Christian Thunig, INNOFACT AG KI wird in den nächsten Jahren nicht zum Game-Changer in der Marktforschung

Alle reden über KI und ihre Auswirkungen auf die Marktforschung. Aber allzu groß wird der Impact in den nächsten Jahren nicht sein - meint Christian Thunig von INNOFACT. Von der Künstlichen Intelligenz als Game Changer zu sprechen, hält er für übertrieben. Warum er das so einschätzt, erklärt er in diesem Beitrag.

Künstliche Intelligenz ist in der Marktforschung auf niedrigem Niveau angekommen, und mögliche Tools und Anwendungen werden hier wachsen, das ist klar. Aber sie wird in der Marktforschung auf absehbare Zeit also in den nächsten drei bis fünf Jahren nicht zum Game-Changer. Warum? Derzeit fehlen noch die robusten Anwendungen in der Research-Praxis. Und ein ganz wesentliches Element bei der Beforschung der Menschen ist zudem der Aspekt "Motivation". Warum hat ein Kunde so entschieden? Auch wenn Erinnerungsvermögen und Selbstwahrnehmung von Menschen diskutiert werden müssen (am Ende macht sich jeder Mensch die Welt so wie sie ihm gefällt), gehört gerade die eigene gefühlte Subjektivität zu den motivationalen Triggern.

Auch insgesamt ist die Künstliche Intelligenz noch auf dem Weg. Das wissen Institute, die bereits angefangen haben, damit zu arbeiten (siehe z.B: den Artikel zur Verpackungsforschung in diesem Dossier) und insbesondere auch Wissenschaftler weisen immer wieder darauf hin. Sobald Logik, Sinnzusammenhänge und Bewertung von Ergebnissen ins Spiel kommen, wird es für die Maschinen derzeit noch eng. Aber genau das macht eigentlich die Kunst der Marktforschung aus. Die Statistik dahin ist ja nur Mittel zum Zweck auf dem Weg zu den Bedürfnissen der Menschen.

Horst Wildemann, Professor an der TU München, spricht daher von der "Champagnerfalle". Denn es gebe nach Analyse vieler Daten den klaren Zusammenhang, dass mit zunehmendem Champagnerkonsum die Lebenserwartung steigt. Bei klarem Menschenverstand ist völlig einsichtig, dass das natürlich nicht sein kann. Diese Falle, so Wildemann, sei bezeichnend für die Missverständnisse und Mythen, die über die künstliche Intelligenz (KI) im Umlauf sind. Denn künstliche Intelligenz sei nichts anderes als eine sehr spezifische Art des Lernens, nämlich maschinelles Lernen.

Machine Learning heißt, dass die Maschine lernen muss

Das heißt, die Maschine weiß nur das, was sie gelernt hat. Was den Menschen auszeichnet, nämlich Transferleistungen auf neue Phänomene anzuwenden, ist damit zunächst ausgeschlossen. Insofern sind Anwendungen, zu denen es jede Menge Testdaten gibt, prädestiniert. KI kann Texte bereits aus einfachen Themen machen. Fußball- und Börsenberichterstattung können tatsächlich automatisch erstellt werden. Bei der so genannten "verkörperten Künstlichen Intelligenz" gibt es auch große Fortschritte, weil man hier auch um die soziale "Mechanik" von einzelnen Prozessen weiß. Ein Team der Technischen Universität München hat erstmals untersucht, wie autistische Kinder mit "Roboter-Puppen" lernen können, wie Avatare helfen können, mit Halluzinationen umzugehen oder wie virtuelle Chats bei Depressionen helfen können. Und medizinische Diagnosen anhand von Ultraschallaufnahmen sind für KI wie geschaffen.

Insbesondere in der Marktforschung sind es Dinge wie Facial-Coding, Bilderkennung oder Textanalysen, bei denen bereits Erfolge erzielt werden. Hintergrund ist immer, dass diese Systeme mit großen Mengen an Daten zunächst gefüttert wurden, also alles Prozesse, die vorher trainiert wurden. Zwar können sich Systeme mittlerweile auch selbst Wissen "erarbeiten", aber es bleibt dabei: Maschinen haben keine inhärente Intelligenz, wie Menschen, wenn sie auf die Welt kommen – Menschen sind aber wiederum, wenn es um das Lernen von Wissen und Daten geht, haushoch unterlegen. Und da die Verarbeitungsgeschwindigkeiten immens wachsen, kann KI natürlich viel schneller Muster in Daten erkennen oder eben Schachspielzüge entwickeln und in AlphaGo unschlagbar werden. Aber schon beim autonomen Fahren, das derzeit mit Hochdruck entwickelt wird, gibt es noch so viel implizites Erfahrungswissen, was selbst Autofahrern selbst nicht (mehr) bewusst ist, dass es noch längere Zeit dauern wird, bis wir ein Nickerchen am Steuer werden machen können. Südengland-Enthusiasten denken zum Beispiel an die vielen Single-Trackroads im beschaulichen Cornwall. Der Begegnungsverkehr ist mehr ein Prozess des Aushandelns denn ein reines Autofahren.

Data Analytics-Umsatz bisher noch übersichtlich

Dennoch werden viele argumentieren, dass Big Data doch gerade eine Anwendung sei, die die Königsdisziplin der KI ist. Bisher machen Big Data-Analysen nach ADM-Zahlen mit nun vier Prozent noch einen kleinen Teil am Marktforschungskuchen aus. Aber natürlich: der Bereich wächst, nicht zuletzt, weil Institute hier massiv investieren. Es gibt sogar Strömungen, die davon ausgehen, dass in absehbarer Zeit nicht mehr befragt, sondern nur noch Daten ausgewertet werden. Surfverhalten und Kaufdaten-Analyse in Shops sind die häufigsten Fälle. Allerdings wäre das auch hier eine zu starke Beschränkung des Sichtfeldes, denn online und digital wird noch lange nicht alles abgebildet. Bei der Analyse des Surfverhaltens geht es darum, beispielsweise Customer Journeys nachzuvollziehen: Wie ist das Such- und Informationsverhalten von Usern, bevor sie kaufen? Bei allem ist allerdings auch hier zu beachten, dass die Motive der Menschen nicht erfasst werden können. Warum ein Proband sich verhält, wie er sich verhält, wird aus den Daten nicht ersichtlich.

Man stelle sich die Customer Journey eines Autonarren vor, der sehr gerne neue Modelle im Web anschaut. Hier zu erkennen, ob wirklich ein Neuwagenankauf ansteht, wird sehr schwierig. Ja mehr noch: es gibt Menschen die sehnsüchtig um Produkte kreisen, die sie sich möglicherweise nie werden leisten können. Daher muss, um ein vollständiges Bild zu bekommen, immer noch befragt werden, auch wenn statistische Algorithmen und Machine Learning große Fortschritte versprechen. Und schließlich: Wenn man die Kundendatenebene in Unternehmen betrachtet, sind doch viele Customer Relationship-Management-Systeme noch zu rudimentär gefüllt, um damit mit überhaupt Analysen machen zu können. Nach dem Rausch der Möglichkeiten kommt häufig der Kater, dass erst einmal in die Kundendaten investiert werden muss.

Fazit: KI hat (noch) keine implizite Intelligenz und Wissen, Motivationen werden wir auf absehbare Zeit noch abfragen müssen und viele Unternehmen müssen zunächst ihre Kundendaten weiter ausbauen, bis die schöne neue Welt der KI uns verzaubert. Dass wir etwas überspitzt formuliert Daten einkippen und auf Knopfdruck rasche vollständige Erkenntnisse zu Menschen und Konsumenten erhalten, bliebt also zunächst einmal ein Traum. 

Zum Autor:

Christian Thunig ist Managing Partner bei der INNOFACT AG. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Markenführung und Medien. Er ist außerdem Mitglied im Beirat von marktforschung.de

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Holger Geißler am 15.07.2019
    Lieber Herr Thunig! Auf der einen Seite haben Sie sicherlich Recht: KI ist an vielen Stellen noch nicht soweit.
    Nur, ich würde empfehlen nicht darauf zu warten, dass andere die KI-Baustellen schließen, die aktuell noch vorhanden sind. Das hat die Branche ja in der Vergangenheit an vielen Stellen gemacht (Beispiel: Social Media Monitoring - auch hier hat man zunächst gesagt: Kann die Mafo nicht ersetzen, müssen wir abwarten. Mit dem Ergebnis, dass viele neue Anbieter entstanden sind, die sich selbst nicht als Marktforscher bezeichnen würden, aber dennoch viel Umsatz machen. Und der Kelch, aber auch die Chance, ist an der Branche vorbeigegangen). Deshalb finde ich persönlich Ihre Meinung etwas gefährlich, wenn auch nachvollziehbar.
    Ob irgendein Marktforscher überhaupt in der Lage wäre in das KI-Rennen einzusteigen, steht auf einem ganz anderen Blatt.
    Gruß Holger Geißler
  2. Christian Thunig am 15.07.2019
    Lieber Herr Geißler, völlig richtig: einfach nur zuwarten ist sicherlich auch nicht das Gebot der Stunde. Es ging mir darum zu zeigen, dass KI derzeit für die Praxis noch etwas überschätzt wird, was wirklich möglich ist. Viel Aufregung in der Branche und übrigens im Marketing könnte man sich ersparen, wenn man mit vernünftigem, realistischem Blick auf die neuen technologischen Entwicklungen schauen würde. Dennoch muss man daran arbeiten, die Vorteile, die sich in Folge bieten, mitzunehmen.
    Herzliche Grüße
    Christian Thunig

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