Kolumne von Michael Pusler Konsumentenforschung im Spannungsfeld von "Big Data" und Verhaltensökonomie

Mit dem Bestseller von Daniel Kahneman "Schnelles Denken, langsames Denken" hat in den vergangenen Jahren ein neues Denken im Marketing Einzug gehalten. Und das ist nicht nur ein kurzzeitiger Trend, sondern ein Paradigmenwechsel. Einige Wenige hatten bereits davor schon ein schwindendes Vertrauen in die Lehre und Vorhersagen der rationalen Entscheidungstheorie (stellvertretend hierfür der rational agierende "Homo oeconomicus").


Nun hat sich mittlerweile unter Marketing-Praktikern die Erkenntnis durchgesetzt, dass Verbraucher häufig irrational entscheiden. Was dabei aber auf den ersten Blick als irrational erscheint, stellt sich häufig als hochwirksame „Heuristik“ heraus. Gerade und insbesondere bei Konsumgütern mit geringem Produktinvolvement. Akteure im Marketing und der Werbung fangen zunehmend damit an, sich auf solche Heuristiken ihrer Kunden einzustellen und ihre Maßnahmen danach auszurichten. 

Verfolgt man die Diskussionen um und innerhalb der Marktforschungs-Welt, so fällt auf, dass in Zeiten von Big Data und – technologisch gesehen – immens leistungsfähigen Datengeneratoren der sich immer stärker durchsetzenden Internetforschung überwiegend die technologische Machbarkeit die Diskussionen innerhalb der Branche bestimmen. Nur noch selten, so zumindest der subjektive Eindruck des Autors, findet sich eine inhaltliche oder methodische Neuerung auf dem Markt, wie der Gegenstand der Betrachtung für die allermeisten Marktforscher – nämlich der Konsument – in seinem Verhalten innerhalb einer sich ändernden Konsumwelt verstanden, erklärt und sein zukünftiges Verhalten darüber verbessert prognostiziert werden kann.

Vielleicht, so könnte man mutmaßen, ist ja wirklich schon alles gesagt, was Erklärungs- und Begründungszusammenhänge anbelangt, und es geht heute wirklich nur noch um Kosteneffizienz für eine in ihrem Markt immer weiter im Wert verlierende "Ware Marktforschung".  Denn gerade im Hinblick auf sich abzeichnende Möglichkeiten von Facebook oder Google, und auch einer erkennbar steigenden Bereitschaft, dort bereitwillig Daten preiszugeben, kann schon ab und an die Frage aufkommen, welchen Mehrwert kostspielige Marktforschung noch hat. So – und nicht anders – sehen das zumindest ganz viele "Entscheider", das heißt diejenigen, die in Unternehmen über Budgets und den Einkauf auch von Forschungsleistungen entscheiden.

Es ist dabei schon etwas irritierend, wenn man sieht, dass eine Branche auf der einen Seite zum Klagen neigt (Kunden sind immer weniger bereit, für Marktforschungsleistungen adäquate Preise zu bezahlen – für Austauschbares wird die Ertragsentwicklung mit Sicherheit weiter bergab gehen), auf der anderen Seite finden "Bestseller"-Themen, etwa im Bereich der Entscheidungsforschung (ein essentielles Thema der Konsumentenforschung), wie sie in den letzten Jahren von Autoren wie Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein ("Nudge", 2009) oder eben der bereits genannte Daniel Kahneman einem breiten Publikum vermittelt wurden, nur eine vergleichsweise geringe Resonanz. Denn gerade hierin liegt Potenzial, die Investitionsentscheider von Marktforschung (die eben mittlerweile auch solche Bücher lesen beziehungsweise in Seminaren hierüber erfahren) mit "inhaltlich modernen" Forschungslösungen zu begeistern. Und eben die Diskussionen um die Zukunft der Marktforschung nicht nur (oder überwiegend) den Apologeten der „Big Data“-Bewegung zu überlassen! Das Thema somit nicht ausschlich auf die Produktionsseite zu legen, sondern der Interpretationsseite wieder zu ihrem Gewicht zu verhelfen.

Heute ist vielfach von "Disruption" zu hören oder zu lesen. Dinge seien allgemein im Wandel, und Neues ersetzt Altes unwiederbringlich. Oder vielleicht doch nicht? Dabei ist nicht das Ablösen des Einen durch das Andere das, was die Marktforschungsbranche jetzt bräuchte. Statt Schwarz-Weiß-Malerei sollte vielmehr Vielfalt angesagt sein. Und damit hat insbesondere die Wissenschaft immer wieder gute Erfahrungen gemacht. So ist zum Beispiel das Neuromarketing eine (logische) Folge des Ineinanderwirkens unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, das sich – im Interesse des neuen Forschungsgegenstandes "Menschen als Konsumenten verhaltensökonomisch zu verstehen und verhalten zu erklären" – als äußerst fruchtbar und gewinnbringend erwiesen hat.

Wichtige Erkenntnisse stammen aus der Neuromarketing-Forschung 

Nicht nur in der Diskussion rund um Big Data – auch beim Neuromarketing hat die (bildgebende) Maschine Einzug gehalten und uns in den vergangenen Jahren mit beeindruckenden Bildern fasziniert. Nur sind Bilder gleichzusetzen mit (neuen) Erkenntnissen?

Man darf, wie so häufig, weder übertriebene Erwartungen an neue Methoden haben, noch deren Vorteile und Besonderheiten gezielt kleinreden. In jedem Fall haben die bildgebenden Verfahren der Neuroforschung im Bereich des Marketings – und insbesondere bei denjenigen Marketingprofis, die mit Balkengrafiken nicht mehr zu beeindrucken waren – neue Interessenten und ein ebenso neues Erkenntnisinteresse gebracht.

Für die betriebliche Anwendung, den Forschungsalltag des Markt- und Werbepsychologen, sind letztlich aber die praktischen Ableitungen daraus in der Summe interessant und wichtig. Hier eine Auswahl wichtiger Erkenntnisse der letzten Jahre, die mittels Methoden des Neuromarketings beziehungsweise der Neuromarktforschung in die Praxis der Marktforschung eingeflossen sind: 

"Strong Brands": Das ökonomische Prinzip starker Marken 

„Kortikale Entlastung" war ein Schlüsselbegriff vor etwas mehr als zehn Jahren. Dabei werden so genannte „starke Marken" (häufig die „Großen“ ihrer Branchen) anderen vorgezogen. Neben Sozialisationseffekten in Konsumangelegenheiten ("schon als Kind gab's immer Jacobs Kaffee") spielen Wiederholungseffekte (man spricht auch von "Mere Exposure"-Effekten, das heißt bei bestimmten Anlässen wird immer Jacobs Kaffee getrunken, weil man es über zahllose Wiederholungen so gelernt hat) und Stoffwechsel-Energieverbrauch im Gehirn (das  eigentlich faule  Organ mit dem volumenanteilig mit Abstand größtem Energieverbrauch "unter Volllast") eine Rolle für zum einen die langfristige Verankerung von Gelerntem und zum anderen dessen späteres anstrengungsloses Abrufen. Hier haben die Neuroforscher um Peter Kenning und Michael Deppe – von denen auch das Jacobs-Beispiel – seinerzeit bereits viele grundlegende Erkenntnisse erbracht. Dieses Verständnis zielt insbesondere auf die Bestätigungsfunktion von Markenwerbung (gekauft wird, was man kennt). Nicht ein Mehr sondern ein Weniger an Aktivierung im Gehirn führt danach zum Markenerfolg. Das Gehirn arbeitet dabei effizienter, es wird weniger "mentale Energie" verbraucht, die es aufwenden müsste, wenn komplexe visuelle Eindrücke gefiltert werden, weil zur situativen Bewertung erst das Wesentliche vom Unwesentlichen getrennt werden muss.

Der Vollständigkeit halber soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass dies aber dann nicht weiterhilft, wenn es um Launch-Maßnahmen für neue Marken beziehungsweise Produkte geht. Ein Konsumgüterhersteller könnte mit dieser Erkenntnis aber bereits seinen Mediaeinsatz im Hinblick auf etablierte und neue Unternehmensmarken oder Produktlinien überprüfen (den etablierten weniger, dafür den neuen anteilig mehr Präsenz geben).

Freier Wille?: Nein, denn das Gehirn hat bereits entschieden, bevor wir uns – willentlich – für oder gegen etwas entscheiden 

Es gibt Areale im limbischen System, die Aktivität zeigen, bevor eine (Konsum-) Entscheidung bewusst wird. Diese Aktivitäten sind häufig handlungsleitend. Daraus folgt: Entscheidungen werden nicht selten vorbewusst gefällt, wobei gelernte Erfahrungen (z. B. mit einer Marke) eine "bahnende" Rolle spielen (man spricht in der Kognitionspsychologie hier auch von "Priming"). Umgekehrt ergeben sich daraus interessante Überlegungen, wie eine solche Bahnung erzeugt werden kann, wenn ein neues Produkt odereine neue Marke auf den Markt gebracht werden soll. Im Bereich der Medienkommunikation spielt Crossmedia dabei zum Beispiel eine zentrale Rolle. Ausgehend von der Formel "crossmedial = crosssensual", erreicht man über eine mehrkanalige Ansprache ein nachhaltigeres emotionales Lernen von Werbebotschaften. Für ein tiefergehendes Verständnis sei hier auch auf einschlägige Publikationen von Benjamin Libet verwiesen (u.a. Mind Time: The Temporal Factor in Consciousness, 2004).

Formgebend: "Brain Branding" beim Imagetransfer 

Medienmarken zum Beispiel erzeugen einen Bedeutungsrahmen, der auf das wahrgenommene Bild beziehungsweise "Image" des Mediums auch im Hinblick auf seine Werbeträgerleistung abstrahlt. Studien zu Medienmarken bei Publikumszeitschriften haben in der jüngeren Vergangenheit unter anderem gezeigt, dass ein solches Markenbild das Glaubwürdigkeitsurteil (fiktiver) Headlines maßgeblich beeinflusst. Danach wird eine Nachricht, deren Wahrheitsgehalt nicht anderweitig überprüft werden kann, für unterschiedlich glaubwürdig gehalten, je nach dem, in welchem Zeitschriftentitel sie steht. Folgeuntersuchungen konnten dann einen Effekt verdeutlichen, der auch eine Art "Kompetenztransfer" von der Trägermarke (hier dem Zeitschriftentitel) auf geschaltete Anzeigen aufzeigt: je glaubwürdiger der Titel, desto überzeugender wird die Anzeige beurteilt. Wenn man so will, Anzeigenerfolg durch den qualitativ hochwertigen Mantel. Ein Effekt, der in Evaluationsstudien anhand zahlreicher KPIs wie Markensympathie oder Impact nachgewiesen werden konnte.

Belohnung und Relevanz: gefiltert wird, was bedeutsam ist 

Basierend auf dem ökonomischen Prinzip der individuellen Nutzenmaximierung und unter Bezugnahme auf anthropologische Erkenntnisse (einige Fertigkeiten waren bereits in Zeiten der Jäger und Sammler erforderlich und finden sich nach wie vor im Gehirn des Homo sapiens widergespiegelt) werden Marken beziehungsweise Medien genutzt, wenn sie individuelle Belohnung erzeugen. Beobachtbar und erklärbar ist dies über die Aktivierung im sogenannten "Nucleus Accumbens" mit Sitz im unteren Vorderhirn. Das heißt aber auch zum Beispiel für Werbung, Bedürfnisse sind im Organismus bereits (latent) vorhanden (oder eben nicht), können folglich nicht grundsätzlich erzeugt, sondern lediglich – zu deren Befriedigung – bedient werden. Das heißt auch, Werbung bräuchte keine ethischen Bedenken mehr zu fürchten, weil es den Konsumenten nicht im Sinne eines "Hidden Persuaders" (geheimen Verführers nach Vance Packard) zu Dingen verführt, die er eigentlich ablehnt. 

"Soziales Gehirn": Schlüsselreize steuern die Aufmerksamkeit 

Eigene Studien zur Wirkung von Anzeigen in Zeitschriften konnten zeigen, dass überdurchschnittlich häufig Abbildungen von Menschen (Gesichter, in sozialer Interaktion, die den Betrachter direkt "anschauen") unter den gut getesteten Motiven waren (über den anschließenden Abverkaufserfolg kann man daraus freilich keine verbindlichen Aussagen ableiten). Jeder kennt hier bereits die wirksamen "Schlüsselreize" wie Kindchenschema, große Augen etc. Insofern ist das nicht neu, physiologisch nun aber auch gut erklärbar. Das macht deutlich: das menschliche Gehirn ist auf den Austausch mit Mitmenschen – also die soziale Interaktion ausgelegt. Dazu braucht man aber nicht zwangsläufig "Social Media". Entsprechende Bildeinstellungen bei klassischen Medien funktionieren hierfür eben auch sehr gut.

Paradigmenwechsel in der Marketingkommunikation: rezeptionsorientierte statt soziodemografische Zielgruppenmodelle 

Bereits seit einigen Jahren wird im strategischen Marketing und dessen Planung immer deutlicher: Alter, Geschlecht oder Einkommen sind keine ausreichenden Prädiktoren mehr für eine erfolgreiche Kommunikation beziehungsweise zielgruppenadäquate Platzierung von Werbemitteln in Werbeträgern. Verbraucher sind bedürfnisgesteuert und befinden sich in wechselndem Konsumkontext in unterschiedlicher Bereitschaft, Kommunikationsbotschaften für sich anzunehmen (häufig wird hierfür auch der Begriff "Rezeptionsverfassungen" gebraucht). Das neue Zielgruppenverständnis offenbart den Typus eines Mediennutzers, der nicht nur passiver Konsument klassischer wie digitaler Medien ist, sondern zugleich aktiver Produzent (hier greift der Begriff des "Prosumer" nach Alvin Toffler: "The Third Wave", zurückgehend bereits auf das Jahr 1980!) und heute selbstverständlich mit rückkanalfähigen Dialog-Medien wie dem Web 2.0 und seiner Anwendungen vertraut sowie mit deren Umgang geübt ist. Dieses Zielgruppenverständnis ist, was das Rezeptionsverhalten anbelangt, mittlerweile anerkanntes (aber noch nicht selbstverständliches) Programm für eine moderne, medienkonvergente und medienkanalübergreifende Kommunikationsforschung. Im Bereich der Konsumentenforschung berücksichtigt diese zugleich die verschiedenen Phasen der "Consumer Decision Journey" im Kaufentscheidungsprozess. Also, je nachdem, wo sich der Konsument befindet: in der Phase der Marken- oder Produkt-Erwägung, deren Bewertung, Kauf oder Markenbindungsphase werden unterschiedliche Medien je nach vorherrschendem Bedürfnis genutzt.

Marktforschung ist "verstehende Sozialforschung"

Warum ist eine Rückbesinnung auf die Forschungstradition einer verstehenden und erklärenden Sozialforschung erforderlich? Und, damit verbunden, ein selbstbewusstes Bekenntnis dazu! Wird das nicht ohnehin nach wie vor und schon ständig so praktiziert? Nun, in gewisser Weise ja (bei erfahrenen Mafo-Profis mit hohem methodischen Selbstanspruch, manchmal auch belächelt als Vertreter der so genannten "Old School"). Nur haben sich in den vergangenen Jahren die Bedingungen für die Marktforschung deutlich geändert. Marktforscher sind nicht selten von Gestaltern zu Getriebenen geworden. Zunächst hat die sich immer stärker durchsetzende Onlinemarktforschung Druck auf die "klassischen" Befragungswege Paper and Pencil sowie Telefon ausgeübt. Und dies in zweierlei Hinsicht: geringere Kosten (eine Hoffnung der Auftraggeber, die aber nicht dauerhaft durchsetzbar war beziehungsweise angehalten hat) und höhere Geschwindigkeit von der Auftragserteilung zur Ergebnislieferung. 

Das alles lief aber noch in den "gewohnten Bahnen" ab. Es kamen zwar – zu Beginn des neuen Jahrhunderts – neue Anbieter auf den Markt, aber die Spielregeln haben sich damit nicht grundsätzlich geändert. Und spätestens zu dem Zeitpunkt, als die "Etablierten" nachzogen, und ihre "Felder" auch auf Digital umstellten, waren – neben ein paar neuen Wettbewerbern – die Achsen wieder im Lot. 

Mit steigender Relevanz von "Search" und der Ausbreitung der sozialen Medien hat sich allerdings vieles grundsätzlich geändert. Und das nicht nur in methodischer, sondern – viel entscheidender – in "mentaler" Hinsicht. Gemeint ist damit ein vielerorts zu beobachtendes Phänomen, das vielleicht mit einer "digitalen Mediensozialisation" der Entscheider auf Auftraggeberseite erklärt werden kann. 

Sehr häufig hört man so auf die Frage, über welche Wege sie ihre Zielgruppen untersuchen und analysieren, "dafür gebe es ja Google und Facebook, da erfahre ich alles und kann zugleich meine Leistungen präsentieren, das heißt verkaufen" (oder sinngemäß vergleichbare Antworten). Das klingt zunächst durchaus bestürzend, insbesondere, wenn man sich als Marktforscher jahrelang persönlich einer Qualitätsdebatte um hohe methodische Standards verpflichtet gefühlt und gestellt hat. 

Und was steckt "mental" dahinter? Wohl, dass es mittlerweile für viele Entscheider ausreichend ist und den Erkenntniswünschen oft völlig genügt, zu wissen, was momentan eine Personengruppe bewegt. Das heißt, nicht mehr nach den Hintergründen zu fragen, Motive zu eruieren oder ausreichend empirisches Material zu sammeln, um Modelle erstellen und daraus verlässliche Aussagen für zukünftige Entwicklungen oder menschliches Handeln treffen zu können. Und das zumeist überwiegend oder einzig aus der Tatsache heraus, dass mehrere zeitnahe Aspekte (z. B. Einkäufe) zusammentreffen. Marktforschung, insbesondere verstanden als Motivforschung, hat daher zunehmend einen schwereren Stand, insbesondere was die Legitimation für früher gekannte Budgetgrößen aus dem Marketingtopf anbelangt. Und „Big Data“ ist da – zugegeben – auch häufig sehr gut als Datengrundlage, was die reine Informationsmenge und Aktualität anbelangt.

Was die besten Algorithmen aber nicht leisten, ist das Neue und Überraschende des menschlichen Verhaltens auszuloten. Dinge, die das Leben deshalb so interessant machen, weil sie Konsumenten durch wechselnde Bedürfnis- oder Lebenslagen manchmal spontan, und nicht selten unverhofft begegnen. Selbst wenn über Cookies Facebook & Co. Werbung immer besser den geäußerten Interessen oder getätigten Konsumakten der Nutzer gemäß aussteuert, ersetzt dies doch keine gut gemachte Motivforschung, die neue, oft nicht einmal vorher gekannte (unerfüllte) Konsumbedürfnisse offenlegen kann.

"Big Data"-Algorithmen versus verhaltensökonomische Heuristiken

Wäre Facebook heute bereits das größte Marktforschungsunternehmen der Welt (was nicht ganz abwegig erscheint), was wäre sein Output? Was können uns Marktforschern Algorithmen beziehungsweise Techniken wie das "Collaborative Filtering" bei Amazon über Konsumentenmotive letztlich wirklich liefern? Zunächst einmal wäre der Zusammenhang zwischen personenindividuellen Daten und der direkten Auslieferung von Werbung, wie sie momentan passiert, gar nicht mit den datenschutzrechtlichen Grundlagen der wissenschaftlich begründeten Marktforschung vereinbar. Darüber hinaus basieren Algorithmen immer auf Vergangenem und können eine Zukunft nur vor dem Hintergrund des „Gelernten“ vorhersagen. 

Menschliches Verhalten, menschliche (Konsum-)Entscheidungen sind aber vielfach sprunghaft und folglich oft wenig vorhersagbar. Unser Verhalten ist durch sogenannte "Heuristiken" (Daumenregeln) wie sie die moderne Verhaltensökonomie beschreibt, also vereinfachende Entscheidungsmuster gekennzeichnet. Sodass wir weniger nach einer umfassenden und geplanten Kosten-Nutzen-Relation, sondern vielmehr ad hoc nach verhaltensprägenden Impulsen (z. B. Ankerheuristik, s.u.) unsere Konsumentscheidungen treffen. 

Diese zu eruieren gelingt nur, indem man sich – marktforscherisch – direkt und unmittelbar mit dem Menschen beschäftigt, das heißt aktiv auseinandersetzt, und nicht indirekt über mathematisch generierte Zusammenhänge auf Motive seines Kaufverhaltens schließt. Auch dabei lassen sich "Algorithmen" finden, die aber nur schwer mathematisch, sondern vielmehr psychologisch darstellbar sind.

Im Folgenden werden beispielhaft zentrale und im Bereich des Konsumentenverhaltens relevante Heuristiken dargestellt, die zeigen sollen, dass menschliches Handeln nicht über rationale Algorithmen erklärbar ist.

Ankerheuristik und Framing 

Bei vielen, insbesondere risikobehafteten, komplexen Konsumentscheidungen können Konsumenten trotz vorliegender Informationen nicht alle Alternativen einer Kaufentscheidung voll umfassend bewerten, da nur begrenzte zeitliche und kognitive Ressourcen zur Verfügung stehen. Starke Marken, wie oben bereits angeführt, dienen hierbei als Orientierungshilfe, die die Entscheidungsfindung erleichtern. Starke Marken sind solche Marken, die anstrengungslos im Gehirn abgerufen werden können, so die Neuroforschung (man könnte auch sagen, die man kennt und schätzt, und die einem persönlich auch etwas bedeuten, das heißt, von persönlicher Relevanz sind). Besteht die starke Marke nicht – oder versucht ein neuer Anbieter sich als solche im Markt erfolgreich zu etablieren – dienen generische, Relevanz vermittelnde Schlüsselfaktoren (-reize) als erfolgsversprechende Impulsgeber.

Neben der Entscheidung selbst wird aber auch bereits die Wahrnehmung und Beurteilung durch starke Marken verzerrt, denn sie dienen als Bewertungsanker von Markenerlebnissen. Die Bewertung von ein und demselben Erlebnis kann im Kontext einer schwachen (wenig prägnanten) und einer starken Marke sehr unterschiedlich ausfallen. Kommen in einer konsumbezogenen Entscheidungssituation weiterhin, beeinflussende oder möglicherweise gar störende emotional aufgeladene "Umweltinformationen" (sogenannte "Frames", ebenfalls häufig erfahrungsbasiert) einer Marke hinzu, entscheiden Konsumenten unbewusst– vielfach unter Außerachtlassung von rationalen Faktoren – teilweise sehr unterschiedlich (in Abhängigkeit davon, ob die Marke beim Betroffenen positive oder negative Emotionen aus episodischen Gedächtnisinhalten aktiviert). Die Variabilität im Bewusstsein des Verbrauchers ist folglich groß, und es kommt sehr darauf an, einen stabilen und individuell relevanten Markenanker zu setzen, um auch nach nicht so überragenden Produkterlebnissen den Konsumenten nicht dauerhaft zu verlieren. 

Verlustaversion und Endowment

In vielen klassischen Ansätzen wird von einem linearen Wirkungszusammenhang von positiven oder negativen Markenerlebnissen auf die Markenbewertung ausgegangen. Daniel Kahneman und sein Forschungspartner Amos Tversky konnten aber im Rahmen der "Prospect-Theorie" zeigen, dass gleich starke negative und positive Erlebnisse subjektiv ganz unterschiedlich wahrgenommen werden. 

Negative Erlebnisse fallen danach signifikant stärker ins Gewicht als Gewinne. Dies trifft auch auf negative und positive Markenerlebnisse zu und muss daher bei der Berechnung der Wirkung auf die Markenstärke einkalkuliert werden. Auch der so genannte "Endowment-Effekt" spielt bei der Erklärung des Konsumentenverhaltens eine zentrale Rolle. Danach gewichten wir ein Produkt anders, je nachdem, ob wir es erst erwerben wollen oder bereits besitzen. Und zwar so, dass der Besitz den Wert nochmals deutlich steigert. Wiederum mit der Folge, dass emotional aufgeladene oder – im Bewusstsein des Verbrauchers – aufladbare Produkte beziehungsweise Marken aufgrund des erlebten intensiven Gefühls unmittelbar auch zur Stimulierung für künftige Kaufentscheidungen genutzt werden können (man denke hier nur an den aktuellen "Thermomix-Hype", und was man dazu noch so alles braucht …).

Diese Beispiele sollen an dieser Stelle genügen, um Irrationalität menschlicher Entscheidungen grob zu skizzieren. Ohne größere Probleme ließen sich eine ganze Reihe weiterer aufführen.

Fazit

Sicherlich werden Computeralgorithmen in den kommenden Jahren immer weiter verbessert, sodass (lineare) Konsummuster auch ohne große (bevölkerungsrepräsentative) Umfrageforschung beschrieben und entsprechendes Verhalten mittels "Big Data"-Anwendungen prognostiziert werden kann. Marktforschung muss und wird sich in den kommenden Jahren daher wieder auf ihre sozialwissenschaftlich fundierten Stärken des Verstehens und Erklärens von Prozessen zurückbesinnen müssen, um ihren Platz neben den neuen Marktplayern zu finden und um ihre Relevanz für unternehmerische Entscheidungen nicht zu verlieren. Denn methodisch saubere Arbeit allein wird gegen die wachsende Konkurrenz größerer Datenaggregatoren aus Social Media, Suchmaschinen oder  E-Commerce-Prozessen nicht mehr reichen. Denn sie ist nicht reagibel genug und ausreichend schnell, um – wie gefordert – zeitnah Prozesse zu ändern oder einzuleiten. 

In diesem Fall verliert die klassische Umfrageforschung innerhalb der (Konsumenten-)Marktforschung, wie bereits sichtbar wird, an Bedeutung. Mehr Relevanz sollten aber prognosetaugliche Modelle und Erklärungsansätze bekommen, die weniger habituelles als vielmehr ungeplantes Handeln verständlich und planbar machen. 

Heuristiken als Ergebnis verhaltenswissenschaftlicher, häufig experimenteller Konsumenten-Entscheidungsforschung zu identifizieren, sie zu verstehen und in (nichtlineare) Modelle menschlichen Handelns zu überführen, sind ein vielversprechender Weg und liefern selbst eine taugliche Grundlage in diese Richtung.

Der Autor

Michael Pusler
Michael Pusler ist Hochschuldozent und "Vollblut"-Marktforscher. Neben seinen beruflichen Stationen GIM, Infratest Wirtschaftsforschung, Hubert Burda Media, IMUK, Mediaplus sowie zuletzt als Gründer von MP RESEARCH ist beziehungsweise war er aktiv in zahlreichen Ehrenämtern, zum Beispiel als Mitglied des Bundesvorstandes der Markt- und Sozialforscher (BVM) oder als Experte in der technischen Kommission der Arbeitsgemeinschaft Mediaanalyse ag.ma. 

 

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