Aus dem wahren Leben – Kolumne von Jens Krüger Ist das Marketing oder kann das weg?

Warum die Marktforschung für das Marketing mehr sein sollte als die x-te Studie zu COVID-19 und zum "New Normal" mit den immer gleichen Erkenntnissen eins-zu-eins auf das eigene Unternehmen zu übertragen.

Sind Sie Marketer? Dann beneidet Sie aktuell niemand um Ihren Job. Warum? Egal, was und wie Sie es machen – Sie können es aktuell niemanden Recht machen. Die einen erwarten von Ihnen, dass Sie endlich mal (!) Ihrem Arbeitgeber ein bisschen Purpose einhauchen. Auf jeden Fall muss es irgendwas mit Nachhaltigkeit zu tun haben, am besten in Richtung "fair", "regional" und "bio" sowieso. Und natürlich muss es innovativ sein – aber vielleicht doch nicht so groß...

Und dann machen Sie genau das – und Ihnen gelingt tatsächlich mit Ihrem Team ein tolles Leuchtturm-Projekt. Klingt doch gut. Wenn Sie bei H&M arbeiten, haben Sie einen ersten Test für ein In-Store-Recycling-System auf dem Weg gebracht. Und experimentieren darüber hinaus mit einer neuen Textilfaser namens Cirulose. Wow. Sollten Sie bei Adidas auf dem Campus arbeiten, dann haben Sie vielleicht einen Schuh entwickelt, der nicht weggeworfen werden muss. Und bei Ikea haben Sie mit Erfolg einen neuartigen Pilz ausprobiert – diesmal nicht fürs eigene Restaurant, sondern als Ersatz für Styropor und andere Verpackungsmaterialien.

Aber anstatt vorbehaltloser Anerkennung für das Geleistete schlägt Ihnen sicher immer öfter dieser eine Satz entgegen:

HOFFENTLICH IST DAS NICHT NUR MARKTETING.

Jetzt möchte man schreien: Doch, genau das ist es. Marketing. Und das ist gut so!

Richtig ist aber auch, dass in den letzten Wochen ein wahrer Nachhaltigkeitsboom entstanden ist. Ein Feuerwerk der Innovationen – zugegeben, abseits der genannten Beispiele oft eher kleine Irrlichter, mit dem bemühten Versuch, irgendwie vom Hype zu profitieren.

Das ist gefährlich und wird für einige Unternehmen möglicherweise zum Bumerang. Ich kann verstehen, dass angesichts der von unserer Branche und noch mehr von anderen bekannten und unbekannten Beratungsagenturen veröffentlichten Studien der Eindruck entstehen könnte, dass die Zukunft – das New Normal – nur noch "Grün" ist. Und die Menschen da draußen geläutert in der Schlange stehen, um endlich einen nachhaltigen Lebensstil pflegen zu können. Glauben Sie mir, so wird es nicht kommen. Wir Menschen sind Gewohnheitstiere, unser Verhalten zu ändern braucht mehr als "nur" eine Pandemie. Richtig ist, dass diese Themen für den Konsum in vielen Bereichen an Bedeutung gewinnen – auch schon vor Corona. Aber gleichermaßen nehmen aktuell auch ein neu zu beobachtender Konsum-Hedonismus, aber auch die prekären Lagen vieler Haushalte zu. Da wo das Geld knapp wird – gefühlt oder real, werden sich die Menschen weiterhin und öfter für den günstigeren Preis entscheiden (müssen). Vor allem der alte und neue Hard-Discount wird davon profitieren. Und auch das ist gut so.

Bitte nicht wie die Lemminge!

Unsere Gesellschaft polarisiert sich – dies übersehen wir zunehmend in unserer eigenen Echokammer (noch) gutverdienender Marketing-Experten. Das in den letzten Jahren und auch aktuell forcierte Uptrading wird mindestens einen Gegenspieler bekommen.

Das Konsumverhalten wird sich weiter fragmentieren. Umso wichtiger wird es, dass wir nicht alle wie die Lemminge diesem einen, großen Thema hinterherlaufen. Und zwar oft ohne Sinn und Verstand. Es lohnt sich genauer hinzusehen. Was bewegt die Menschen? Wie gehen meine Zielgruppen jetzt mit den Auswirkungen der Pandemie um? Wir müssen da tiefer forschen, im Mix mit neuen und bewährten Methoden, um besser zu verstehen. Und vor allem auch, um an den richtigen Pain-Points anzusetzen.

Genau hier sind wir wieder gefragt – die Marktforscher*innen. Wir müssen und können ein differenziertes Bild zeichnen. Nur so können sich Unternehmen in den für sie richtigen Themen und Suchfeldern orientieren. Zwischen "Preis" und "Nachhaltigkeit" kann sich gesellschaftliche Verantwortung auch in anderen Feldern spiegeln. Edeka hat die tolle Idee für einen Ernährungs-Podcast, der den Menschen Orientierung und Sparring in einer zunehmend unübersichtlich gewordenen Ernährungslandschaft geben soll. Dr. Oetker schenkt uns mit "Gugelhupf & Du" ein Café und einen Ort zum Entschleunigen bei Pudding und Kuchen. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, dass Unternehmen mit sich und ihren Marken und Produkten im Reinen sind. Im Reinen muss nicht immer dem aktuellen Mainstream politisch korrekt übereinzustimmen. Eine spannende Zeit. Wir helfen gerne.

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Über den Autor

Jens Krüger ist seit 2019 CEO von Bonsai Research. Der Consumer-Experte war zuvor über zehn Jahre Geschäftsführer bei Kantar/TNS Infratest. Der studierte Soziologe und Sozialpsychologe engagiert sich in mehreren Beiräten (u. a. im Zukunftsforum und dem VKE-Kosmetikverband), ist Speaker und Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen gesellschaftlicher Wandel, Consumer-Trends, Ernährung und Handel der Zukunft.

mf

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Natascha Mannweiler am 22.10.2020
    „Ja! Keine leichte Aufgabe für Marketeers, zwischen expliziten Meinungen und impliziten Überzeugungen zu unterscheiden – gerade in volatilen Zeiten wie diesen! Wie kann der Say-Do-Gap belastbar aufgedeckt werden? Und mit welchen Strategien können die Ja-/Nein-Sager vs. -Macher dennoch erreicht werden?
    Vielleicht mögen Sie sich ja in unserem kürzlich hier auf marktforschung.de gehaltenen Webinar genau zu diesem Thema inspirieren lassen? Schnuppern Sie doch mal rein: https://www.marktforschung.de/wissen/web-seminare/marktforschung/lippenbekenntnisse-oder-lifestyle-aenderungen-in-corona-zeiten-wie-ernst-meint-es-der-verbraucher-mit-dem-new-normal-und-was-heisst-das-fuer-zukuenftige-geschaeftsstrategien/“
  2. Sebastian Götte am 22.10.2020
    Danke für diese Gedanken zum Thema Nachhaltigkeit im Marketing! Mir gehen sie ein bisschen zu sehr von der Leitidee aus: "Wir müssen schauen, was die Verbraucher*innen tun und wollen und dann unsere Produkte danach ausrichten. Vielleicht schaffen wir sogar, etwas Nachhaltigkeit mit reinzubringen." Was ich von uns als Branche verlange, ist stattdessen zu erforschen, wie ein Konsum- und Wirtschaftssystem möglich ist, das auf der einen Seite die knappen Ressourcen und die Klimaproblematik und auf der anderen Seite die Bedürfnisse der Verbraucher*innen berücksichtigt. Also nicht: Wie verkaufen wir bestmöglich unsere Produkte, und dafür müssen wir jetzt halt nachhaltig sein. Sondern: Alles zeigt darauf, dass wir unser Wirtschaftssystem anders ausrichten müssen, um auch in Zukunft gut (oder besser?) leben zu können. Klima- und ressourcenschonender, ökonomisch und sozial fairer. Wie bekommen wir das hin, indem wir die Verbraucher*innen mitnehmen? Damit könnten wir als Branche Verantwortung für die Zukunft übernehmen und gleichzeitig den Unternehmen helfen, den notwendigen Wandel möglichst fehlerfrei zu gestalten.
  3. Holger Geißler am 23.10.2020
    Zum Post von Sebastian Götte: Wobei aus meiner Sicht Marktforschung helfen kann, ist es nachhaltige Produkte erfolgreich am Markt zu platzieren. Das war z.B. Thema in dem Web-Seminar "The Post-Corona consumer might not be green" von Strategir auf der WdM. Nicht jedes nachhaltige Produkt setzt sich automatisch am Markt durch, wie man exemplarisch an E-Autos sehen kann, bei dem Argumente wie Reichweite die nachhaltigen Argumente von E-Autos noch deutlich übertrumpfen. Hier sollte Marktforschung - wie immer- dabei helfen die richtigen Argumente zu finden, die bei der Platzierung am Markt ziehen.

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