Thomas Wüstenfeld Ist betriebliche Marktforschung noch zeitgemäß?

Thomas Wüstenfeld
Immer häufiger höre ich im Gespräch mit Institutsmarktforschern, dass wieder in einem Unternehmen die betriebliche Marktforschung reduziert oder gar eingestellt wurde. Man hat ja heute unter anderem Big Data als Ersatz, also jede Menge Daten der eigenen Kunden. Zugegeben, das Auswerten von richtigen Kaufdaten ist schon sinnvoll und liefert Antworten über das tatsächliche Kaufverhalten. Aber liefert das auch alle wichtigen Antworten zu unseren Kunden?
Big Data ist nicht wirklich neu. Schon Ende der 1990er Jahre haben wir bei Aral große Kundenzufriedenheitsstudien in Europa an unseren Tankstellen durchführen lassen. Dabei wurden dann mehre hunderttausende Interviews durchgeführt, ausgewertet und analysiert. Und heute ist es mittels Computer- und Online-Technik noch einfacher geworden, Kundendaten massenhaft zu sammeln, zu verknüpfen und auszuwerten. Die Datenmengen sind kaum mehr limitiert. Wichtig ist dabei die kreative Auswertung und das Bewerten der Daten mittels Benchmarks, Zeitreihenvergleichen oder multivariaten Analyseverfahren.
Solche Verfahren nutzen auch Amazon und Co, aber sind sie auch wirklich so gut in Big Data? Meine rein subjektive Antwort: Nein. Ein Beispiel: Ich kaufe bei Amazon ein Fachbuch zum Thema Marktforschung, danach bekomme ich mehrfach einen Newsletter mit der Aufforderung genau dieses Buch zu kaufen. Und diese Erfahrung habe ich nicht nur bei Büchern gemacht. Ich bin mir sicher, dass viele Leser ähnliche Erfahrungen teilen.
Amazon ist unter anderem erfolgreich, weil sie im Massenmarkt USA mit 326 Millionen potenziellen Kunden online gestartet sind und dann ihr Produktangebot systematisch über Elektronik, Bekleidung bis hin zu Lebensmitteln erweitert haben. Die Logistik dahinter ist viel wichtiger als die Algorithmen. Nur, wenn der Kunde das Produkt jederzeit kurzfristig und günstig erhält, ist er zufrieden und kauft auch wieder.
Kann man von meinen Käufen auf meine Bedürfnisse als Verwender dieser Produkte schließen? Nein, beziehungsweise nur bedingt. Ein Beispiel: Ich kaufe mit meinem männlichen Account ein typisch weibliches Produkt für meine Frau oder Tochter, die diese Produkte dann verwenden. Der wieder folgende Newsletter schreibt. "Der Käufer / Verwender dieses Produktes hat auch diese typischen (weiblichen) Produkte gekauft...". Meine Hauptkritik an Big Data: Algorithmen schließen von den Käufen auf die Verwendung, die Bedürfnisse und Motivationen der Kunden. Die Verwendungsmotive, das Kaufverhalten beim Wettwerber, das Markenimage und so weiter spielen bei der Analyse der Massendaten keine Rolle. So werden die Analyse der Daten und die Ableitungen für das Marketing zum "Trial and Error" ohne wirklich ein ganzheitliches Bild vom eigenen Kunden sowie der Wettbewerbskunden zu haben.
Die Auswertung der eigenen Kundendaten kann also auch in die Irre führen. Ein weiteres Beispiel: Die Kundensegmentierung eines Kundenbindungssystems in einem Land, welches ich betreut habe, unterteilte die Kunden grob in "High value", "Middle value", "Low value" und "Infrequent". Die Gelegenheitskunden sollten eigentlich gar nicht befragt werden. Die Aufgabe der Marktforschung war es, herauszufinden, welches Potenzial die Segmente für die Markennutzung haben. Die Online-Befragung ergab, dass das Potenzial der "High value"-Segmente so gut wie ausgeschöpft war. Erstaunlicherweise waren die "Infrequent customer", die eigentlich nicht befragt werden sollten, dem "High value"-Segment von der Fahrleistung und anderen Merkmalen sehr ähnlich, tankten aber vermehrt beim Wettbewerber. Diese könnten also durchaus eine lohnende Zielgruppe sein.
Wie man sieht, bleiben noch viele weitere Fragen offen, die man eben nicht nur aus den gesammelten Kaufdaten beantworten kann: Wie und wann werden die Produkte verwendet? Wer verwendet sie? Welche Wettbewerbsprodukte kaufen und kennen die Kunden? Werden die Erwartungen an die Produkte erfüllt? Wie ist die Zufriedenheit? Wie häufig kaufen Kunden die Produkte, in welchen Geschäften? Welche Mengen, zu welchen Preisen? Welche Rolle spielt das Markenimage, die Werbung? Warum kaufen Kunden gerade dieses Produkt und nicht das ähnliche zum anderen Preis mit etwas anderen Eigenschaften? Welchen Preis kann der Hersteller für ein neues Produkt nehmen? Stand das Unternehmen früher nicht besser da als Marke? Alles Fragen, mit denen sich unter anderem ein betrieblicher Marktforscher beschäftigt. Er weiß, mit welcher Methode welche Frage beantwortet werden kann. Er kennt den Markt und weiß, wen er für was ansprechen kann.
Müssen Unternehmen dafür ständig einen Marktforscher beschäftigen? Kann das nicht das Marketing mitmachen? Selbstverständlich geht das auch ohne, man kann auch direkt ein Institut ansprechen. Allerdings: Große Institute wollen häufig ihre Standardinstrumente verkaufen, die nicht für jede Produktkategorie flexibel eingesetzt werden können. Die kleineren Institute sind eventuell auf jeden Euro Umsatz angewiesen. Und es gibt auch Spezialisten unter den Instituten, die sich auf ein Thema, eine Methode fokussieren. Hier kommt ein externer Marktforscher als Berater und Projektmanager auf Zeit ins Spiel. Er kann helfen, diese Fragen zu beantworten, wenn das Unternehmen nicht die Kapazitäten hat, weil das Know-how fehlt, jemand kurzfristig ausfällt oder einfach nur zu viel zu tun ist. Er wählt die richtige Methode, seien es Gruppendiskussion, Tiefeninterviews, Online-, Telefon- oder Face-to-face-Befragungen, Eyetracking beispielsweise am POS, Werbetest oder Tracking-Studien. Er vertritt die Interessen des Unternehmens auf Zeit, aber als Externer.
Zum Autor: Thomas Wüstenfeld war mehr als 27 Jahre als betrieblicher Marktforscher beim Mineralölkonzern Aral und später nach der Fusion mit BP auch für BP in Europa tätig. Mittlerweile arbeitet der Diplom-Sozialwissenschaftler als freiberuflicher Marktforschungsprojektmanager.
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