Martins Menetekel Kein Wendepunkt in Sicht!

Fast überall steigen die Fallzahlen aller gemeldeten Infizierten, und die Zuwächse wachsen immer noch. In einigen Ländern hat die Kurve der Zuwächse, welche den Verlauf der 1. Ableitung widerspiegelt, schon den dritten Buckel erreicht, wobei jeder Buckel höher wurde. Das Robert-Koch-Institut meldete am Donnerstag einen Rekordzuwachs von über 4.000 Infizierten. Die Zahl von der Johns Hopkins University war noch höher, 5.431 Zugänge. Die (kumulierten) Fallzahlen sehen aus wie eine mehrfach gewellte Wasserrutsche.
Die Diskussion kreist ständig um die Frage, ob diese Zahlen für Deutschland eine echte neue Welle bedeuten.
Dazu möchte ich noch einmal auf eine Musterfunktion nach Verhulst eingehen. Haben wir einen reinen Wachstumsprozess mit Limitierungsfaktor L = 1/S , hier S = 10, so sieht die Kurve wie ein mehr oder weniger langgezogenes S aus. Die Ableitung ist eine Glockenkurve, die zweite Ableitung sieht aus wie ein zweiarmiger Propeller:

Der Wendepunkt der Fallzahlenkurve grün liegt über dem Maximum der Zuwächse braun und der Nullstelle von der zweiten Ableitung blau und beide Wendepunkte der Zuwächse liegen über den beiden Extremwerten Maximum und Minimum der 2. Ableitung.
Ist der Wendepunkt schon in der Nähe?
Die dicke Kurve ist eine reine Exponentialfunktion mit erster und zweiter Ableitung, kaum zu sehen. Was wir aber sehen, ist, dass diese Annäherung bei den Fallzahlen grün schon gut vor dem Wendepunkt abhebt, bei der ersten Ableitung noch früher und erst recht bei der zweiten. Ich vergleiche die erste Ableitung gerne mit einer Lupe, die die Kurve an einem Punkt genauer analysiert, die Zweite ist dann das Mikroskop.
Wir müssen aber herauskriegen, ob wir in der jetzigen Phase schon in der Nähe des Wendepunktes sind oder ob die Fallzahlen wieder steiler werden. Dazu muss die erste Ableitung N'(t) maximal werden und dann wieder fallen, und die zweite Ableitung muss komplett im negativen Bereich liegen.
Diese Entscheidung ist derzeit noch nicht zu fällen. Es ist kein Wendepunkt in Sicht! N'(t) steigt und N''(t) oszilliert um die Zeitachse. Aber die mögliche obere Schranke ist mächtig gewachsen auf fast 560.000 Fallzahlen. Damit wird die jetzige mögliche Schranke dreimal höher sein, als es noch Mitte Juni vor den Lockerungen zu erwarten war. Damals betrug die Prognose 194.488 Infizierte. Das ist ein Warnsignal für alle.

Noch eine Bemerkung zum Vorgehen
Prinzipiell muss unser Ansatz der Annäherung durch Verhulst auch in dieser Phase erfolgreich sein, sobald sich die äußeren Parameter des Prozesses nicht ändern, denn er ist die beste Annäherung zweiten Grades. b und S sind dann über einen langen Zeitraum die den Prozess beherrschenden Parameter und A dient zum Anbinden der durch Integration gewonnenen Kurve an die tatsächlichen Fallzahlen. Wenn also vernachlässigbar wenig Viren von außen nach Deutschland kommen und sich das Verhalten der Leute nicht ändert, ist eine Approximation möglich. Umgekehrt wird auch ein Schuh daraus, wenn wir eine Prognosekurve entwickelt haben und wenn sich dann die realen Fallzahlen nicht an diese Prognosekurve halten, hat sich der Prozess verändert!
Laut Information aus dem Gesundheitsministerium wird derzeitig der Prozess nicht mehr von den Urlaubern bestimmt, sondern von dem Verhalten der Menschen in Deutschland. Damit sollte eine Prognose bald möglich sein. Darüber das nächste Mal.
Über den Autor
Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.
Aus dieser Reihe zuletzt von Martin Lindner auf marktforschung.de erschienen:
Wie finde ich die Phasen einer Pandemie?
Wir sind noch nicht in einer stabilen Phase!
Möglichkeiten und Grenzen einer Prognose
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