Aus dem wahren Leben – Kolumne von Jens Krüger Karstadt – Lasst jetzt mal die Marktforscher ran

Karstadt: ein Ort der Sehnsucht
An Themen mangelt es unserer Branche ja aktuell wahrlich nicht - auch abseits von Covid-19. Themen oder Geschichten, die das Leben schreibt. Ich möchte heute einmal über Karstadt sprechen. Karstadt will über 60 seiner Filialen schließen. Betroffen sind v.a. Randlagen in schwierigen urbanen Umfeldern, da wo in den letzten Jahren nicht mehr investiert wurde. Schade, wie ich finde, man könnte doch so viel draus machen ....
Karstadt ist für mich meine Heimat in Bielefeld. Karstadt und hier natürlich die Spielwarenabteilung zu allererst waren für mich als Kind Ort der Sehnsucht. Bei Karstadt gab es neben Spielwaren - alles. Töpfe, Bekleidung, Lebensmittel, Süßwaren, Kosmetik und natürlich Kurzwaren (GenZ: Kurzwaren = Knöpfe, Reisverschlüsse, Nähgarn usw.). Und nebenan in der Konditorei gab es dann noch eine leckere Waffel - eine, die es nur dort so gibt. Bis heute.
Ja, ich verkläre. Ein bisschen, aber so ist es mit Dingen, die für einen mehr sind als nur ein Ort zum Einkaufen. Und genau darüber möchte ich sprechen, angesichts der Tatsache, dass jetzt unter dem Deckmantel von Covid-19 über 60 Filialen allein in Deutschland geschlossen werden und in alter Tradition ein gewisser Miguel Müllenbach zum neuen CEO bestellt werden soll, der vorher CFO des Unternehmens war. Also, es erwartet uns ein "weiter so" ...
Warum wird eigentlich kein Marktforscher CEO von Karstadt?
Es wäre doch jetzt an der Zeit, oder? Alle reden heute über Kundenzentrierung. Human is the next big thing. Wow. Eigentlich ist das noch ein No-Brainer. Ganz ehrlich und unter uns - in unserer Branche arbeiten tolle Psychologen, Soziologen und auch eine Menge Wirtschaftswissenschafter und noch ganz viele spannende Quereinsteiger. Also, erzählt uns nichts davon, dass es zukünftig wichtig ist, die Menschen da draußen zu verstehen. Das machen wir, seit - eigentlich schon immer.
Nur jetzt hat es auch wirtschaftlich ernsthafte Konsequenzen, wenn man es nicht ist. Kundenzentriert meine ich. Denn mit dem Ausklang der Industrieökonomie in den letzten Jahren, wird vielen Unternehmern erst jetzt bewusst, dass sie sich auf die neue Ordnung, die Netzökonomie einstellen müssen. Klar, digitale Prozesse und so. Haben wir jetzt alle. Fast alle. Neben der technischen Konnektivität fehlt es aber immer noch vielerorts an der kulturellen Konnektivität oder kulturellen Nähe. Diese fällt jetzt noch mehr ins Gewicht. Die Menschen wollen Unternehmen, Marken, die zu ihnen passen. Und zu ihren Werten. Und einen Nutzen stiften.
Was hat das mit Karstadt zu tun? Karstadt stiftet Nutzen, nicht nur als Warenhaus, sondern als Problemlöser im Alltag, als Menschen-Verbinder. Karstadt ist in vielen Städten und Stadtteilen kommerzielles und soziales Zentrum für tausende Familien. Was fehlt, ist ein zeitgemäßer Umbau von Karstadt, der sich in seinem Kern kontinuierlich weiterentwickelt. Und dabei meine ich nicht allein die Architektur, sondern den Purpose (Daseins-Zweck) und die Frage, wofür Karstadt mit seinem Kern heute stehen will und kann. Vielleicht wäre Karstadt unter einem Marktforscher als CEO eine Genossenschaft, ein gemeinsam von Kunden und einigen mutigen Investoren geschaffener Ort der Begegnung. Die großen Flächen laden gerade dazu ein, Andere einzuladen. Zum Beispiel die kreativen Start Ups, denen Karstadt Pop-Up Flächen anbieten könnte. Gerade als eCommerce Pure-Player haben heute viele genau das andere Problem - sie sind nicht anfassbar, nicht nahbar für die Menschen. Ohne echte Geschichten, die das wahre Leben schreibt. All denen hilft es bei Karstadt sichtbar zu sein. Und warum übernimmt Manufactum nicht die Kurzwarenabteilung? Das passt doch. Und schon käme auch die kaufkräftige Kundschaft wieder häufiger vorbei. Und vielleicht übernimmt Amazon fresh oder myEnso die Lebensmittelabteilung?
Auch ohne Glaskugel wissen, wohin die Reise geht
Wir Marktforscher wissen, dass solche Konzepte keine Luftnummern bleiben müssen. Wir haben bei so vielen Kunden so viele Daten und Studien erhoben. Wir wissen auch ohne Glaskugel, wohin die Reise gehen kann. Weil wir mit den Menschen sprechen. Kunden und Mitarbeiter sind die wichtigsten Entwickler einer Marke, eines Unternehmens - gerade in der Netzökonomie. Für die alten CFOs der Industrieökonomie nur hochrechenbare Umsatzbringer und Kostenfaktor.
Wir Marktforscher wären mutiger bei der Entwicklung von Karstadt, wir würden die Menschen als Kunden und Mitarbeiter einbeziehen, weil wir wissen, dass es funktioniert. Es gab sie in der Vergangenheit und auch heute, die wenigen Ausnahmen, bei denen ein Marktforscher sehr nah am oder im Vorstand saß. Nicht nur Hans-Willi Schroiff fällt mir da ein, auch bei Beiersdorf gibt es einige marktforschungsaffine Vorstände. Aber noch keinen CEO.
Gut, wir sollten Miguel Müllenbach eine Chance geben. Aber er sollte mit unserer Hilfe jetzt etwas Entscheidendes anders machen - die Menschen da draußen ins Zentrum seiner Überlegungen stellen. Also, nicht irgendwann und nachher eine Studie hinterherschieben. Sondern jetzt, gleich von Anfang an einbeziehen. Manche nennen es Co-Creation oder Design Thinking. Ich nenne es: "Zuhören und gemeinsame Sache machen". Mitgestaltung und Partizipation sind die neuen Werte. Hört zu, arbeitet gemeinsam an neuen Konzepten und Ideen. Ich habe das vor drei Jahren für ein eCommerce Start Up gemacht. Das Unternehmen ist heute eine Genossenschaft, erlöst mehr Umsatz über eigene stationäre Geschäfte, weil sie damals gelernt haben, dass Inszenierung Wirklichkeit braucht. Bei Karstadt wird es andersherum sein. Wir helfen gerne.
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mvw
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