Erfahrungsbericht als Zensus-Erhebungsbeauftragter – Bernhard Keller Kontexteffekte bei der Zensus-Erhebung – als Face-to-Face-Interviewer zurück in die 70er

Bernhard Keller, bekannt als langjähriger Marktforscher und Herausgeber diverser Bücher zum Thema CX, berichtet von seinen persönlichen Erfahrungen als Interviewer in der aktuellen Zensus-Erhebung.

Auch im Zensus kommt noch immer viel Papier zum Einsatz, wie Bernhard Keller in seinem Erfahrungsbericht beschreibt (Bild: picture alliance/dpa | Daniel Karman)

Als Student habe ich in den 70er Jahren Interviews für Marktforschungsinstitute durchgeführt – face-to-face natürlich, was sonst. In den folgenden mehr als 40 Jahren habe ich als Marktforscher einen tollen Job ausgeübt – und ich habe Vorlesungen und Seminare gegeben und Artikel geschrieben zu den Bedingungen und Gegebenheiten rund um Interviews – auch zu Kontexteffekten und ihren möglichen Auswirkungen auf das Befragungsergebnis.

Wie sieht der Widerstand gegen den Zensus heute aus?

Als in unserem Landkreis Freiwillige für die Zensus-Erhebung gesucht wurden, habe ich mich sogleich gemeldet. Aus Neugier, wie denn heute ausgewählte Personen in einer (sicher sehr) speziellen Interviewsituation reagieren würden. Und auch, ob das Big Brother-Schlagwort von 1983 und 1987 noch eine Rolle spielt. Für die später Geborenen: 1983 war die erste sehr umfängliche Volkszählung geplant und hatte einen bemerkenswert hohen Widerstand produziert. 1987 wurde sie dann durchgeführt, abgespeckt und trotzdem vehement abgelehnt. Und heute: wahrscheinlich weiß Google mehr über die Menschen, als der Zensus-Fragebogen wissen will. Aber die Gegenwehr ist immer noch vorhanden, wenngleich nur in sehr minimaler Zahl. Und sie wird in zwei Richtungen artikuliert: meine Bildung ist Privatsache, warum soll ich gezwungen werden, dazu Informationen zu offenbaren und fast gleichzeitig, die Informationen lägen dem Staat via Einwohnermelde- und Finanzamt (es ging nicht um Einkommen, sondern um den Ort der Beschäftigung) doch schon vor. Der vielfache Tenor am Ende der Befragung: was für ein Aufwand für die wenigen Fragen, deren Sinn zudem noch bezweifelt wird. Da wird der Erhebungsbeauftragte zum Erklärer.

Der Zensus kommt dann doch überraschend

Mancher Befragte war vollkommen überrascht von meinem Erscheinen. Nicht wegen meiner Kleidung oder dem senioren Auftreten (s. Kontexteffekte). Nein, der Grund war ein simpler: Das im Adressfeld des Sichtfensters im Briefumschlag nicht personalisierte Anschreiben hat so mancher Empfänger als Werbung verstanden und gleich in den Papierkorb geworfen. Da werden Kontexteffekte sofort wirksam.

Wie sind die Zensus-Erhebungsbeauftragten ausgestattet?

Die Erhebungsbeauftragten sind sehr gut ausgestattet worden. Der Ausweis ist als Legitimation notwendig und auch gebraucht worden, die Werkzeuge (Klemmbrett, Kugelschreiber und Umhängetasche) haben die gleiche Farbe, fast identisch mit dem Stempel auf dem Ausweis. Markenorientierung pur. Aber die Masse von Papier konterkariert doch den durchgestylten Werkzeugkasten: Wer bei (teilweise weit über) 30°C in einem sehr langen und halbdunklen 20-Parteien-Hausflur, in dem alle Zwischentüren als Brandschutztüren geschlossen bleiben sollen, und in dem aufgrund des Dämmerlichtes, das schnell erlischt, permanent der Lichtschalter gedrückt werden muss und in dem die Koch-Emissionen der Vielparteienherkunft sich Konkurrenz um die Geruchshoheit im Flur machen, noch mit diversen Unterlagen hantieren muss, braucht ein geduldiges und vor allem verständnisvolles Gegenüber. Da arbeitet der Kontext eher für den Interviewer - als Mitleidsbonus.

Noch immer viel Papier im Einsatz

Die Befragung hat zwei Teile: einen kurzen Demografieteil, der vor Ort abgehandelt wird und für den für je vier Befragte eine Seite vorgesehen ist. Und eine Fortsetzung, die unter anderem (Aus-)Bildung und Arbeitsort fokussiert. Dieser Teil wird als Papierfragebogen oder digital auf der Zensus-Website fortgeführt. Ich spare mir an dieser Stelle die Aufzählung der Unterlagen, die der, die, divers Beauftragte mit sich herumtragen und je nach Situation zu Hand haben muss.

Spätestens beim Griff in die Unterlagentasche, die in der Regel auf dem Boden abgestellt ist, und zu der sich der/die Interviewer/in bücken muss, wenn die Erhebung in der Haus- oder Wohnungstür (die Regel) und nicht an einem Tisch stattfindet, rutschen die Unterlagen, die vom Bügel des Klemmbrettes oder dem vielleicht nicht allzu breiten Daumen des Erhebungsbeauftragten nicht gehalten werden können, auf den Boden.

Bei einer Klemmbretthaltungshöhe von mindestens einem Meter fächern die Unterlagen im Segelflug schnell auf – richtig, sie liegen dann leicht verstreut auf dem Boden. Glück, wenn es kein Teppichboden ist. Noch mehr Glück, wenn das Gegenüber Verständnis zeigt.

Die Tücken der diversen Objekte

Doch warum muss überhaupt der Griff in die abgestellte Tasche gewagt werden? Nun, dort sollten sich die Papierfragebögen (und Rückumschläge) einerseits und andererseits die Anschreiben mit den Online-Zugangsdaten (IDEV) befinden. Denn jede Person im Haushalt hat ja die Wahl, mit welchem Medium er/sie/divers (so die Abfrage im Fragebogen zum Geschlecht) die Befragung fortsetzen will. Auf beiden Unterlagen klebt je ein ID-Etikett, das abgelöst werden muss, was scharfe und ausreichend lange Fingernägel erfordert, um vom Papierfragebogen nicht gleich den Untergrund mit abzureißen. Dieser Aufkleber muss dann in der Balance zwischen Klemmbrett und Papierstapel in das für die zuvor befragte Person vorgesehene Feld, das kleiner als das Etikett ist, bugsiert werden, was leider nicht so einfach ist, weil das Klebe-Etikett jetzt seine spezifische Eigenschaft – das Kleben, und zwar am Finger(nagel) – ausspielen kann.

Die vier Felder für (die pro Demografieseite) vier Personen liegen eng beieinander und die Fragebogenseite muss mit der linken Hand auf dem Klemmbrett so gehalten werden, dass die rechte Hand trotz des Kampfes mit der Klebeseite des Etiketts das Feld halbwegs sauber treffen kann. Wenn dieser Vorgang der mühseligen Mehrfachversuche dann auch noch an einem vom Flurlicht nicht gerade gesegneten Ort stattfindet, dann wird dieser Teil des Befragungsprozesses zum vielfachen Slapstick. Spätestens dann kulminiert das leicht spöttische oder mitleidige Lächeln der Befragten im Kommentar: Wir wissen, dass Deutschland ein digitales Schlusslicht ist.

Wenn ich mir die Wartezeiten für die Ausgabe von Reisepässen oder das Durcheinander bei den verschiedenen Ämtern, die während der Corona-Pandemie zusammenarbeiten sollten, in Erinnerung rufe, dann vermute ich, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass es in 10 Jahren wieder eine FtF-Zensuserhebung geben wird - und ich wieder dabei sein möchte.

Denn: ich habe sehr nette Menschen kennen gelernt, die mich zuweilen auch in ihre Wohnungen eingeladen haben. In der Regel trugen sie keine deutsch klingenden Nachnamen, aber haben mir spannende und über Generationen reichende Migrationsgeschichten erzählt – doch das ist der ethnografische Zweig der Marktforschung.

Über Bernhard keller

Bernhard Keller, Sozialwissenschaftler (Bild: Bernhard Keller)
Bernhard Keller ist Sozialwissenschaftler und enthusiastischer Marketingforscher. 40 Jahre arbeitete er in dem interessantesten aller Berufsfelder und war bei Unternehmen tätig, die den Markt bewegen (u. a. Forschungsgruppe Wahlen, GfK, TNS, MaritzCX). Seit mehr als 30 Jahren publiziert er zu Themen mit Fokus Marktforschung einerseits und Kundeninteressen andererseits.

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  1. Frank am 28.07.2022
    Danke für ihren "Erlebnisbericht" :-) ich war bzw. bin noch da auch als Erhebungsbeauftragter tätig. Glücklicherweise mit Tablet unterwegs (Bayern), da bleibt einem der größere Papierkrieg erspart. Auch wenn wir als Backup immer noch ein wenig Papier dabei haben (habe ich aber nie gebraucht). Teilweise haben die Leute gefragt warum denn das unbedingt als face-to-face Interview stattfinden muss (statt z.B. per Telefon). Das war eigentlich ne gute Frage, da ich hier nicht unbedingt eine befriedigende Antwort gefunden habe ;) aber schlaue Leute werden sich dabei schon was gedacht haben.
  2. Beate Pohl am 28.07.2022
    Lieber Bernhard
    danke für diesen Bericht! ich finde es großartig, dass du selbst losziehst und es einfach machst :-) Klasse und Danke!
    liebe Grüße Beate

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