Andera Gadeib, Marktforscherin KI in der Marktforschung – Die richtige Balance aus Automation und Intuition

Der KI wird einiges an Superkräften zugesprochen. Künstliche Intelligenz - das klingt übermenschlich. Wird unsere menschliche Intelligenz künstlich reproduziert – ja, gar gesteigert?
Und wenn ja, was bedeutet das für die Marktforschung?
Eins vorweg: Die Zukunft ist menschlich. Davon bin ich fest überzeugt. Dies gilt auch für die Zukunft des Marktforschers. Wenn sie oder er bereit ist, eine Verbindung mit dem Digitalen einzugehen. Wenn sie ihre zutiefst menschliche Intelligenz und Intuition mit der künstlichen Intelligenz verbünden mag. Und er eine sinnvolle Symbiose anstrebt.
Eine bewusste Aufgeschlossenheit gegenüber den digitalen Optionen und ein eingeschalteter gesunder Menschenverstand erscheinen mir dabei besonders wichtig. Es braucht die Fähigkeit, Intelligenz zu erkennen, und das grundlegende Verständnis, was KI eigentlich ist und wozu sie (nicht) in der Lage ist.
KI als Kartierung
Als vor vier Jahren Donald Trump die US-Wahl gewonnen hatte, wertete ich mittels einer KI-gestützten Textanalyse sein TV-Duell mit Hillary Clinton aus. Aus den Strukturen des Gesagten offenbarte sich Trumps emotionale Argumentation, während Clinton funktional konterte – auch wenn beide, jeweils auf ihre Art, durchaus leidenschaftlich auftraten. Hätte damals eine KI die bessere Vorhersage gemacht, bezogen auf den Wahlausgang?
So weit will ich nicht gehen. Dennoch bietet die KI eine Ebene, die dem Menschen – mit all seinen Sinnen, all dem Kontext und der Intuition – womöglich entgeht: Eine objektive Kartierung, die Pfade offenbart. Eine Kartierung, die nahezu so schnell verfügbar ist wie die menschliche Intuition, nämlich in der Rechengeschwindigkeit der Bits und Bytes, dabei aber weitgehend ohne Bias alles in Betracht zieht, was und wie es gesagt wurde.
Tempo der Technologieentwicklung
Wenn wir heute davon sprechen, die Technologie habe sich in einem ungeheuren Tempo entwickelt, lohnt der Blick zurück: Bereits im Jahr 1966 – vor 55 Jahren! – entwickelte Joseph Weizenbaum ELIZA, ein Programm zur Mensch-Maschine-Kommunikation in natürlicher Sprache. ELIZA sollte das Gespräch eines Psychotherapeuten mit seinem Patienten simulieren und anhand festgelegter Keywords adäquat reagieren. Hätte man damals gedacht, dass es so lange dauert, bis KI wirtschaftlich genutzt werden kann? Tatsächlich schreitet die Entwicklung deutlich langsamer voran als wir es empfinden.
Seit 25 Jahren beschäftige ich mich intensiv mit Online-Marktforschung, eine ELIZA oder eine KI als vollwertige Interviewerin ist jedoch nicht in Sicht.
Zu Beginn von Dialego um die 2000er Jahre versuchte ich, einen Chatbot zu programmieren, der als Interviewer fungieren sollte. Doch, obgleich ich auf eine sehr progressive Technologie von Kiwilogic in Hamburg setzte, war der Chatbot den vielfältigen Antworten unserer Befragten nicht gewachsen. Zu groß der Aufwand, sie zu trainieren, verglichen mit dem möglichen Output. Und das gilt heute noch.
Ein Experiment: Abhängen mit Alexa
In den vergangenen Jahren experimentierten wir mit weiteren Sprachassistenten, Amazon Alexa etwa, und testeten deren Interviewerqualitäten. Wir setzten sie experimentell in einem Popup Store zur Digitalisierung des Einzelhandels in der Aachener Innenstadt ein. Sie sollte Interviews mit den Besuchern durchführen und herausfinden, was diese von den Ergebnissen eines Innovationsprozesses mit Konsumenten und Händlern hielten. Kaum betrat ein interessierter Stadtbummler unsere eigens aufgestellte Box, konnte er mit Blick auf die ausgestellten Konzepte das Interview mit Alexa starten.
"Abhängen mit Alexa" entpuppte sich als großer Spaß – jedoch nicht als ernstzunehmende Befragungstechnik. Auch wenn wir Anfragen erhielten, ernsthaft empfehlen konnten wir Alexa nicht. Mehr als zwei oder drei Fragen waren die Teilnehmer nicht bereit zu beantworten, und es zeigte sich, dass das Risiko, Mensch und Maschine würden sich nicht perfekt verstehen, zu hoch war.
An dieser Stelle ist jeder Online-Fragebogen oder Live-Chat das validere Instrument – wenn auch mit etwas weniger Spaß. ;)
So landete Alexa vorübergehend als Assistentin auf unseren Schreibtischen. Sie beantwortete prompt konkrete Stichprobenanfragen wie: "Alexa, wie viele Frauen zwischen 55 und 69 Jahren haben wir in unserem Panel in Deutschland?" Die Algorithmen arbeiten hier meisterlich und auch die Spracherkennung überzeugte uns. Richtig durchsetzen konnte Alexa sich jedoch auch im Dialego-Team nicht.
Mensch und Maschine
Bleiben wir also bei der zentralen Frage: Wo kann die Maschine den Forscher ersetzen? Wo kann dies sinnvoll sein? Und wo gewinnen wir dann wieder Zeit für das Wesentliche?
Vielversprechend ist die Kombination unserer menschlichen Intuition mit dem gebündelten "Wissen" der Maschine. Denn wenn wir die Maschine all das erledigen lassen, was sie schlicht besser kann als wir Menschen, dann gewinnen wir Zeit für das, was uns am Herzen liegt. Wesentliche Zeit für den Kernauftrag an uns Marktforscher: Erkenntnisse zu gewinnen.
Worin ist der Mensch gut, worin die Maschine, fragte ich 1.000 Menschen für mein Buch. Die Antworten zeigen: Die Maschine erledigt routinemäßig und schnell Arbeiten, der Mensch ist geprägt von Gefühlen, Individualität, Kreativität und Flexibilität.


Wenn wir verstehen wollen, welche Aufgaben die Maschine erfüllen kann, müssen wir vor allem einen Unterschied verstehen: Was ist komplex und was nur kompliziert? Denn das Komplizierte kann die Maschine übernehmen – und sollte sie auch –, alles Komplexe wird langfristig beim Menschen bleiben.
Komplex vs. kompliziert
Für Laien ist es schwer, die vielen Technologien zu verfolgen und zu durchdringen. Erstaunlich finde ich aber die Tatsache, dass selbst Experten die Grundlagen der IT nicht klar umschreiben. Häufig bringen auch sie komplex und kompliziert durcheinander.
Dabei sind Computerprogramme nie komplex, höchstens kompliziert. Der Unterschied zwischen komplex und kompliziert ist, dass alles Komplizierte einem festen Regelwerk folgt.
Als Durchbruch bezeichnet man gern den Sieg der Google KI Alpha GO über den koreanischen Weltmeister im Brettspiel Go. Go ist aufgrund seiner vielfältigen Spielzugvarianten ungleich schwerer als Schach. Dennoch ist es nur kompliziert, denn es folgt einem festen Regelwerk. Wenn die Prozessoren nun in der Lage sind, schneller oder mehr zu rechnen und die Spielzüge weiter vorauszusehen als das menschliche Gehirn, so ist hier nur etwas Kompliziertes gelöst. Die Maschine hat schnell eine Arbeit verrichtet und Punkte gesammelt.
Bei dem dichotomen Ergebnis Sieg oder Niederlage mag die KI gewonnen haben. Aber geht es womöglich auch im Spiel nicht nur darum, welchen Spielzug die sich gegenübersitzenden Menschen wählen? Der Marktforscher ruft direkt laut "JA!" Wir haben es häufig mit Komplexem zu tun, stellen Fragen, bei denen die künstliche Intelligenz bei weitem noch nicht mitkommt. Und auch in Zukunft nicht vollumfänglich mitkommen wird.
Aber wo kann die KI helfen?
Hilfreiche Automation
In den vergangenen Jahren sichtlich weiterentwickelt hat sich die Automation - und hier spielt künstliche Intelligenz immer häufiger eine Rolle. Sie ist in unserer täglichen Arbeit in der Online-Marktforschung nicht mehr wegzudenken. Insbesondere bei Verständnis und Analyse, etwa der automatisierten Transkription des gesprochenen Wortes, der Übersetzung von O-Tönen bei Mehrländerstudien in eine gemeinsame Sprache wie Englisch oder dem KI-gestützten Herauskristallisieren relevanter Aussagen, besonders bei sehr umfassenden Texten.
Wer digital forscht – oder seine Erhebungen flugs digitalisiert – hat Interviews, Chats, O-Töne oder Assoziationen maschinenlesbar vorliegen. Als Video, Audio-Datei oder getipptes Wort. Mit der passenden Schnittstelle können die Algorithmen ihr Werk verrichten. Einmal eingerichtet bringt dieser Prozess einen riesigen Effizienzvorteil für den Marktforscher. Kann er sich doch auf das konzentrieren, was ihm am Herzen liegt: einen Sinn daraus entwickeln. Erkenntnisse zusammenfassen, mit dem Kunden ins Gespräch gehen, gemeinsam im Team darüber nachdenken und die nächsten Schritte planen.
So werden aus Video-Interviews innerhalb von Sekunden Transkripte, aus seitenlangen Live-Chats Wortwolken und Sinn-Netzwerke.
In einem physischen Anwendungsbeispiel, einem digitalen Planungstisch, nutzen wir inzwischen Kameraaufnahmen dazu, mittels KI, Spielobjekte zu erkennen. "Bewegt ein Befragter da gerade ein Auto oder einen Radfahrer auf der Landkarte?" und "Wo fährt er seinen Weg zur Arbeit ab?" Diese Automatisierungen können unglaublich hilfreich sein, um Daten "intelligent" und barrierefrei für den Teilnehmer zu erheben. Hier sind noch viele Anwendungsbeispiele denkbar.
Die Güte von KI
Diese Live-Unterstützung, die KI liefern kann, hat ihren Preis: Wir müssen über das "good enough" diskutieren. Denn so gut die Algorithmen sind, sie sind selten perfekt. Wollen wir Interviewtranskripte erst korrigieren, Tippfehler bereinigen, falsch transkribierte Worte korrigieren? Oder können wir mit einer achtzig- oder neunzigprozentigen Genauigkeit leben?
Uns muss zudem bewusst sein: Die KI wird in der Regel vom Menschen trainiert. Jedes Ergebnis fußt auf einem Algorithmus, der vom Menschen konstruiert ist.
Ethik und Standesrichtlinien
Ebenso stellt sich die Frage der Ethik, auch jenseits von Datenschutz- oder Standesrichtlinien. Was sollten wir aufzeichnen, wie mit den Daten und Analysen umgehen? Welche Verantwortung trägt der Programmierer der Algorithmen? Wie gut kenne ich den Algorithmus? Verstehe ich ihn und kann dessen Einsatz verantworten? Hierüber werden wir künftig häufiger einen Diskurs führen, Haltung einnehmen und mit unseren Kunden in Austausch gehen.
Die Zukunft der Arbeit ist menschlich
Es zeichnet sich bereits ab: Bedingt durch die Pandemie durchleben wir aktuell den massivsten Digitalisierungsschub der vergangenen Jahre. Voraussichtlich werden mehr Menschen denn je im Home Office verbleiben und nicht vollständig in ihre Büros zurückkehren. Je stärker sich unsere Arbeitswelten digitalisieren, desto mehr brauchen wir das Miteinander. Die Technologie ist unser Handwerkszeug. Ein Blick auf die KI-Landkarte des Bundes oder die Liste der Tool-Tipps lohnt sich.
Es gilt nun, diese Zukunft zu gestalten. Den Rahmen für Emotionen, Kreativität und Menschliches auch im digitalen Raum der Zusammenarbeit zu schaffen. Das richtige Maß an Automation und Intuition - der Mensch - ist hier gefragt. Ich bin sicher, dass dies gelingen kann.
Über die Autorin:

/jre
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

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