Jutta Rothmund, rothmund insights Kundenzentrierte Nachhaltigkeit – Wie kann das funktionieren?

Nachhaltigkeitsorientiertes Handeln ist geprägt von einem Austarieren und Verrechnen mehr oder weniger nachhaltiger Verhaltensweisen, ähnlich eines inneren Zertifikatehandels - hier symbolisch am Beispiel der europäischen Strombörse EEX dargestellt. (Bild: picture alliance / Jürgen Lösel/dpa-Zentralbild/ZB)
Im Transformationsprozess nachhaltiger Entwicklung ist die Vernetzung sämtlicher Stakeholder Programm, häufig auch schmerzliche Erkenntnis wegen starker wechselseitiger Abhängigkeiten und unterschiedlicher Interessenslagen. Marktforschung hilft bei der Verständigung der Stakeholdergruppen Konsumierende und Anbietende, indem sie Unternehmen
- Insights in das Denken, Fühlen und Handeln ihrer Zielgruppen in Bezug auf Nachhaltigkeit gibt, Potenziale erkennen und einschätzen lässt sowie
- darin berät, wie sie ihre Nachhaltigkeitsaktivitäten für die Konsumierenden sichtbar und nachvollziehbar machen, um diese auf dem Transformationsprozess mitzunehmen.
Nachhaltigkeit bedeutet nicht für alle dasselbe
Konsumentinnen und Konsumenten denken nicht in SDGs oder dem Drei-Säulen-Modell nachhaltiger Entwicklung (Ökonomie, Ökologie, Soziales). Im alltäglichen Begriffsverständnis von Nachhaltigkeit dominiert die Ökologie, während das Soziale im weiteren Sinne mit Nachhaltigkeit assoziiert wird.
Beispiel aus unserer Grundlagenstudie „Nachhaltigkeit im Fokus“ (2021), in der die Nachhaltigkeitskommunikation von Unternehmen unterschiedlicher Branchen untersucht wurde: Auf Websites von Unternehmen mit kommunikativem Fokus auf ihr ambitioniertes soziales Engagement reagierte die nachhaltigkeitsbewusste Zielgruppe typischerweise mit „Sympathisches Unternehmen, die machen viel, aber zu Nachhaltigkeit habe ich kaum was gefunden“.
Faustregel ist somit:
Wo Nachhaltigkeit draufsteht, müssen Umwelt- und Klimaschutz drin sein.
Die soziale Dimension sollte nicht dominieren, spielt aber eine wichtige Rolle für die Glaubwürdigkeit. Soziale Nachhaltigkeit stützt das Vertrauen in ein verantwortungsvoll handelndes Unternehmen und damit auch in die Glaubwürdigkeit seiner ökologischen Nachhaltigkeit.
Angesichts der Preisentwicklung, der gesellschaftlichen Diskussionen und der zunehmenden Befürchtung, dass die Ökologisierung auf Kosten des Sozialen geht, dürfte die soziale Dimension zukünftig wichtiger und damit auch enger mit Nachhaltigkeit assoziiert werden.
Wie die soziale ist auch die wirtschaftliche Dimension von Nachhaltigkeit im Begriffsverständnis der Konsumierenden in einem Randbereich angesiedelt. Dabei stärkt ein langfristig nachhaltig wirtschaftendes Unternehmen wiederum dessen Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Ökologie.
Dass wirtschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit konfligieren können, ist den Konsumentinnen und Konsumenten bewusst. Darauf kann in der Kommunikation auch rekurriert werden, wenn ein Unternehmen bei einzelnen Nachhaltigkeitszielen weniger ambitioniert ist, als es aus ökologischer Sicht notwendig oder aus Sicht der Konsumierenden wünschenswert wäre. Unsere qualitativen Studien zeigen gerade nicht, das Konsumierende rückhaltlos Maximalziele einfordern. Sie sind durchaus bereit, sich auf Begründungen einzulassen, wenn sie ehrlich und nachvollziehbar sind und im Kontext einer erkennbaren und glaubwürdigen Nachhaltigkeitsstrategie stehen.
Welche konkreten Aktivitäten bei Konsumentinnen und Konsumenten ins mentale Nachhaltigkeitsset fallen, hängt ab von Erfahrungen, Wissensbeständen und gesellschaftlichen Trends und kann je nach Konsumbereich und Zielgruppe unterschiedlich sein.
Beispiel aus der Studie „Nachhaltigkeit im Fokus“ (2021), in der die Relevanz von Nachhaltigkeitsaktivitäten in verschiedenen Branchen für die Kundinnen und Kunden gemessen wurde: Bei Energieversorgern wird das Angebot nachhaltiger Tarife von allen Altersgruppen als Standard erwartet (Basisfaktor). Die Verpflichtung zur CO2-Reduktion/ -Neutralität mit Formulierung konkreter Ziele ist für 30-49 Jährige (und Ältere) deutlich relevanter als für 18-29 Jährige und kann bei Ersteren je nach Ausgestaltung auch Begeisterung auslösen.
Ressourcen-Schonen durch Sparsamkeit vs. Nutzung ressourcenschonender Produkte
Ressourcen-Sparen ist für alle Zielgruppen ein zentraler Nachhaltigkeitsaspekt, wobei mitunter verschiedene Ressourcen und Formen des Ressourcen-Sparens fokussiert werden.
Zielgruppen, die stärker mit der Endlichkeit ihrer eigenen Ressourcen konfrontiert sind, nämlich Ältere und Haushalte mit eher niedrigem Einkommen, messen dem Ressourcen-Sparen noch höheres Gewicht zu und sind sensibler für potenzielle Ressourcenverschwendung.
Jüngere und Einkommensstärkere sind eher bereit, für nachhaltige (ressourcenschonende) Produkte mehr zu zahlen. Auch der Anteil der Innovators und Early Adopters ist in diesen Zielgruppen höher. Insofern liegt es nahe, sich bei der Produktentwicklung auf diese Gruppen zu konzentrieren: Bei ihnen ist der Nachhaltigkeitshebel größer (wegen längerer Lebensdauer oder größerem ökologischem Fußabdruck), Innovationen können mit ihnen erprobt und weiterentwickelt werden, bis sie Massenmarktfähig sind (Beispiel Elektromobilität).
Das wird aber weder ökologisch noch ökonomisch reichen, zudem die soziale Spaltung vorantreiben.
Der Transformationsprozess darf nicht nur die „Nachhaltigkeitselite“, sondern muss die Bevölkerung mitnehmen. Und zwar nicht nur über Verzichtsnarrative, Verbote und Gebote, sondern über positive Angebote, die sowohl ökologische Ressourcen schonen als auch die finanziellen, sozialen und psychischen Ressourcen der Konsumierenden.
Hier geht es zukünftig möglicherweise um mehr als das Angebot preisgünstiger nachhaltiger Produkte, das mittlerweile in vielen Bereichen zunimmt.
Angesichts der Belastungssituation durch Pandemie-Nachwirkungen, Krieg, Preissteigerungen und wachsendem Imperativ zur ökologischen Transformation wird das Haushalten mit den eigenen Ressourcen zum Resilienzfaktor. Dementsprechend ist zu vermuten, dass Ressourcenschonung zukünftig an Bedeutung gewinnt, dass das Bedürfnis nach „immer mehr und schneller Konsumieren, aber anders“ in ein „weniger Konsumieren, dafür anders“ übergeht. Auch dafür müssen Strategien und Geschäftsmodelle entwickelt werden.
Selbstwirksamkeit und Kontrolle auf unsicherem Terrain
Nachhaltiges Handeln darf und soll auch persönlichen Nutzen bringen, der je nach Zielgruppe, Lebensumfeld und Konsumbereich unterschiedlich sein kann (zum Beispiel Gesundheit, Geschmack, Spaß an innovativer Technik, weniger Entscheidungsstress, mehr Zeit und Ruhe, Geld sparen, soziale Anerkennung etc.). Allein über Verzicht wird die Transformation sicher nicht funktionieren.
Nachhaltigkeitsbewusstes Handeln ist aber immer wertebasiert und moralisch motiviert: Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen, Gutes zu bewirken, aktiv zu einer lebenswerten (Um-)Welt beizutragen.
So sind der gesunkene Energieverbrauch und Fleischkonsum sicherlich stark preisgetrieben. Neben der aversiven Motivation der Kostenvermeidung dürften aber auch positiv besetzte Motive eine Rolle spielen.
- Verantwortung und Selbstwirksamkeit: zum Beispiel Solidarität zeigen mit der Ukraine und den EU-Sanktionen gegen Russland, CO2/ THG einsparen und zum Klimaschutz beitragen, Tierschutz
- Nachvollziehbarkeit und Kontrolle: Unzweifelhafter Zusammenhang zwischen eigenem Handeln (weniger Heizen und Strom verbrauchen) und Nachhaltigkeit (CO2 Reduktion)
Selbstwirksamkeit ist ein zentrales Motiv nachhaltigen Konsumhandelns. Voraussetzung für das Erleben von Selbstwirksamkeit sind Handlungsfähigkeit und Kontrolle: Es muss zumindest grob abschätzbar sein, dass eine Handlung einen ökologischen Impact hat, idealerweise auch welchen. Das ist aber aufgrund komplexer Zusammenhänge und beschränkter Informationsbasis häufig schwierig.
Typische Fragen der Konsumentinnen und Konsumenten: „(Wann) ist die Flasche nachhaltiger als der Tetra Pak?“, „(Wann) ist es besser, das alte Elektrogerät weiterzuverwenden oder ein neues mit hoher Energieeffizienz zu kaufen?“, „(Wann) ist es nachhaltiger auf ein Elektro-Auto umzusteigen?“.
Auch in Bezug auf Nachhaltigkeit wird die Markttransparenz in Zukunft wachsen (müssen). Während Kaufpreise eine leicht einschätzbare Größe sind, muss der Nachhaltigkeitsimpact für Konsumierende fassbar und nachvollziehbar gemacht werden.
Motivkonflikte und der innere Zertifikatehandel
Nachhaltiges Handeln ohne Motivkonflikte gibt es nicht. Auch in den SDGs sind mögliche Zielkonflikte angelegt, indem Wohlstand gefördert und der Planet geschützt werden soll. Die aktuellen Diskussionen in der Ampel-Koalition spiegeln gesellschaftliche Zielkonflikte wieder, wie sie mitunter auch auf der individuellen Ebene erlebt und verhandelt werden.
Nachhaltigkeitsorientiertes Handeln ist geprägt von einem Austarieren und Verrechnen mehr oder weniger nachhaltiger Verhaltensweisen. In Analogie zum Emissionshandel, der für die Erreichung der Klimaziele wirtschaftliche Flexibilität gewährleisten soll, lassen sich Verhandlungsprozesse auf individueller Ebene als innerer Zertifikatehandel beschreiben, mit dem Dissonanzen zu reduziert und die Nachhaltigkeitsorientierung aufrechterhalten wird, ohne auf alles verzichten zu müssen.
In unserer Studie Nachhaltigkeit im Fokus (2021) war ein breites Spektrum dieser inneren Verhandlungen zu beobachten, das von einer groben Einschätzung anhand von Heuristiken bis zur Kalkulation über CO2-Rechner reichte. Von einer schnellen, einfachen Dissonanzreduktion (z.B. kein Verzicht auf Flugreisen, dafür auf das Einmalgeschirr im Flugzeug) bis zum zähen Ringen darum, was man sich erlauben will, welche Maßnahmen sinnvoll sind und welche im Sinne eines Ablasshandels „nur“ der Gewissensberuhigung dienen.
Man kann hier einwenden, dass diese psychische Strategie auch zur Selbstrechtfertigung eines wenig nachhaltigen Lebensstils und mangelnder Veränderungsbereitschaft eingesetzt wird. Sie zeigt aber auch, dass durchaus Auseinandersetzungen stattfinden. Und es ist an Wissenschaft, Politik, Medien und Wirtschaft, diese mit positiven Informations- und Handlungsangeboten zu bedienen.
Nachhaltigkeitsbewusstes Handeln ist agiles Handeln
Nachhaltigkeitsorientiertes Handeln bewegt sich im komplexen Spannungsfeld von Motivkonflikten, unklarer Informationslage bei gleichzeitigem Handlungsdruck, Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit. Um nicht in Lähmung oder Resignation zu verfallen, braucht es eine agile Grundhaltung, wie wir sie in unseren Online-Communities mit Nachhaltigkeitsbewussten beobachten konnten:
- Machbarkeitsorientiert statt perfektionistisch: Man tut das, was in der aktuellen Situation möglich und was man zu leisten bereit ist. Nachhaltigkeitsorientierte sind sich ihres Say-Do-Gap bewusst. Vor allem die Älteren unter ihnen wollen aber nicht auf moralisierende Art damit konfrontiert werden.
- Lern- und veränderungsbereit: Man tut das, was man in der aktuellen Situation für richtig hält – in dem Wissen, dass sich die Informationslage in Zukunft ändern kann und das Verhalten ggf. angepasst werden muss. Dabei sind Nachhaltigkeitsorientierte empfänglich für neue Informationen.
Kundenzentrierte Nachhaltigkeit
Kundenzentrierte Nachhaltigkeit bietet Unternehmen die Chance, ihre Kundinnen und Kunden auf den Transformationsprozess mitzunehmen. Das agile Mindset ihrer nachhaltigkeitsbewussten Zielgruppen erhöht zwar den Druck auf Innovationsprozesse und Kommunikation. Zugleich kann es Entlastung bringen: Konsumierende erwarten (noch) keine Perfektion, wohl aber Verantwortung, Engagement und Ehrlichkeit auch bei Aspekten, bei denen Unternehmen hinter Zielen zurückbleiben. Es dürfen Produkte mit verschiedenen Nachhaltigkeitsgraden angeboten und Konsumierende in die Pflicht genommen werden, selbst zu entscheiden, was sie wofür zu investieren bereit sind.
Inwieweit und wie sich ein Unternehmen zur Nachhaltigkeit positioniert, welche Angebote und Maßnahmen es in den Vordergrund stellt, ist dabei immer in Abhängigkeit von der Psychologie ihrer Zielgruppen zu bestimmen. Und dabei können wir Marktforschende Unternehmen wirksam unterstützen, indem wir im Grunde das weiter machen, was wir gut können.
Über die Person
Jutta Rothmund (Diplom-Psychologin) berät seit rund 25 Jahren Unternehmen marktforscherisch, seit 2020 mit ihrem Marktforschungsinstitut rothmund insights. Zuvor war sie u.a. 14 Jahre Senior Research Consultant bei psychonomics und YouGov sowie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln im Bereich Medienpsychologie und Psycholinguistik. Kernfelder ihrer aktuellen Forschungs- und Beratungstätigkeit sind Consumer Insights und Trendstudien, Produkt- und Innovationsforschung, Marken-... mehr
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

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