Internationale Zielgruppenforschung: Gleichgesinnte über Ländergrenzen hinweg
Von Frauke Stockmann, SINUS-Institut
Die Internationalisierung der Märkte erfordert von vielen Institutionen und Unternehmen eine globale Perspektive in ihrer strategischen Ausrichtung. Modelle, die nicht an Ländergrenzen Halt machen, sondern internationale Zielgruppen-Segmentierung ermöglichen, gewinnen daher an Bedeutung. Ein solches internationales Zielgruppenmodell sind die SINUS-Meta-Milieus, die mit Blick auf die internationalen Märkte bei der Beantwortung folgender strategischer Fragen helfen sollen: Wie sehen Zielgruppen für Anbieter transnationaler Produkte beziehungsweise Dienstleistungen aus? Welche zielgruppenspezifischen Kommunikationsstrategien funktionieren länderübergreifend?
Auf der einen Seite nähern sich durch die Globalisierung Lebensstile, Konsummuster und Werteorientierungen vieler Gesellschaften aneinander an. Gleichzeitig gilt, dass bestehende länderspezifische Werte das Produkt soziokultureller Unterschiede, historischer Entwicklungen, Traditionen und verschiedener Mentalitäten sind, die sich – allen Globalisierungstendenzen zum Trotz – als recht beharrlich erweisen können und in unsicheren Zeiten mehr denn je kultiviert werden. Innerhalb dieser beiden Strömungen werden Werte, aber auch der Wertewandel, Teil der Alltagswirklichkeit und somit von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich interpretierbar, adaptierbar und (er-)lebbar.
Wir betrachten in unserer internationalen Zielgruppen- und Werteforschung zunächst einzelne Gesellschaften: Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Gesellschaften demografisch und soziokulturell ähnlich sind, wurden zunächst länderspezifische Milieu-Modelle für viele verschiedene europäische und außereuropäische Länder entwickelt. Dabei zeigte sich: Es gibt durchaus Gruppen von Gleichgesinnten über Ländergrenzen hinweg. Traditionelle Gruppen gibt es in Spanien genauso wie in Deutschland. Ein bürgerliches Mainstream-Milieu befindet sich in Deutschland und Japan gleichermaßen in einem permanenten Spannungsfeld von Abstiegsangst und Besitzstandwahrung.
Es ist also möglich, gemeinsame Milieus über Ländergrenzen hinweg zu identifizieren, ohne dabei die soziokulturellen und historischen Unterschiede zu ignorieren. Für die industrialisierten Länder ergeben sich ähnliche Muster in Lebensstilen und Konsumpräferenzen.
Diese Erkenntnis markierte den Anfang unserer international vergleichenden Zielgruppenforschung. Wir haben ein solches länderübergreifendes Segmentationsmodell sowohl für die established markets entwickelt als auch eines für emerging markets. In Gesellschaften mit häufig kolonialer oder auch sozialistischer Vergangenheit beginnen sich die Lebenswelten der Menschen zu verändern und damit auch ihre Werte- und Konsummuster. Dieser unterschiedlichen soziohistorischen Entwicklung muss man durch ein eigenes Modell für emerging markets gerecht werden, da sich durchaus Unterschiede in den Mentalitätsmustern mit den established markets finden lassen. Insgesamt beobachten wir in den emerging markets eine stärkere Fokussierung auf materielle Werte und extrovertierten Statuskonsum, während in etablierten Volkswirtschaften postmateriellen Werten mehr Bedeutung beigemessen wird.
Verstehen, was die Gesellschaft morgen bewegt
Zur Verdeutlichung, dass ähnlich gelagerte Milieus in unterschiedlichen Ländern mehr miteinander gemein haben können als mit anderen Milieus in ihrem Land, greifen wir uns zwei unserer Meta-Milieus heraus: Die Digitale Avantgarde und die Adaptive Navigators. Beide gehören in allen verglichenen Ländern zu den jüngsten Milieus mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil unter 30-Jähriger. Nicht nur aufgrund ihres Alters, sondern vor allem auch durch ihre spezifische Werteorientierung sind sie die "Milieus der Zukunft": Sie sind die am schnellsten wachsenden Milieus, und ihr Umgang mit gegenwärtigen Herausforderungen lässt zukünftige Trends erkennen.

Beide Milieus zählen von ihren Altersschwerpunkten zur viel diskutierten "Generation Y". Die "Generation Y" ist also soziokulturell vielfältig und keine einheitliche Gruppe. Beide Milieus stehen den gleichen Herausforderungen gegenüber: Sie leben in einem Europa, das zwischen Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel pendelt, das durch die starke Zuwanderung Veränderungsprozessen unterworfen ist, in dem Digital auch Digital Detox bedeutet und der Finanzkrise Konsumfreudigkeit gegenübersteht. Aus diesem Konglomerat entstehen unterschiedliche Herausforderungen: Was bedeutet es für das Ausbildungsmarketing, wenn Unternehmen um die junge Generation wetteifern? Welche Finanz- und Versicherungsprodukte werden nachgefragt, wenn Sicherheitsbedürfnis und kurzfristige Lebensentwürfe kollidieren? Es lassen sich bei diesen Fragen enorme Unterschiede feststellen, die allerdings nicht immer entlang nationalstaatlicher Grenzen, sondern vielmehr entlang länderübergreifender Mindsets verlaufen.
Am Beispiel der Digitalen Avantgarde und der Adaptive Navigators lassen sich unterschiedliche Umgangsweisen mit internationalen Herausforderungen illustrieren:
- Adaptive Navigators zeichnen sich durch Loyalität und Zuverlässigkeit aus, sind flexibel und anpassungsfähig, haben eine hohe Sicherheits- und Leistungsorientierung, sind pragmatisch und haben ein hohes Bedürfnis nach Erdung mit einer starken Besinnung auf das Private.
- Die Digitale Avantgarde setzt sich hingegen aus kreativen, nonkonformistischen und "szenigen" Menschen mit einem starken Hang zu Selbstverwirklichung, Freiheit und Unabhängigkeit zusammen. Sie haben eine globale Denkweise und sind digital souverän.

Umbruchsstimmung trifft auf Sicherheitsbedürfnis
In der Trendforschung führen wir eine Vielzahl soziokultureller Strömungen zusammen und identifizieren die dahinterliegenden sogenannten "Basis-Trends". Während soziokulturelle Strömungen rascherem Wandel unterliegen können, sind die ihnen zugrundeliegenden Basis-Trends, ähnlich wie Werte, im Zeitverlauf relativ stabil. Dadurch ist es möglich, langfristig gesellschaftlich relevante Veränderungsprozesse aufzuzeigen, zu beobachten und sie anhand ihrer Manifestation in soziokulturellen Strömungen begreifbar und erlebbar zu machen. Durch die Konzentration auf die Grunddynamiken mit nachhaltigem Veränderungspotenzial lassen sich zwölf Basis-Trends identifizieren, die große Durchschlagskraft auf Märkte, Produkte und Angebote haben können.
Die Unterschiede der beiden betrachteten Meta-Milieus zeigen sich in ihren spezifischen Trendaffinitäten. Zwar stimmen beide Milieus überdurchschnittlich stark bei den Trends "Autonomy" und "Digital Culture" überein, jedoch sind die Ausprägungen bei der Digitalen Avantgarde um einiges stärker. Bereits im Namen wird deutlich, dass die Digitale Avantgarde der Trendsetter ist, wenn es um digitale Lösungen und Produkte geht. Dieses Milieu entscheidet als Early Adopter nicht nur in vielen Fällen über Top oder Flop und ist daher bei Markteinführung relevant, es ist auch bereits vorher wichtiger Impulsgeber: Hier liegen große Chancen für (internationale) Co-Creation-Prozesse. Durch seine internationale Vernetzung trägt dieses Milieu auch kurzfristige Trends von einem Land ins andere. Gelingt es, diese Zielgruppe mit einem Produkt zu überzeugen, werden sie zu selbstständigen Werbeträgern.
Während sich die Digitale Avantgarde auf die Veränderungen der Gegenwart einlässt und ständigen Wandel als Chance begreift, befinden sich die Adaptive Navigators in einem Spagat. Sie fühlen sich zerrissen zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit von Flexibilität und Mobilität in einer globalisierten Welt und dem Bedürfnis nach Harmonie und Sicherheit. Dies schlägt sich zum Beispiel in den Trends des "Regrounding" und "Balance & Protection" nieder. Es zeigt, dass Adaptive Navigators zwar einerseits "offen für alles Mögliche" sind, gleichzeitig aber ein immenses Bedürfnis nach Verlässlichkeit, klaren Regeln, Strukturen, Halt und Verankerung haben. Dies manifestiert sich selbst bei diesem jüngeren Milieu in der Sehnsucht nach "den guten alten Zeiten", in denen (subjektiv) alles leichter und einfacher war. Es ist eine große Nostalgie zu erkennen, wenn 30- bis 40-Jährige unter dem Hashtag "#Only90’sKidsWillRemember" in den sozialen Medien an die Lifestyle-Produkte, Spielsachen, Süßigkeiten und Serien ihrer Kindheit und Jugend erinnern und das gesamte Jahrzehnt glorifizieren.
Fazit: Internationale Märkte brauchen internationale Zielgruppen
Das Marketing steht in einer globalisierten Wirtschaft vor der Herausforderung, Zielgruppen länderübergreifend zu identifizieren. Einen Blick auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Kulturen zu werfen, wird damit immer wichtiger. Mitunter sind die Unterschiede zwischen Kulturen kleiner sind als angenommen und es zeigen sich ähnliche Grunddynamiken soziokultureller Strömungen länderübergreifend.
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