Das Wahre Leben Kolumne – Jens Krueger Ist das eigentlich echte Marktforschung, oder kann das weg?

1000 Befragte sind repräsentativ. Oder besser doch 2000? Wenn selbst renommierte Journalisten wie Markus Lanz im Fernsehen Fehlinformationen über Marktforschung verbreiten, wie soll diese dann erst in der breiten Bevölkerung richtig verstanden werden? Jens Krüger fragt sich in seiner neuen Kolumne, wie die Marktforschungsbranche mit dem offensichtlichen Unverständnis des Repräsentativitätsbegriffs umgehen sollte.

picture alliance / Zoonar | DAVID HERRAEZ CALZADA

Würden Sie Ihren Nachbarn mit einem bei Amazon gekauften Skalpell an Ihren Blinddarm lassen? Wahrscheinlich nicht. Etwas ganz ähnliches passiert aber bei der "Demokratisierung" der Marktforschung täglich. (Bild: picture alliance / Zoonar | David Herraez Calzada)

In einer spannenden Diskussion bei Markus Lanz in der letzten Woche zum Sinn oder Unsinn von den von der letzten Generation vorgeschlagenen Bürgerräten, wurde wieder einmal deutlich: Alle haben eine klare Meinung darüber, wie echte Marktforschung geht.

Also, echte Marktforschung gleich repräsentative Marktforschung. Aber eigentlich wissen sie gar nichts. Für Markus Lanz sind 1.000, besser noch 2.000 Interviews repräsentativ. Oder noch besser noch mehr. Also, viel hilft viel.

Markus Lanz erklärt echte Marktforschung (Szene ab Minute 6:17)

Darüber wurde dann auch auf LinkedIn diskutiert, eingeordnet. Und natürlich „aufgeklärt“.

Darf es ein bisschen mehr sein, oder auch mal weniger?

Das mit der Aufklärung spare ich mir mal hier und heute. Zumal es ja – unter uns - auch nicht so komplex ist mit der Repräsentativität. Viel wichtiger ist doch die Frage, warum gut ausgebildete Journalisten – ob Markus Lanz, oder andere, immer wieder in die Falle tappen und den großen Zahlen nachlaufen. Eine repräsentative Studie hat mindestens 1.000 Fälle.

Basta. So häufen sich Anfragen von Agenturen und PR-Beratern, die eine Content-Studie für ihre Kunden planen. Meist in einer speziellen Zielgruppe – gewissermaßen die eierlegende Wollmilchsau. Am besten noch B2B – innerhalb der DAX30. Davon hätten wir gerne 1.000 Interviews, besser noch 1.500 – damit kommen wir dann auch in die Bild-Zeitung. Richtig, gesucht ist eine Vollerhebung in den DAX 1500. Mit 100 Prozent Ausschöpfung.

Natürlich ist das Blödsinn, aber eine wahre Geschichte. Immer und immer wieder. Das einzige Gütekriterium für eine „gute“ Studie ist die schlichte Größe der Stichprobe.

Wie können wir das ändern?

Müssen wir das überhaupt ändern?

Ich finde ja, unbedingt. Sofort.

Denn die „Demokratisierung“ der Marktforschung ist schon sehr weit fortgeschritten. Mit einem SurveyMonkey-Zugang, oder ähnlichem im Gepäck, ist heute praktisch alles möglich.

Das wäre so, als wenn wir mit uns bei Amazon ein Skalpell bestellen und uns beherzt den Blinddarm unseres Nachbarn vornehmen. Kompetenz-Illusion!

Bei der Marktforschung ist das natürlich ganz anders: Fragen stellen kann ja jeder. Und wenn ich dann noch 1.000 Fälle liefere, ist mir die Platzierung in der Presse schon fast sicher. Güte und Zuverlässigkeit. Who cares? Niemand.

Sie wissen nicht, was sie tun

Es fehlt an Wissen, über Stichproben und Stichprobentheorie. Aber auch über die heute möglichen Methoden, auch abseits von klassischen (Repräsentativ-)Befragungen.

Inhaltsanalysen von Social Media Content zum Beispiel – ganz selten finden sich solche Analysen in den Medien wieder. Schade eigentlich – denn hier zeigen sich bereits relativ früh und zunehmend ungeschminkt auf Twitter, Facebook oder Instagramm unsere gesellschaftlichen Problemfelder, die man auch meist nicht so gut abfragen kann. Stichwort: soziale Erwünschtheit. Und auch Befragungen per WhatsApp können sinnvoll sein, gerade um zeitlich limitierte Zielgruppen überhaupt zu erreichen, wie Ärzte oder Handwerker.

Auch schade: Weil Studien, die mit wenigen Fällen auskommen können oder mit alternativen Methoden erst möglich werden, oft nicht veröffentlicht werden. Obwohl sie oft spannende Impulse und Diskussionsstoff für gesellschaftliche Debatten liefern können. Und oft auch fehlende Erklärungen für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen.

Was wir tun können

Wir können uns anbieten – für Vorträge bei Studierenden, gerade bei Kommunikationswissenschaften und angehenden Journalisten.

Oder wir könnten als Branche ein tolles Self-Learningtool entwickeln und einer breiten Öffentlichkeit spielerisch das Thema nahebringen. Wir könnten auch schon früher starten – in Schulen, Berufsschulen. Oder wir könnten einfach jede Gelegenheit nutzen, wo wir als Marktforschende Publikum haben – bei Agenturen, bei unseren Kunden. Egal. Viel hilft viel.

Güte und Zuverlässigkeit sind mehr als eine möglichst große Stichprobe

Auch eine qualitative Studie mit nur wenigen, aber dafür in der Tiefe analysieren Interviews liefert „gute“, weil wichtige Ergebnisse.

Gerade jetzt – wo wir alle spüren, dass mit Daten, Zahlen und vermeintlichen Fakten auch Politik gemacht wird. Gerade jetzt – wo mit KI auch Forschung effizienter wird, ist es essenziell, dass die Menschen, die über die Berichterstattung dieser Studien entscheiden, wissen, was sie tun.

Wir Marktforschende können helfen, als Beiräte, Beratende – kontinuierliche oder in eine Redaktionskonferenz – schnell zugeschaltet, schnell einordnend. Genau darum geht es.

Wir haben die Deutungshoheit darüber, was gute oder schlechte Marktforschung ist. Diese Deutungshoheit müssen wir nicht nur bewahren, sondern nach außen tragen.

Ansonsten werden wir an Relevanz verlieren. So einfach ist das. Echt jetzt!

 

Über die Person

Jens Krüger ist seit 2019 CEO von Bonsai Research. Der Consumer-Experte war zuvor über zehn Jahre Geschäftsführer bei Kantar/TNS Infratest. Der studierte Soziologe und Sozialpsychologe engagiert sich in mehreren Beiräten (unter anderem im Zukunftsforum und dem VKE-Kosmetikverband), ist Speaker und Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen gesellschaftlicher Wandel, Consumer-Trends, Ernährung und Handel der Zukunft.

Diskutieren Sie mit!     

  1. Thomas Schäfer am 01.08.2023
    Liebe Leute,
    ich habe das auch gesehen. Und ja: alles richtig, was hierzu gesagt wird. Aber um für Herrn Lanz einmal eine Lanze zu brechen (und dabei die Kirche im Dorf zu lassen): ich glaube, er hat nur die Begriffe Repräsentativität und Reliabilität nicht richtig angewendet und durcheinander gebracht. Die Menge an Blödsinn, die er verbreitet hat, bleibt überschaubar.
    Viel schlimmer ist doch, wenn Ergebnisse - beabsichtigt oder nicht -missbräuchlich gedeutet werden. Die aktuelle UNSTATISTIK hat da ein gutes Beispiel wieder.
    Und doch noch mal zu Herrn Lanz: in meinen Schulungen ist er das Paradebeispiel für das Stellen suggestiver Fragen. Da könnte man ihn mal etwas challengen...
    Mit kollegialen und auch freundlichen Grüßen, Thomas Schäfer

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