Strategien der Pharmabranche und Implikationen für die Pharma-Marktforschung 2013 Jammern nützt nichts mehr – Patientennutzen-orientiert denken!

Ulrike Dulinski (IFAK)

Von Dr. phil. Ulrike Dulinski, Leiterin IFAK Health & Pharma

Die Branche tut sich nach wie vor schwer damit, von der einträglichen Blockbuster-Ära Abschied zu nehmen. Doch die Zeiten, in denen mit nur einem Präparat Traumumsätze erzielt wurden, sind lange vorbei. Solche Erfolgsgeschichten wird es – wenn überhaupt – nur noch sehr vereinzelt geben und das Risiko, sich hiervon abhängig zu machen, ist heute viel zu hoch. Doch in welche Richtung werden sich Markt und Forschung entwickeln?

In den großzügigen Tagungsräumlichkeiten des Frankfurt Hilton Hotels versammelten sich am 20./21.2.2013 die Führungskräfte der Pharmaindustrie auf der 18. Pharma Handelsblatt-Tagung, um über strategische Ausrichtungen und tragfähige Geschäftsmodelle in der Branche zu diskutieren. Während nach wie vor die klassischen und offensichtlichen Strategien (z.B. (Angebots-)Diversifizierung und Globalisierung/Marktausweitung) verbreitet sind, wurde deutlich, dass auch andere, speziellere Geschäftsmodelle ernsthaft verfolgt werden. Hierzu zählen insbesondere:

  • Die Suche nach „Niche-Bustern“ und Fokussierung auf spezielle Indikationen: z.B. Novo Nordisk (Diabetes) oder Gilead (Viruskrankheiten); hierzu zählen aber auch die „Orphan Drugs“, also Medikamente für seltene Erkrankungen (Alexion Pharmaceuticals).
  • Die Fokussierung auf die sog. „personalisierte Medizin“: Dieser Zweig versucht (genetisch bedingte) Merkmale von spezifischen Patientengruppen herauszufiltern („Stratifying“), um die besten Angriffspunkte für Medikamente und sog. Biomarker zu identifizieren. Denn bestimmte genetische Mutationen/Konstellationen haben nachweislich eine hohe Vorhersagekraft für das Ansprechen von Therapien und beeinflussen auch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Nebenwirkungen. Entgegen anderslautender Einschätzungen steckt dieser Bereich längst nicht mehr in den Kinderschuhen: Im Januar 2013 gab es bereits 27 zugelassene Therapieoptionen, die einen (i.d.R. verpflichtenden) genetischen Vortest bei Patienten vorsehen, bevor das Arzneimittel überhaupt zum Einsatz kommt. Davon entfallen alleine 20 in die Onkologie, weitere sieben werden in den Bereichen Epilepsie, HIV, Immunologie und Stoffwechsel eingesetzt [Quelle: vfa].

Egal, welchen Weg man einschlägt, für alle Strategien gilt: Die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland – einem der nach wie vor wichtigsten Absatzmärkte in Europa – sind mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) von 2011 gerade in der Phase der Markteinführung extrem eng geworden. Die Preis- und Produktpolitik eines neuen Präparates hängt nun von der Einstufung des G-BA und des IQWIG (zukünftig auch mehr in Absprache mit den Zulassungsbehörden PEI und BfArM) ab, die das Präparat in Relation zu einer als adäquat definierten Vergleichs- bzw. Standardtherapie in dem jeweiligen Indikationsbereich bewerten. Die Bewertung erfolgt auf Basis eines von der Industrie einzureichenden „Nutzendossiers“.

Als Folge dieser veränderten Rahmenbedingungen hat in der Branche ein echter Paradigmenwechsel eingesetzt. Denn während alle anderen regulatorischen Gesetzgebungsverfahren (seit 2000) nur vorrangig das Ziel der Kostendämpfung verfolgten, rückt mit dem AMNOG stärker der Patientennutzen in den Fokus. Neben den klassischen klinischen Endpunkten wie Verminderung von Mortalität, Morbidität und Nebenwirkungen gewinnen andere Faktoren wie Lebens-, Anwendungs- und Versorgungsqualität sowie der gesellschaftliche Nutzen von Therapien zunehmend an Bedeutung. Es geht weniger um Inputs, sondern mehr um (patient) outcomes!

Für forschende Hersteller, die Präparate entwickeln und erfolgreich in den Markt bringen möchten, können – im Hinblick auf AMNOG – zwei Trends beobachtet werden:

  • Re-Fokussierung auf F&E-Aktivitäten
  • „Verwissenschaftlichung“ des Marketings im Sinne eines nutzenfokussierten „Evidence Based Marketings“

Da Forschung extrem teuer ist und das unternehmerische Risiko des Einzelnen in dieser veränderten Marktsituation immer größer wird, gehört die Zukunft den großen Forschungskooperationen, multidimensionalen R&D-Netzwerken und strategischen Forschungsallianzen (Beispiele: Covance oder TransCelerate BioPharma Inc., mit 10 Unternehmen die bisher größte Initiative dieser Art zur Beschleunigung und Entwicklung neuer Medikamente).

Die Umorientierung auf ein nutzenfokussiertes Evidence Based Marketing wird die größten Anstrengungen kosten. Bislang existierten mit der Welt der Klinischen Forschung und der Welt des Marketings zwei völlig unterschiedliche Planeten innerhalb der Sonnensysteme pharmazeutischer Unternehmen. Dies hat in der Vergangenheit durchaus auch zu einem Image- und Glaubwürdigkeitsverlust der Branche geführt. Eine wenig differenzierte Massenkommunikation und große Außendienste, deren Aufgabe das Herantragen einfacher, plakativer Botschaften an eine zersplitterte Zielgruppe ist, werden als herkömmliche Ansätze den Herausforderungen des EB-Marketings nicht mehr gerecht.

EB-Marketing 2013 gestaltet sich als grundlegend neue unternehmensphilosophische Ausrichtung, die von der Vernetzung und Verzahnung ehemals strikt getrennter Bereiche profitieren wird. (Wissenschaftlicher) Außendienst, MedWiss-Abteilungen, Controlling, Market Access und Krankenkassenvertrieb, Rechtsabteilung sowie Produktmanagement und Patientenkommunikation: Die Vorbereitung und Umsetzung der Nutzenargumentation sollte mit allen beteiligten Funktionen breit abgestimmt werden. Die Koordination der Aktivitäten wird damit zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Training und Qualifizierung sowie ein transparenter Umgang mit der Nutzenbewertung im Kontext der Studienlage und des Dossiers, aber auch der Behandlungsrealität gewinnen zunehmend an Bedeutung. Inhaltlich wird eine nutzenbasierte Argumentation für die Behandlung konkreter Patienten wichtiger als plakative Marketingbotschaften im Wettbewerb um Verordnungen.

Der Arzt bleibt Hauptadressat des Vertriebs, aber Themen und Inhalte ändern sich: Im Fokus steht die Behandlung, eine nutzenkonforme Anwendung und zentrale Nutzenargumente (statt Produktfixierung, Produktbotschaften (Slogans) und vorgeschriebener Gebrauch). Dienstleister im Vertriebsbereich (z. B. Marvecs) sprechen daher schon länger vom „Vertrieb 3.0 = health outcomes“ (nach 1.0 = blockbuster drugs und 2.0 = diversified drugs portfolio).

Auf einer anderen Ebene hat die Hinwendung zum Patientennutzen bei einigen Herstellern bereits durch sog. „Beyond-the-pill“-Aktivitäten und Services stattgefunden. Die Ausgestaltung und Umsetzungstiefe schwankt jedoch stark und reicht von ganzheitlichen Ansätzen wie z. B. der 360°-Betreuung von Dialyse-Patienten bei Fresenius Medical Care bis hin zu vereinzelten Patienten-Feedback-Programmen. Compliance-/Adhärenz-Förderung ist im Zusammenhang von Patientennutzen und gesellschaftlichem Nutzen ein topaktuelles Thema: Durch mangelnde Therapietreue und verzögerten Therapiebeginn entstehen vermeidbare Kosten in Milliardenhöhe.  Allein durch Missmanagement von Polymedikation könnten 300.000 Krankenhauseinweisungen pro Jahr vermieden werden; 90% der Einweisungen von Asthmapatienten wären bei korrekter Anwendung von inhalativen Arzneimitteln vermeidbar [Quelle: IMS]. Eine nachhaltige Verhaltensänderung sollte daher das Ziel sein.

Der MS-Spezialist Biogen Idec GmbH beispielsweise versucht in diesem Kontext Betroffene über ein individualisiertes Begleitprogramm in ihrer Therapie zu unterstützen. Denn schließlich verbringt der Patient laut Biogen pro Jahr nur ca. 4 Std. mit dem Arzt, wohingegen er zusammengerechnet 8.756 Stunden quasi allein mit der Erkrankung leben muss. In Ergänzung zu den bestehenden Angeboten wie Betroffenen-Center, MS-Schwestern-Netz, mobilem Therapie-Monitoring und MS Community Plattform sollen künftig individuelle Patientenprofile erfasst werden. Mittels Segmentierung könnte dann eine individuelle Anpassung des Begleitprogramms erzielt werden.

Was heißt das nun alles für die Pharma-Marktforschung? Welche Anforderungen werden zukünftig an unsere Branche gestellt? Das neue Leitmotiv „Patientennutzen“ erfordert in erster Linie eine stärkere Fokussierung auf die Patientenforschung. Es gilt, Alltags- und Lebenswelt der Patienten mit qualitativen wie quantitativen Methoden holistisch abzubilden und Insights zu Nutzen und Lebensqualität zu gewinnen. Hieraus ergeben sich eine Reihe weiterer Implikationen und Anforderungen:

  • Strategiebegleitende Evaluierung von Patientenprogrammen, Einstellungserfassung, Segmentierungen
  • Profunde Kenntnis der Nutzenbewertung von pharmazeutischen Produkten
  • Einbindung der Ärzte bei der Definition von „Nutzen“: Was wissen die Ärzte eigentlich über das Nutzenbewertungsverfahren? Wo sehen Sie einen medical need? Wie beurteilen Sie den „Patientennutzen“ bei verschiedenen Therapieoptionen?
  • Unterstützung beim Datenmanagement zur Arzt-Patienten-Kommunikation und bei der Verwaltung von Patientendaten: Kombination von body information (molekulare Zustandsdaten) + Therapie- und sonstige Patienten-Informationen (elektronische Patientenakte) + selbstbeobachtete und mobil registrierte (Mafo-)Daten
  • Sog. Real-World-Evidence-Daten sammeln, erheben und auswerten; sie werden immer wertvoller – Kooperationen zwischen Industrie, Akademischer Forschung und Dienstleistern zur Erhebung und Analyse dieser Daten sind erfolgsversprechend. Das würde bedeuten, dass es zu einem Dialog zwischen den bislang getrennten Welten der Klinischen Forschung und der Marktforschung kommen sollte.
  • Veränderung und Anpassung klassischer Vertriebs-Marktforschungstools an das Evidence Based Marketing (Call after visits, Gesprächslabore, (Nutzen-)Claim-Trackings)

Und nicht zuletzt erfordert die personalisierte Medizin von der Marktforschung den Zugang und die Kenntnis einer spezifischen Subgruppe der Health Care Professionals, nämlich den Pathologen und Labordiagnostikern. Sie werden als Ansprechpartner zunehmend wichtig, und gute Kontakte zu dieser Gruppe sind vorteilhaft.

Zentrale Erkenntnis für unsere Branche aber bleibt: Der Patient rückt in den Fokus der Pharmabranche – die Marktforschung ist nun gefragt, ihn und seinen Alltag stärker zu durchleuchten.

 

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