mehr mit visuellem Storytelling zu arbeiten - so wie Instagram & Co. es vormachen? Oder sollen wir einfach weniger schreiben?
Seit neun Jahren blogge ich über Marktforschungs-Themen, es gab und gibt schon Momente, wo ich mich frage, ob sich die ganze Mühe lohnt.
Gesellschaftlicher Status: Nerd. Bloggen tut keiner mehr, oder? Resonanz: mäßig, oft hinter der eigenen Erwartungshaltung. Weitere Erfolgs-Kennzahlen? Positive Ausreißer sind schon immer wieder vorhanden, aber im Schnitt ist das Ergebnis eher ernüchternd als Euphorie fördernd.
Das Arbeitsumfeld für Texter, Kommunikationsexperten wie Insights-Profis verändert sich weiterhin rasant, mit beunruhigenden Aussichten: viele reden, keiner hört hin.
Wie hierauf reagieren?
Hier meine Sicht der Situation, mit 2 Grundhypothesen:
- Der Informations-Überfluss ist das eigentliche Problem, weniger eine eventuell schwindende menschliche Aufmerksamkeitsspanne.
Vorweg: es gibt sicherlich nach wie vor viel zu viel "Kommunikation" - E-Mail Newsletter, Webinare, LinkedIn Updates usw. prasseln auf uns täglich ein, Tendenz steigend, mit einem Trend zur Visualisierung und Animation.
Eher spannend: einigen Studien zufolge sind wir doch nicht überfordert.
- Laut eine Umfrage von Prezi unter mehr als 2.000 amerikanischen Geschäftsleuten sahen gaben 60 Prozent der Befragten bei sich eine Verbesserung in den letzten 12 Monaten an, ihre Aufmerksamkeit konzentriert etwas zuteilwerden zu lassen, ohne mentale Abschweifungen.
- Die Studie zeigt weiterhin auf, wie gut Multi-Tasking klappen kann.
- 95 Prozent der Befragten konstatierten, während Meetings mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen - nur 20 Prozent räumten ein, dass aus dieser geteilten Geisteshaltung Fehler resultierten. Auch wenn man hier Verzerrungen bei der großzügigen Selbsteinschätzung einräumen soll, ist das trotzdem beachtlich.
- Ferner: laut einer 2016 Studie des renommierten USA Pew Research Instituts nimmt die psychische Belastung unter Amerikanern durch Informationsüberflutung eher ab.
Dass manche IT Anbieter der Sehnsucht nach "cognitive ease" (mentale Entspannung) entgegenkommen, wie Google-Mail in ihrer dreier Teilung in Allgemein/ Social Media/ Werbung, mag dabei eine Rolle spielen.
Es deutet also einiges drauf hin, dass wir eben nicht überlastet sind, dass wir im evolutionären Sinnüberflutungskonternde Filter-Mechanismen hinzugelernt haben und zwar in relativ kurzer Zeit, die unzählige Botschaften schnell sortieren lassen und auf das individuell relevante reduziert.
Weiter: Behauptungen, weitverbreitet wie häufig wiederholt, die menschliche Aufmerksamkeitsspanne nehme eher ab, scheinen unbegründet zu sein.
- Eine viel zitierte Studie von Microsoft Canada aus 2016, wonach Menschen über eine durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne von 8 Sekunden verfügen, damit kaum besser als die eines Goldfisches (!) liegen, entbehrt anscheinend jeglicher Grundlage.
Grundsätzlich hat das hier suggerierte Maßsystem, welches Aussagen wie "Menschen verfügen über eine Aufmerksamkeitsspanne von X Sekunden" ermöglicht, mit einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise wenig zu tun.
- Forscher des Princeton Neuroscience Institute konstatieren, dass unsere Aufmerksamkeit etwa viermal pro Sekunde hin- und herschwankt. Unser Gehirn entscheidet somit in dieser Frequenz zwischen "maximalem Fokus" und einem "breiteres Situationsbewusstsein" ("broader situational awareness").
Die Herausforderung: die Aufmerksamkeit des Gegenübers zu halten, dass der Gedankenfluss nicht den Modus wechselt, weg vom eher fokussierten-konzentrierten zum eher breiterem übergehen.
2. Die Quantität der Messaging nimmt zu - die Qualität sinkt.
Die Demokratisierung der Kommunikationskanäle, wodurch jeder ein(e) Autor(in) in Windeseile werden kann, hat Folgen - die Schwankungsbreite in Sachen Originalität, Präzision nimmt zu. Anders gesagt: die Qualität sinkt.
Aus Autorensicht ist die Herausforderung, online wirklich Gutes zu schreiben, immens: ein digitaler Post hat vielleicht maximal 30 Minuten Zeit,nach der Veröffentlichung Impact zu schaffen - danach gehen die Klickraten radikal nach unten. Ob es sich dafür wirklich lohnt, Top Content, super gefeilte Sätze zu schreiben?
Speed hat auch andere Konsequenzen. Click-Bait Headlines (als Beispiel) sind nicht wirklich zielführend - kurzfristig mag das funktionieren, erfolgt aber häufiger beim Leser oder Zuschauer eine inhaltliche Enttäuschung, wird das Publikum vorsichtiger, enttäuscht. Aus der Kurzatmigkeit entwickelt sich Ermüdung und Desinteresse.
Es kommen auch kommerzielle Faktoren mitwirkend hinzu. Im Bereich Content Marketing ist man viel stärker und häufiger mit den Ergebnissen der Monetarisierungsziele von LinkedIn und Co konfrontiert. Timelines sind von Sponsored Posts überflutet, man sieht immer häufiger irrelevante Posts von den Menschen die man gar nicht kennt. Friends of friends halt....
Last but not least: Das ständige Positive der Likes-Kultur im Social Media führt zu einem kommunikativen Einheitsbrei - es werden fast ausschließlich "Erfolge" online gefeiert, die ähnliche wie eine durchschnittliche PR Meldung mit einer entsprechenden Gleichgültigkeit konfrontiert werden.
Antworten auf tl;dr - Präzise statt Kurz
- Der Begriff tl;dr sensibilisiert sicherlich zur Notwendigkeit, präzise zu kommunizieren, schnell auf den Punkt zu kommen, auf Überflüssiges verzichten. Bei digitalem Content ist das unabdingbar, das Umfeld zwingt dazu..... der Spruch "Here today, gone tomorrow" ist aus dem digitalen Zeitgeist gedriftet- "here now, probably gone in a few minutes max" ist wohl passender.
- Das heißt aber nicht, dass alles immer super kurz sein muss. Zuhörer sind eher ungeduldig - Zeit aber haben sie für wichtige oder spannende Dinge doch. Diese Bereitschaft muss "erarbeitet" werden....
- Die Kunst des marktforscherischen Storytellings will geübt sein - auch Long-Copy kann Erfolg haben, wie man bei beispielsweise an den Best-Selling Romanen von Elena Ferrante oder Karl Ove Knausgaard sehen kann. Nicht dass Marktforscher Romane schreiben sollen - nur kann man durch solche narrative Kunst einiges darüber lernen, wie man eine packende Geschichte strukturieren und erzählen kann, gar über mehrere hundert Seiten.
- Bereitschaft zur kommunikativen Demut ist natürlich angesagt: knackig und packend erzählen kann nicht jeder. Profis an Bord holen statt DIY macht fast immer Sinn.
- Ein Beispiel aus der Marktforschung von gelungenen Kommunikation: die Blog-Posts von Siamack Salari bei LinkedIn erzählen kleine, unterhaltende Geschichten, die aber alle mit Best Praxis in der Ethnographie zu tun haben. Das Lernen macht Spaß.
- Im Marketing lohnt sich ein Blick auf die Posts von Seth Godin - meistens "single minded", und selten länger als ein paar Absätze.
- Last but not least: Filigranität und Detailtiefe dürfen nicht durch eine tl;dr Denke über Bord geworfen werden. Marktforscher müssen natürliche Handlungsempfehlungen klar formulieren - dabei sind wir nicht Vertriebler. Gelungene Mafo-Kommunikation gibt dem Leser oder Zuhörer die Chance, tiefer einzusteigen, Grauzonen zu entdecken, differenzierende Perspektiven zu erfahren, wenn sie/er es will.
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Das war's. Haben Sie es bis hierhin geschafft, habe ich den tl;dr Test wohl überstanden. ;)Frohes Schaffen.
(First published on www.researchworld.com)
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