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Stephan Teuber, GIM Kaninchen oder Schlange? – Wie viel Selbstbewusstsein hat unsere Branche eigentlich?

Die Schlange: Her mit den Werbern!
Im vergangenen Jahr wurde mir das unzweifelhafte Vergnügen zuteil, zwei Konferenzen unserer Branche zu besuchen. Im Juni ging es zunächst nach Berlin: Jahreskongress des BVM. Eröffnet wurde eines der zentralen Events der hiesigen Branche mit der Keynote eines: Werbers. Nun ist es kein allzu großes Geheimnis, dass Werbung und Marktforschung beinahe notorisch in einem kritischen Verhältnis zueinanderstehen (müssen). Doch was der Referent, der in seiner Zunft vermeintlichen Legendenstatus genießt, zum Kongress-warm-up in den gebannten Saal ventilierte, hatte mit konstruktiver Kritik in etwa so viel zu tun wie Beethovens Neunte mit AC/DC's Back in Black: genüsslich dozierte er über sinnlose Forschungsmethoden, darüber, dass wir Studienteilnehmern in Fokusgruppen die Worte in den Mund legten. Und überhaupt, dass man echte Reaktionen auf Werbung gar nicht erheben könne. Forschung generiere vielmehr bei Probanden Reaktionen, die durch ihren einseitigen Fokus auf Rationalität und Reflexivität keinen Bezug zur Realität hätten. Die Konsequenz: er verzichte lieber ganz auf Forschung. Oder, wenn er sie denn im Notfall zur Beruhigung seiner Kunden brauche, erledige er sie in der DIY-Variante nebenher.
Das Kaninchen: Ja nicht rühren!
Was an dem Komplettverriss von Holger Jung bemerkenswert war? Eher nicht, dass er so denkt. Auch nicht, dass er seine Argumentation rhetorisch mit Tools der Ironisierung und Verunglimpfung zusammenzimmerte. Kann man ja mal machen in einer Keynote. Nein, staunen musste ich vielmehr darüber, dass es null Widerspruch gab. Niemand rührte sich (außer einem Ironiker, der "Vielen Dank für die Watsche" rief). Die versammelte Forschergemeinschaft erstarrte angesichts der Vorwürfe der Werber-Eminenz wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Und ebendiese hatte gerade nichts weniger getan, als der Zunft ihre Bedeutungslosigkeit um die Ohren zu hauen (abgesehen von einer – dito: rein rhetorischen – Versöhnungsgeste des Referenten zum Finale). Konnte man sich ex ante noch fragen, warum ein Professionsverächter überhaupt den Kongress eröffnete, so war nunmehr ex post erschütternd, wie passiv das Publikum – auch der Autor dieser Zeilen – diesen Frontalangriff über sich ergehen ließ. Und schlimmer: war da am Ende nicht sogar ein unbehagliches Zwicken tief drinnen zu spüren: eine Prise Zustimmung?
Die Innovatoren: Gekonnt ausgespielt!
Andere Bühne, ähnliches Szenario: bei der diesjährigen GOR in Köln trafen sich auf dem Podium zwei Fraktionen zum Showdown: Vertreter des vermeintlich "Neuen" (Big Data, Behavioral, Startup) und, was würde dramaturgisch sonst Sinn machen, Vertreter des vermeintlich "Alten" (Forschung und Erkenntnis). Auch hier war mit Händen zu greifen, wie sehr sich die "klassische Forschung" in die Enge gedrängt fühlte. Und wie robust andererseits die Rhetorik der selbsternannten Innovationstreiber den Diskurs bestimmte. Ob das Alte tatsächlich durch das Neue ersetzt werden kann: hierfür blieb die Sturm-und-Drang Fraktion aber jeglichen (!) Beleg schuldig. Gleichwohl gelang ihr das Kunststück, die beiden grundlegenden Zugänge der Empirie – die Befragung und die Beobachtung – gegeneinander auszuspielen. Entsprechend mitfühlend ertappte ich mich, als der Moderator schließlich seine gleichermaßen verzweifelte wie zwangsläufige Frage an Podium und Publikum adressierte: Braucht’s künftig dann überhaupt noch die Befragung als Methode? Spätestens jetzt, im schönen Köln, fragte ich mich: wie selbstbewusst unsere Branche eigentlich noch ist? Zwei Erklärungsmuster:
Die selbstgebaute Falle: Forschung als zyklische Modenschau
Der erste Grund ist hausgemacht: kurzfristige Forschungsmoden! Stets herrschen bestimmte Paradigmen, die sich im Laufe der Zeit gegenseitig abwechseln. Was heute hip ist, gilt morgen als gestrig, nur um übermorgen wieder hip zu sein. So stand noch eben die Befragung im Zentrum, und wurde dann über den "Psychological Turn" zum Tiefeninterview ausgebaut. Mit dem "Ethnographic Turn" bekam wiederum die Beobachtung methodischen Rückenwind, freilich stets eingebettet in das Kulturverständnis. Und wie's der forscherische Zeitgeist so will, wurde die Beobachtung dann über ein völlig einseitiges Verständnis der Behavioral Economics als bloße System-1-Verhaltensökonomie auf eine formale Methode reduziert, in der Verhaltensregelmäßigkeiten zum primären Erkenntnisinteresse und -ziel wurden (ungeachtet ihrer sinnhaften Bedeutungen). Fortan zählten System 1, sogenannte limbische Zusammenhänge und Verhaltensreflexe, mehr als das Verstehen von sinnhaftem Handeln. Durchatmen! Heißt: unsere Branche selbst hat das ganzheitliche Verständnis von Konsumenten darauf reduziert, bloße Verhaltensmuster aufzuzeichnen (quasi als algorithmische Registrierung). Wer aber selbst nicht mehr an die eigene Überzeugung glaubt, dass Menschen eben kommunikative und durchaus denkende und sprechende Wesen sind, der muss mit der logischen Konsequenz leben, dass diskursive Forschung für obsolet erklärt wird.
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Der zweite Grund ist nahtlos anschlussfähig an die eigenen Selbstzweifel: der "digital shift" ermöglicht es, Verhalten praktisch lückenlos zu beobachten – heute primär noch hinsichtlich unseres Online-Verhaltens (noch!). Niemand versteht dieses Geschäft so gut wie die Tech-Industrie. Sie hat die hierfür nötigen technischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Ressourcen. Big Data stößt die Tür auf zur Hegemonie im Bereich beobachtender "Forschung". Hier kommt es indes nicht mehr darauf an, Handeln zu verstehen, sondern darauf, dass Algorithmen kalkulierbar funktionieren, das heißt, dass sie auf Basis bestehenden Verhaltens künftiges vorhersagen. Zwar könnte man nun einwenden, das greife zu kurz, da es im Marketing ja stets darum gehe, Einstellungsänderungen zu bewirken und gerade nicht darum, Gewohnheiten zu perpetuieren. Doch dadurch, dass sich hier häufig Forschung und CRM vermischen und Beobachtungsergebnisse direkt in Marktangebote übersetzt werden, entsteht eine Self Fulfilling Prophecy: die Beobachtungsergebnisse werden direkt zu Handlungsnormen und schaffen dadurch Anreize, das Verhalten zu verstetigen. Nun, die Blasenbildung im Internet ist ja auch in anderen Zusammenhängen berüchtigt…
Das Paradigma: Die Renaissance des Menschen als Subjekt
Was heißt das für uns Marktforscher? Wir haben durch eine einseitige Akzentverschiebung Akteuren eine Steilvorlage gegeben, die diese dankend angenommen haben. Und dadurch haben wir uns in eine Lage manövriert, die für einen Paradigmenwandel nicht untypisch ist: es ändern sich nicht nur die Inhalte, sondern auch die Player. In den Ring gestiegen sind neue Mitspieler, vor denen die Marktforschung entweder in Ehrfurcht erstarrt oder denen sie hinterherzulaufen versucht (dies freilich mit weitaus beschränkteren Mitteln als etwa jene Tech-Giganten, die nun zunehmend den Ton angeben möchten). Zeit, um die Ausgangsfrage zu beantworten: wie viel Selbstbewusstsein haben wir noch? Ist es wirklich unausweichlich, die Deutungshoheit abzugeben? Nein, ist es nicht, es gibt dafür keinen Grund! Die Vereinseitigung der "neuen" Perspektive, der Verzicht auf die Bedeutungsebene von Handeln, dessen Reduktion auf algorithmisierbare Regelmäßigkeiten, die Aufgabe einer ganzheitlichen Perspektive sowie die prinzipielle Rückwärtsgewandtheit dieser Perspektive sollten uns im Gegenteil allen Grund geben, mit allerbreitester Brust ein Forschungsparadigma zu vertreten, welches solche Einseitigkeiten längst überwunden hat. Weil es von einem vielschichtigen Menschenbild ausgeht, in dem Denken und Fühlen, Verhalten und Handeln, Pragmatik und Semantik ihren selbstverständlichen Platz hat. Heißt: ein Menschenbild, das den Menschen nicht als Objekt, sondern als ein Forschungssubjekt versteht. Wer dieses Paradigma lebt und selbstbewusst verteidigt, sollte nicht mehr in Ehrfurcht erstarren. Weder vor neuen noch vor alten Schlangen.
zur Person
Stephan Teuber ist seit 1996 Geschäftsführer der GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung. Er studierte Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaften in München, Sussex und Heidelberg, wo er vor seinem Einstieg bei der GIM am Soziologischen Institut in Forschung und Lehre tätig war.
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

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