Florian Klaus vs. Jens Lönneker Kann die Tiefenpsychologie Verhalten erklären oder inspiriert sie nur?

Über den Wert der Tiefenpsychologie lässt sich nicht nur in der Marktforschung trefflich streiten. Bietet sie tatsächlich Erklärungswert oder dient sie vor allem der Inspiration von Marketingleuten? Die Psychologen Florian Klaus von K&A BrandResearch und Jens Lönneker vom Rheingold Salon diskutieren die These: "Abgesehen von ihrer Inspiratoren-Rolle bietet die Tiefenpsychologie keine tatsächlichen Erklärungen für das Verhalten von Menschen."

Florian Klaus, K&A BrandResearch AG  

Disclaimer: Der Autor ist von der hier verhandelten Frage persönlich betroffen. Als Diplom-Psychologe leitet er die Qualitative Forschung bei K&A BrandResearch. K&A betreibt keine eigene Akademie, sondern orientiert sich am Fortschritt der Wissenschaft in Psychologie und Marketing (Kahneman, Thaler, Sharp, Chater, Sommers, Ritson u.a.), rekrutiert aktuell ausgebildete Talente, begleitet Master-Arbeiten und Promotionen und berät Markenartikler Kontext-basiert. Und dann ist da die Tiefenpsychologie… 

„Es droht […] ein Verschwinden der Psychoanalyse als bedeutsames Kulturgut.“ So klingt die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie im Jahr 2020. Fast zeitgleich fordert eine tiefenpsychologische Lobby, die Neubesetzung eines Lehrstuhls in Frankfurt am Main explizit 'nicht verfahrensoffen' auszuschreiben, sondern auf eine/n Tiefenpsychologen/in zu verengen, um ihre Ablösung im akademischen Wettbewerb zu verhindern. Man kann das mit Fug und Recht als letzte Rückzugsgefechte bezeichnen. Unter 61 Lehrstühlen für klinische Psychologie in Deutschland ist heute nur noch einer tiefenpsychologisch orientiert. 

Die Psychologie hat die Tiefenpsychologie mit ihrem Glauben an einen geheimnisvollen, archaischen Maschinenraum unsere Psyche erfolgreich abgeschüttelt und durch evidenzbasierte Wissenschaft ersetzt. Geschadet hat ihr das nicht. Was ihren Nutzen für Marketing angeht, ist klar das Gegenteil der Fall. Prominentestes Beispiel bleibt Daniel Kahneman, der seit 2002 als erster Psychologe überhaupt einen Wirtschaftsnobelpreis trägt. Dass Tiefenpsychologen nun ausgerechnet sein 'System 1' als Beweis für das eigene Weltbild heranziehen, hat seine ganz eigene Komik. 

Szenenwechsel. In der deutschsprachigen Marktforschung herrscht eine sonderbar verkehrte Welt. 

Selbst gestandene Senior Marketer setzen Psychologie regelmäßig mit Tiefenpsychologie gleich, wundern sich über schräge Insights oder haben qualitative Forschung als Esoterik ad acta gelegt.  

Kein Wunder, wenn man darunter maximal sperrige Wortschöpfungen, erotisch angehauchtes Philosophieren und derart großzügige Ableitungen kennenlernen musste, dass sie auch völlig gegensätzliche Entscheidungen rechtfertigen könnten.  

In der Psychotherapie ist der Druck frischer Uni-Abgänger heute nicht mehr zu ignorieren. Dieser Wandel steht in der Marktforschung noch aus. Und noch etwas lässt sich aus der Therapie lernen. Problematisches Verhalten hält sich länger, wenn es einen Sekundärgewinn verspricht. Wer kränkelt, bekommt Zuwendung. Und wer besonders geheimnisvolle Erklärungen für sein Business hat, kann kein oberflächlicher Verkäufer sein.  

Die Tiefenpsychologie profitiert von einer Sinnkrise im Marketing, wenn sie aufgeregt Sinn (er)findet. 

Dabei gibt es nichts, wofür sich Marketing schämen müsste. Auch für ein veraltetes Bild von Psychologie nicht. Wer aber noch an verdrängte Konflikte und unbewusste Triebe denkt, sich ein kleines bisschen wundern musste über die Gleichzeitigkeit von Behavioral Economics und Marktforschung ‚auf der Couch‘, wer einen nagenden Zweifel spürt, wenn Minisalami mit einem tiefen Bedürfnis nach erektiler Spannkraft verbunden wird, die/der sei herzlich eingeladen: Statt dem eigenen Bauchgefühl oder ganzheitlichen Tiefenbohrern zu lauschen, tauchen Sie beim nächsten Research einfach mit neugierigen Verhaltenswissenschaftlern in den Alltag Ihrer Zielgruppen ein. Follow the science! Sie wissen schon.

Jens Lönneker, Rheingold Salon 

Der Ziemlich beste Feind - Warum die Tiefenpsychologie so positiv herausfordert!

Wer sein Mütchen als Sozialwissenschaftler ein wenig kühlen möchte, schlägt gerne im Namen der Wissenschaft bei Gelegenheit auf die Tiefenpsychologie ein und behauptet, sie sei überholt und widerlegt. Die Tiefenpsychologie ist ein bevorzugter Feind des akademischen Establishments. Das geht jetzt schon über 100 Jahre so. Dennoch ist sie immer noch da und entwickelt sich weiter. Ihr großes Können ist nicht zuletzt in der Psychotherapie durch empirische Studien immer wieder nachgewiesen worden. Und im Bereich von Marktforschung und Marketing stehen renommierte Agenturen wie das Dichter-Institut oder der Rheingold Salon für das große Erklärungspotential, welches tiefenpsychologische Forschung entwickelt. Tiefenpsychologie polarisiert – aber wie lässt sich das erklären? 

Tiefenpsychologie kommt aus der Praxis. Sie steht daher in ihren Wurzeln traditionell in Konkurrenz zum klassischen akademischen Betrieb.

Die Theoriebildung und Weiterentwicklung der Tiefenpsychologie wurzeln in ihrer starken therapeutischen und forscherischen Praxis. Diese Praxis-Erfahrungen zeigen, dass Verhalten oft von nicht rationalen Beweggründen beeinflusst wird, die zudem nicht immer in vollem Ausmaß bewusst werden. Anders in der akademischen Forschung: Sie steht überwiegend in einer Tradition der Aufklärung mit der Suche nach einer Vernunft und Logik in den Phänomenen, die das „Irrationale“ gerade überwinden möchte. Die akademische Psychologie hat daher immer eine Neigung, tiefenpsychologische Erklärungen für menschliches Verhalten abzulehnen. Die universitären Auffassungen sind dabei allerdings oft widersprüchlich: Während die Neurowissenschaftler heute überwiegend die Auffassung von unbewussten Einflussgrößen auf menschliches Verhalten teilen, stellen Behavioral Scientists diese wiederum in Frage. 

Tiefenpsychologie kann etwas, was Mainstream-Wissenschaft nicht kann.

Tiefenpsychologische Theorien gehen davon aus, dass psychische Phänomene hoch verdichtet sind – im Fachjargon: „überdeterminiert“.  

Tiefenpsychologen picken sich daher nicht einzelne Verhaltensaspekte wie etwa „Preisakzeptanz“ oder „Einstellungen“ isoliert heraus, sondern machen sich die Mühe, die psychischen Phänomene in ihrer Ganzheitlichkeit und Komplexität zu beschreiben und zu erfassen.  

Dadurch werden ihre Erklärungen im Vergleich mit anderen Vorgehensweisen oft als reichhaltiger und komplexer erlebt. Sie liefern „tatsächliche“, komplexere Erklärungen und nicht nur Befunde für fokussierte Teilbereiche oder Ausschnitte. Und genau das macht Tiefenpsychologie so „inspirierend“. Selbst ihre größten Kritiker – ob Behavioral Scientists oder der berühmte Wissenschaftstheoretiker Sir Karl Popper – haben ihr diese Qualität attestiert.  

Dieses Können schafft Neid bei nicht wenigen Nicht-Tiefenpsychologen, die sich im Vergleich mit ihren Erklärungen oft als „trockener“ und „begrenzter“ erleben.  

Deren aktuelle Kritik zeigt so letztlich nur, wie lebendig und relevant Tiefenpsychologie heute ist. Als „Ziemlich bester Feind“ fordert die Tiefenpsychologie die etablierte universitäre Wissenschaft so immer wieder heraus – und umgekehrt. Wer weiß, vielleicht werden beide ja sogar irgendwann wie in dem berühmten Film gleichen Namens „Ziemlich beste Freunde“. „Guess“ welcher Part in dieser Freundschaft dann von der Tiefenpsychologie übernommen wird?!

Über die Autoren

Florian Klaus ist Director BrandPsychology und Mitglied der Geschäftsleitung bei K&A BrandResearch. Neben der strategischen Markenberatung verantwortet er die markenpsychologische Forschung, Methodenentwicklung und die Weiterentwicklung des K&A Psychodrama-Ansatzes.

Jens Lönneker ist Tiefenpsychologe mit dem Schwerpunkt Markt-, Medien und Kulturforschung. Er forscht und berät national wie international in den Bereichen Grundlagenforschung, Produkt- und Markenentwicklung und Kommunikationsstrategien. Er ist Präsident der Gesellschaft zur Erforschung des Markenwesens e.V. (G·E·M) und einer der Gründer der rheingold Gruppe. Zusammen mit seiner Frau Ines Imdahl gründete er 2010 den rheingold salon. 

 

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  1. Rolf Kirchmair am 08.09.2021
    Vorweg: Qualitative Forschung darf nicht nur Inspirationen liefern, sondern muss Verhalten erklären können! Ich halte es aber für nicht angemessen, wenn man sich dabei nur auf eine bestimmte psychologische Grundrichtung bezieht und andere Erkenntnisse negiert. Menschliches Verhalten ist nun einmal komplex und in der Regel nicht einfach erklärbar. Ich war 20 Jahre lang Mitglied der Geschäftsführung des im Artikel erwähnten Ernest Dichter Instituts. Dieses Institut hatte zwar tiefenpsychologische Wurzeln, hat aber immer versucht, spezifische zum jeweiligen Thema passende wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Erklärung von Verhalten zu berücksichtigen – ganz gleich, ob sie aus der tiefenpsychologischen oder aus der verhaltenswissenschaftlichen Ecke kamen. Der hier vorliegende Diskurs ist zwar aufschlussreich, um unterschiedliche Standpunkte zu verdeutlichen. In der praktischen qualitativen Marktforschung ist aber eine integrative Sichtweise bei der Erklärung von Verbraucherverhalten meist sinnvoller.
    Rolf Kirchmair

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