Kinderstudie: Verunsicherte und widersprüchliche Eltern
Köln / Hamburg - Es vergeht kaum ein Tag ohne Meldungen wie ‚unsere Kinder sind überfordert‘, ‚unsere Kinder tyrannisieren ihre Eltern‘, ‚unsere Kinder sind nicht mehr leistungsbereit‘. Aber wie erleben sich die Kinder eigentlich selbst? Was bedeutet für sie Glück? Was Unglück? Was sind die psychologischen Faktoren, die das Erleben des kindlichen Alltags bestimmen? In einer qualitativen Untersuchung mit 28 Tiefeninterviews mit Kindern sowie einer Sekundäranalyse aus ca. 200 Tiefeninterviews mit Kindern und Eltern der letzten zwei Jahre hat sich rheingold im Auftrag des Magazins STERN dem Thema genähert.
In Gesprächen mit Eltern wird deutlich, dass Kinder heute mehr denn je Ausdrucksform ihrer Eltern geworden sind. Die Eltern sind jedoch extrem verunsichert, wie sie ihren Kindern ‚richtig‘ gegenübertreten sollen und sind in ihren Erwartungen widersprüchlich. Die Kinder sollen vorzeigbar sein, in allen Bereichen brillieren und zugleich uneingeschränkt Kind sein dürfen.
Viele Kinder verfügen heute über große finanzielle und materielle Möglichkeiten. Auch auf ideeller Ebene können die meisten Kinder aus dem Vollen schöpfen. Sie haben Eltern, die sich über alle Maßen um die kindlichen Belange kümmern und sie unterstützen. Vielen Kindern scheint es zuerst einmal an nichts zu fehlen.
Die Kinder spüren zugleich aber eine Einbuße auf ganz anderer Ebene. Ihre generellen Lebensordnungen erleben sie als labil. Durch Trennungserlebnisse und Patchworkfamilien ist die Welt der Kinder brüchig geworden. Wenn nicht in der eigenen Familie, dann erleben doch alle Kinder zumindest im Freundeskreis das Auseinanderbrechen von Familien. Dies schwebt wie ein Damoklesschwert auch über ihnen. Auch der Alltag in einer intakten Familie ist nur noch wenig durch klare Routinen und Regeln bestimmt und ritualisiert. Vater und Mutter haben kein klares Rollenbild mehr. Diese Rollendiffusion führt dazu, dass Zuständigkeiten und Ansprechpartner oft nicht klar geregelt sind. Die Eltern werden daher von den Kindern oft als nicht verlässlich erlebt. Sie variieren in ihrer Rolle, sind mal Erziehungsberechtigter, mal Freund oder Vertrauter für das Kind. Die Kinder erleben zudem eine labile Elternpräsenz. Vater oder Mutter sind oft psychisch abwesend, auch wenn sie physisch anwesend sind. Für die Kinder sind die Eltern mitunter kaum noch zu fassen. Durch diese labilen Ordnungen wird das Leben für die Kinder zutiefst unberechenbar. Aber Kinder sehnen sich nach Berechenbarkeit und Verlässlichkeit, um ein Grundvertrauen aufbauen zu können.
Kinder sind verunsichert. Aber sie erleben es als ihren insgeheimen Auftrag das labile Familiensystem zu stabilisieren. Sie fühlen sich unbewusst dafür verantwortlich, dass die Familie zusammenhält. Auffällig ist, wie empfindlich sie auf Störungen in der Familie reagieren. Sie haben ein sensibles Frühwarnsystem entwickelt, wenn Krach droht. Sie beschwichtigen, werden zu Vermittlern, wirken beruhigend auf die Eltern ein, deeskalieren oder werden selber laut, um die Eltern wieder in ihre Elternrolle zu zwingen. Dadurch übernehmen die Kinder schon in jungen Jahren eine sehr erwachsene Position. Mitunter fungieren sie als Alltagstherapeuten ihrer Eltern und fühlen sich dafür verantwortlich, die traurige Mutter aufzubauen oder den enttäuschten Vater zu besänftigen. Die Aufgabe der familiären Systemstabilisierung stellt heute die eigentliche Überforderung der Kinder dar.
Dieser Überforderung begegnen die Kinder damit, dass sie sich auf kleine Kreise von Bezugspersonen und Themen fokussieren und sich weniger Gedanken um große politische Themen machen. Der ‚kleine Kreis Familie‘ ist schon unsicher genug. Sie suchen sich Zusammenhalt bei ihresgleichen und sichern sich unverbindlich mehrfach ab. Viele Freunde in vielen Netzwerken werden dazu genutzt, zeitgleich mit Eltern und Freunden (virtuell) verbunden zu sein. Alltägliche – auch kleine Entscheidungen wie z. B. die Farbe der Schnürsenkel – wird mit 20 anderen Freundinnen geteilt und erst dann getroffen. Die im Alltag vermisste Stabilität wird auch in Computerspielen aufgesucht, in denen feste und nachvollziehbare Frames und Ordnungen herrschen, man gemeinsam für das Gute und gegen das Böse kämpfen kann.
Die Sehnsucht nach einer verlässlichen Welt, die eine kindliche Unbeschwertheit erlaubt, manifestiert sich auch in den Träumen vieler Kinder berühmt zu werden, zu Superstars zu avancieren, die von allen bewundert und vor allem versorgt werden. Castingshows und steile You-Tuber-Karrieren zeigen ein extremes Entwicklungs-Spektrum auf: Entweder gelingt es, einen glanzvollen Aufstieg hinzulegen oder es droht der Absturz ins Bodenlose. Zwischen Superstar und Loser gibt es häufig in der Phantasie der Heranwachsenden kaum Zwischenstufen. Diese Kippeligkeit der Entwicklungs-(Alp)träume ist so immens, dass Heranwachsende sich oft schwer damit tun, eine klare Richtung in ihrer Entwicklung einzuschlagen. Oft bleiben sie lange Zeit in einem Zustand des La(r)vierens und scheuen entschiedene Festlegungen. Mitunter bremsen sie sich auch im Hinblick auf eine offen ausgelebte Pubertätsrevolte ab. Sie fürchten als rebellisches Kind das Familiensystem, das sie doch stabilisieren wollen, noch zusätzlich zu belasten.
Die Studie zeigt, dass Kinder wieder Eltern brauchen, die ihre Elternrolle annehmen, eine klare Position beziehen und die Kinder Kind sein lassen.
ah
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