Eva Caspary & Jeanne Carré, Insight Culture Ist es möglich, Gemüse zu Rockstars zu machen?

51 Grad Hitze, sechs Stunden jeden Tag, Marktforschung zwischen offenem Feuer, heißem Öl und blitzenden Messern. Jeanne Carré, Gründerin der Frankfurter Agentur Insight Culture, hat sich der Realität in der Marktforschung verschrieben. "Ich forsche am liebsten da, wo das echte Leben der Kunden pulsiert", sagt die Kulturanthropologin. "Wenn ich so arbeite, schaue ich in kein Gehirn, ich mache keine Umfrage, ich beobachte Menschen in ihrer Realität. Mit allen Sinnen."
Für den französischen B2B-Hersteller Bonduelle Food Service (BFS) ist diese Realität die Gastro-Küche. Genau hier wollte das Unternehmen einen radikalen Perspektivenwechsel vollziehen - weg von Product-centricity hin zu User-centricity - und so den Schlüssel zu neuem Wachstum auf dem Gemüsemarkt finden.
Und in der Tat sah die Realität in der Küche ganz anders aus als bisher gedacht:
- Gemüse ist kompliziert: In Gesprächen unterstreichen Köchinnen und Köche zwar vehement, wie bedeutend frisches Gemüse für ihre Küche sei, in der Praxis aber kommt es wenig zum Einsatz: zu teuer und kompliziert im Einkauf, zu zeitaufwändig in der Zubereitung, zu anspruchsvoll in der Lagerung, zu viel Abfall.
- Gemüse ist uncool: Große Leidenschaft und hohe Wertschätzung zeigen Köche für Fleisch in allen Variationen - es steht offenbar für hohe Expertise und "männliche" Werte. Mit Gemüse dagegen verbinden sie eher negative Assoziationen: wenig Geschmack, wenig Gehalt, wenig Sättigung.
Dass sich zwischen Diskurs und gelebter Praxis ein tiefes Gap auftut, wusste schon die US-amerikanische Pionierin der Kulturanthropologie, Margaret Mead (1901 bis 1987):
"What people say, what people do, and what they say they do are entirely different things."
Ein solches Gap zwischen Diskurs und gelebter Praxis taucht sowohl bei den Köchen auf als auch bei Verbrauchern: So gilt vegetarische oder vegane Ernährung mit viel Gemüse zwar als Trend - tatsächlich aber wird weniger als die Hälfte der pro Tag empfohlenen Menge gegessen: nur rund 200 Gramm. Und obwohl immer mehr Restaurants für frische, gesunde Küche stehen wollen, werden von der ohnehin nur sehr geringen Menge Gemüse lediglich 10 Prozent außer Haus verzehrt: in Restaurants, Hotels und Kantinen.
Fakt ist: Karotte, Brokkoli und Pastinake spielen auf den Tellern der Gastronomie höchstens die fade Nebenrolle. So stellte sich die Frage: Ist es möglich, Gemüse zu Rockstars zu machen? Und wenn ja: Wie?
Die Methode: Ethnographie
Eine der wichtigsten Forschungsmethoden der Kulturanthropologie ist die Ethnographie - sie beschreibt (graphe), was Menschen tun (ethnos) im Hinblick auf ihre materiale, soziale und mentale Welt.
Im ersten Schritt geht es um das objektive Wahrnehmen des "Was?" und "Wie?": Jeanne Carré und ihr Team beobachten, was Küchenchefs konkret mit unterschiedlichen Gemüsesorten tun. Welches Produkt wählen sie für welches Ziel? Welche Technologie setzen sie jeweils ein? Welche Werkzeuge benutzen Sie für ihre Arbeit?
Im zweiten Schritt steht das "Warum?" im Mittelpunkt - die subjektive Bedeutung der spezifischen Kultur, die jede Köchin und jeder Koch in der Küche lebt. In der Interaktion und mit einem hohen Maß an Empathie können nun die Werte, Normen und Vorstellungen, außerdem die Gefühle, Wünsche, Ideen und Handlungen der Akteure tiefgehend verstanden werden.
Methodologisch handelt es sich hier um induktives Verfahren: aus beobachteten Phänomenen werden in einer sowohl auf Empathie basierenden, als auch systematischen und (selbst-)reflexiven Praxis abstrahierende Schlüsse auf eine allgemeinere Erkenntnis gezogen. Diese Methode verlangt, sich auf das Unbekannte, das Fremde einzulassen und das Anderssein zu explorieren. Sie braucht Erfahrung, (Selbst-)Disziplin, (Selbst-)Reflexion, eine offene Haltung und Geduld - denn nur so offenbart sich das, was "da draußen" der Fall ist. Wer zu schnell Schlüsse zieht, bestätigt nur die in seinem Kopf schon vorhandenen Kategorien.
Insgesamt 120 ethnographische Beobachtungen führten wir dafür durch, in sieben europäischen Ländern (Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, Holland, Belgien und Polen) und dort jeweils in drei Restaurant-Segmenten: traditionelle Restaurants, Hotels und Catering. Neben dem Gap zwischen dem, was Köche über ihre Arbeit mit Gemüse sagen und dem, was sie tatsächlich tun, deckte Carrés Team einen weiteren wichtigen Punkt auf:
- Im Mittelpunkt der Arbeit am Herd steht die kreative Selbstverwirklichung des Kochs: "rohe" Zutaten werden transformiert in köstliche Gerichte. Je aufwändiger die Transformation von Natur zu Kultur, desto höher die Wertschätzung seiner Arbeit.
- Das ist der Grund, warum Convenience-Gemüse in der Gastronomie vielerorts als geradezu tabu gilt: industriell bearbeitetes Gemüse kann, so die in vielen Gastro-Küchen verbreitete Vorstellung, das Können eines Kochs abwerten.
- Aufgrund der zahlreichen Möglichkeiten der Transformation" hat Gemüse aber genauso das Potential, auf dem Teller sehr viel mehr darzustellen als nur eine Nebenrolle. Mit seinen außerordentlich variantenreichen Texturen, mit seinen frischen Farben und vielfältigen Geschmacksrichtungen kann Gemüse das Können des Kochs durchaus aufwerten.
Gemüse rockt! Doch um das zu verstehen, müssen Köche das Gemüse gewissermaßen aus der gedanklichen Dose befreien. Nur: Wie?
Die Ergebnisse: Neue Rollen und Personas
Jeanne Carré führte an diesem Punkt ihrer Forschung das sozialwissenschaftliche Konzept der "Rolle" ein. Rollen können aus einer rationalen und aus einer emotionalen Perspektive charakterisiert werden. Das überraschende Moment für Bonduelle: dieses Konzept bezog Jeanne Carré auf, ja: Gemüse.
Hauptrollen für Gemüse!
So kann Gemüse für "Authentizität" stehen: etwa, indem es den lokalen Bezug eines Restaurants unterstreicht oder eine bestimmte Tradition, es kann für "Festlichkeit" stehen oder für "Gesundheit". Sobald ein bestimmtes Gemüse eine Rolle spielt - die authentische Aubergine, der festliche Spargel, der gesunde Brokkoli - öffnet sich der Vorhang für innovatives Storytelling. Perfekt für Marketing und Sales.
Personas für Köchinnen und Köche
Nach Hunderten von Stunden in den Küchen Europas sah Jeanne Carré nicht nur neue Rollen für Gemüse vor sich, sie hatte auch ihren Blick auf die Köche verändert.
Es sind zahlreiche Parameter, die deren Einstellung zum Thema beeinflussen: Wie stehen sie insgesamt zu Gemüse? Wie zu den unterschiedlichen Technologien? In welcher Art von Küche und Restaurantkonzept arbeiten sie? Wie sehen ihre Ausbildung und persönlichen Ziele aus, ihre Herausforderungen, Wertvorstellungen und Bedürfnisse?
Diese Parameter lassen sich zu ganz klar umrissenen Personas zusammenfassen: hier der enthusiastische Restaurant-Koch mit Leidenschaft für seine lokale Spezialitäten, da der Hotel-Koch für festliche Anlässe und dort der Kantinen-Koch, der trotz der verarbeiteten Großmengen Wert auf Gesundheit und Frische legt.
Um ihre Erkenntnisse für die Praxis verständlich und handhabbar zu machen, verlinkten Jeanne Carré und ihr Team die gefundenen Köche-Personas also mit den unterschiedlichen Rollenkonzepten und kamen so zu differenzierten Mood-Boards.
Der Effekt: eine neue Marketingstrategie wird möglich
Für die Praxis unseres Kunden zeichnete sich ab, dass sich Außendienst-Mitarbeiter mit Hilfe der Mood-Boards im Verkaufsgespräch sehr viel besser orientieren können. Sie sehen schneller und präziser, welchen Herausforderungen sich Ihr Kunde - der Koch - im Alltag stellen muss, welche seine Bedürfnisse sind und wie sie ihn am besten bei dem unterstützen können, was ihm wichtig ist: Natur in Kultur transformieren, und das exzellent.
BFS änderte seine Strategie: im Mittelpunkt stehen jetzt nicht mehr säuberlich kategorisierte Erbsen, Möhren und Kartoffeln und auch nicht mehr Technologien wie Gefrieren oder Vakuum verpacken. Im Mittelpunkt steht jetzt der Koch. Er soll alles erhalten, was er für einen exzellenten Job braucht: Inspiration, Knowhow und beste Produkte. Der französische Slogan lautet heute konsequent:
"Avec les Chefs pour les Chefs"
Unsere Forschungsergebnisse zogen weitreichende Veränderungen für den Kunden nach sich:
- eine neue strategische Vision
- eine neue Markenpositionierung
- neu definierte Produkt-Segmente entlang der User-Bedürfnisse (Rollen/Personas)
- neue Konzepte für Produkte
- Der französische Webauftritt wurde konsequent umgestellt auf die individuelle Ansprache von Köchen aus den verschiedenen Segmenten.
- Neu aufgebaut wurde eine Web-Community für Köche und Storytelling auf Instagram
- Marketing und Vertrieb arbeiten nun eng zusammen. Das Sales-Team wurde entsprechend geschult und hat nun die Aufgabe, mit ethnografischem Blick das zu beobachten, was in den Küchen wirklich passiert.
- Die Messeauftritte wurden neu gestaltet Auch hier: weg von der Produktzentrierung und hin zum Fokus auf die speziellen Bedürfnisse von besonderen Köchen.
- Letztendlich führte die kulturanthropologische Studie zu einer Evolution des Brandings.
Die Herausforderungen: Umsetzung überall
So logisch und zwingend der Perspektivenwechsel aus Marktforschungssicht scheint - dass er im Unternehmen gelebt wird, passiert nicht von heute auf morgen.
Vor allem im Sales-Team musste viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Der Umgang mit den kulturanthropologischen Methoden erschien etlichen Mitarbeitern fremd. Dennoch zeichneten sich auch für Skeptiker die Vorteile ab: Kulturanthropologie macht Empathie in Bezug auf den Kunden systematisch möglich. Und das bringt mehr Umsatz. Nach zwei Jahren hatte der Kunde sieben Prozent Sales-Increase.
Über die Autorinnen:
Eva Caspary, MBA, und Jeanne Carré, Soziologin und Kulturanthropologin sind die Gründerinnen der Frankfurter Agentur für qualitative Marktforschung und –beratung Insight Culture. Strategisch, ganzheitlich, international und interkulturell – Insight Culture ist breit aufgestellt. 1999 gegründet, sind die Frankfurter auf ethnografische und kulturanthropologische Forschung fokussiert. Das interkulturelle, multi-disziplinäre Experten-Team von Insight Culture ergänzt das Portfolio mit innovativen Ansätzen in Psychologie, Soziologie und Kognitionswissenschaften. Gemeinsam sehen sie sich als Unternehmenstransformer, die branchenübergreifend international Unternehmensstrategien entwickeln. In ihrer Beratungstätigkeit stützt sich die Agentur auf die Techniken und Lehren des Creative Problem Solving (CPS). In Frankfurt hat Insight Culture seinen Hauptsitz, und weitere Aktivitätszentren sind in London, Singapur und Sao Paolo.
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

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