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Internationale Pharmamarktforschung Interkulturelle Besonderheiten mit Fokus auf Magen-Darm-Erkrankungen

Von Thomas Ebenfeld, Rochus Winkler, Managing Partner; Helmut Berghaus, Senior Project Manager und Intervisor, concept m (Berlin/Köln/London)
Die Pharmaanbieter bewegen sich heute in zunehmend globalisierten Märkten. Sie stehen vor der besonderen Herausforderung, ihre Produkte in den unterschiedlichen Wettbewerbsstrukturen mit ihren vielfältigen, jeweils landestypischen Eigenheiten erfolgreich zu vertreiben. Daher wird, besonders für Global Player, eine internationale, ethnograhisch und qualitativ-tiefenpsychologisch basierte Pharmamarktforschung, immer wichtiger.
Psychologische Marktanalysen sind allein schon deswegen bedeutsam, weil bei der Produktverschreibung und -verwendung maßgeblich bewusste und vor allem auch unbewusste seelische Mechanismen und Bilder am Werk sind, die überhaupt den Umgang mit Krankheit und Gesundheit im Ganzen regulieren.
Die mannigfaltigen Kulturkreise haben in ihrer Entwicklung verschiedene Umgangsweisen mit den diversen Erkrankungen als Behandlungskulturen ausgebildet. Jede bedeutsame Krankheit baut um sich herum eine solche Kultur auf, um Heilung und Linderung zu bewerkstelligen, aber auch das Behandlungsprozedere für Patient (und Arzt) erträglich zu gestalten.
Behandlungskulturen sind ganzheitliche, personenübergreifende kulturelle (psychische) Regulationsformen. Sie lenken das Erleben und Verhalten aller Beteiligten. In sie geraten Ärzte, Patienten, Angehörige, und – förderlich, manchmal hemmend – Gesundheitssystem und Medikamente hinein. Bewusst kriegt man die Wirksamkeit der Behandlungskultur meist gar nicht mit, weshalb tiefenpsychologische Explorationen notwendig sind. In der westlichen Welt z.B. haben sich Behandlungskulturen medizintechnisch zwar weit fortgeschritten entwickelt, aber immer noch sind in ihnen vor Jahrhunderten geformte Bilder, Haltungen und Therapieformen wirkmächtig – wie z.B. der Glaube an höhere Mächte – oder gewinnen wieder an Attraktivität – z.B. Naturheilmittelverfahren.
So sind z.B. alle Behandlungskulturen, unabhängig von der medizinischen Manifestation einer Erkrankung, stets auch von Faktoren geprägt, die nichts oder nur wenig zu tun haben mit dem, was eine an Evidenz orientierte Medizin an Heilungsroutinen vorgibt. In einer komplizierten Gemengelage miteinander verwobener Kräfte kann etwa bereits die Persönlichkeit des Arztes darüber entscheiden, ob ein Patient ein Leiden als schwerwiegend empfindet oder als lästiges Übel, über das man hinwegsehen kann.
Ärzte und Patienten können schon in einem Landesmarkt höchst unterschiedlich mit Krankheiten und miteinander umgehen. Auffällig sind z.B. bei der Depressionsbehandlung zwei 2 Ärzte-Grund-Typen: Mehr psychotherapeutisch orientierte "Ärzte-Pfarrer" und "Bar-Keeper an der Pharmabar". Beide haben ein anderes Bild von der Erkrankung, andere Behandlungsziele und Medikamentierungsvorlieben. Beide brauchen unterschiedliche Ansprache-Strategien.
Im Zusammenhang mit Darm-Erkrankungen lassen sich (auch je nach Herkommen oder Schule) ebenfalls unterschiedliche ärztliche Herangehensweisen feststellen, z.B. bei Reizdarm (Irritable Bowel Syndrom oder kurz IBS): Hier bekommen es die Ärzte oft mit rebellischen, gereizten Patienten zu tun, und das Gereizt-Sein überträgt sich auch stark auf die Arzt-Patient-Beziehung, die immer mitbehandelt wird. Das Ärzte-Typenspektrum reicht hier von "Durchfall-Quoten gereizten Darmfachleuten" über "Psychotherapeutisch geschulte Entkrampfer" bis zu "Konsequenten Unverträglichkeitsfahndern".
Erstere sehen sich bei IBS oft mit einem diffusen Beschwerdebild konfrontiert - einer Art Depression des Darms. Nach Ausschlussdiagnostik ringt man sich eher nur ungern zur Diagnose Reizdarm durch, da man keine rechte Erklärung hat. Auch bei der Therapie plagt man sich mit geringen Erfolgsquoten, was besonders für den Darmspezialisten kränkend ist. Die frustrierende Behandlung – oft werden alle verfügbaren Präparate bis zu Antidepressiva ausprobiert – lässt die Patienten lästig werden.
Letztere halten IBS für ein erfundenes Krankheitsbild. Für sie ist IBS entweder Symptom seelischer Konflikte, die einer psychotherapeutischen Behandlung bedürfen - oder eine Ausfluchtdiagnose, hinter der sich Ärzte verstecken. Selber fahndet man bis man fündig wird nach Reiz auslösenden Stoffen, die es dann zu vermeiden gilt.
Komplexer und vielschichtiger wird es noch, wenn man internationale Märkte in den Blick nimmt. Denn die Behandlungskultur ist eingebettet in das jeweilige nationale Gesundheitssystem, in die mediale Berichterstattung über das Leiden sowie ganz grundsätzlich in die jeweilige Landeskultur und deren Umgang mit dem Thema Gesundheit und Krankheit. Beispielsweise macht es einen großen Unterschied, ob eine Kultur eine Erkrankung als unabänderliches Schicksal wahrnimmt oder als selbstverschuldetes Unglück oder gar als ein Stigma betrachtet.
Kulturspezifische Bilder von Erkrankungen prägen nicht nur landesspezifische Behandlungskulturen aus, sondern können sich bis zur Ausstellung von Todesscheinen und Sterbestatistiken auswirken: Z.B. wird in Japan häufig Hirnschlag als Todesursache bescheinigt (obwohl es ein Herzinfarkt oder Darmtumor war), weil man dem Toten (und seinen Angehörigen) die Ehre erweisen möchte, am Versagen desjenigen Organs gestorben zu sein, mit dem er am meisten in seinem Leben gearbeitet hat.
Insbesondere bei leichteren Krankheitsbildern, die in der Regel nur oder zumindest in der Anfangsphase mit freiverkäuflichen Arzneimitteln behandelt werden, haben diese übergeordneten Faktoren (landestypische Behandlungskulturen, Krankheitsimages, Wirkungsbilder) entscheidende Bedeutung für die bestmögliche Vermarktung eines Medikamentes. Deshalb spielt die Analyse der Landeskultur bei internationaler tiefenpsychologischer Marktforschung eine zentrale Rolle. Seit jeher verfolgt die morphologische Marktforschung vom Ansatz her eine ethnographische Herangehensweise, deren grundlegende Methoden Verhaltens- und Erlebensbeschreibungen, das Erfassen nichtsprachlicher Ausdrucksweisen sowie nonverbale Techniken sind. Die Feldforschung kennt zudem verschiedene Verfahren der teilnehmenden Beobachtung.
Im Zuge der ethnographischen, interkulturellen Herangehensweise werden quasi „Expeditionen in die fremde Kultur“ unternommen, um die Wirkungsfelder der Behandlungskultur und verwendeten Präparate in einem überpersonalen Kontext, vor allem eben in ihrem originären Kultivierungszusammenhang zu erkennen. In der Zielgruppenanalyse werden dann beispielsweise diese „Ethnien“ von Patienten- oder Ärzte und Apothekergruppen herausgearbeitet. Dabei können sich national abgeschottete Zielgruppen bilden lassen, oder auch solche, die grenzüberschreitend durch beispielsweise eine gemeinsame Religion oder gemeinsame kulturelle Mythen geprägt sind.
Hier nochmals zwei Beispiele aus dem Bereich Magen-Darm-Erkrankungen. Dieser Bereich ist für internationale Forschung auch deswegen besonders notwendig und zugleich anschaulich, weil die Ausbildung von Behandlungskulturen rund um Magen und Darm für jeden Kulturkreis von eminent wichtiger Bedeutung ist und entsprechend besonders stark kulturspezifisch mitbestimmt wird: Es spielen hier die verschiedenen Ernährungskulturen und Bedeutungen von Essen sowie die Erziehung zum kultivierten Umgang mit Ausscheidungen hinein. Besonders der Darm wird über die kindliche Entwicklung zum spannungsvollen Austragungsfeld für gegenläufige Wünsche: Zum einen möchte man einen kultivierten Tages- und Ausscheidungsrhythmus pflegen, zum anderen möchte man sich Daseins- und Kulturzwängen entziehen oder gegen ihre Anforderungen rebellieren, was man mit Darmstreiks oder Reizdarm gut inszenieren kann, um den Preis, darüber in andere üble Nöte zu geraten.
Das eine interessante Fallbeispiel in diesem Zusammenhang ist die länderspezifische Analyse vom Umgang mit Magenbeschwerden. Bei der Genese von Magenbeschwerden muss unterschieden werden zwischen dem psychologisch zu beobachtenden Ursachen (persönliche, emotionale, berufliche Probleme) und den Geschichten, die über Ursachen erzählt werden (Völlerei, Hektik, „ungesundes“ Essen). In der Regel werden Magenbeschwerden nicht als dramatische Krankheit empfunden.
Die typischen Geschichten, die über die Ursachen von Magenbeschwerden erzählt werden, unterscheiden sich von Land zu Land:
Magenleiden gelten beispielsweise in Spanien eher als die Folge "falschen Essens", in Deutschland dagegen schwingt häufig eine Konnotation in Richtung Stress und persönlicher Probleme mit ("das ist mir auf den Magen geschlagen"), in England werden sie bevorzugt mit einer ungesunden Ernährungsweise in Zusammenhang gebracht, in Frankreich mit einem Zuviel an gutem Essen. Diese landestypischen Modifikationen führen zu einem Marktgefüge, bei dem in Deutschland und England eher der Wunsch nach "wirkkräftigen" Mitteln vorherrschend ist, während in Frankreich und Spanien nahrungsnahe Applikationen beliebter sind.
Das andere Beispiel zeigt kurz einige landestypische Unterschiede bei der Behandlungskultur von Verstopfung zwischen Frankreich, Italien und Deutschland auf:
In Frankreich hat man besonders starke Wünsche nach Rhythmus. Ungenügendes Kauen wird gerne als Problemauslöser bewertet. Tendenziell fühlt man sich von Verstopfung auch sehr seelisch belastet und entwickelt stärkere Somatisierungen. Verstopfung als Thema ist stark tabuisiert. Man sucht mehr Hilfe beim Arzt, dabei sind Gleit-Hilfen und anale Applikationen sehr beliebt. Als Ablenkung pflegt man auf der Toilette gerne zu lesen.
In Italien werden Rhythmusstörungen eher als Erbproblem betrachtet. Darm-Streik gilt als allgemeine Reaktion auf verschiedenste Charakterschwächen. Auch unverstopften Darm reinigt man mit radikalen Mitteln. Hier entwickelt man dann als prägendes Familien-Ritual zur Darmreinigung einen Ersatz-Rhythmus im Wechsel von sanften und stärkeren Mitteln. Die Toilette gilt als Rückzugsort von der Familie.
In Deutschland findet man bei Verstopfungsproblemen Trotz gegen Kultivierungsforderungen mehr in der Ausprägung von Zwangscharakteren. Zugleich wird hier ein stärkeres "Auskosten" von Freuden und Qualen der Entleerung kultiviert. Beim Einsatz von Laxanzien wird man mehr von Zersetzungsvorstellungen geleitet (statt Gleitend-Machen wie in Frankreich).
Mit Hilfe solcher tiefenpsychologisch fundierter Erkenntnisse lassen sich Chancen und Grenzen von internationalen Strategien in den Märkten präzise analysieren. Ziel ist, die Unterschiede und Besonderheiten der Märkte genau zu ergründen und verständlich und übersichtlich aufzubereiten. Eine unabdingbare Voraussetzung für solche Untersuchungen ist der unverstellte Blick auf die jeweiligen landestypischen Eigenheiten – beim gleichzeitigen Versuch, eine möglichst große Homogenität und Vergleichbarkeit in den Märkten herzustellen. Das ist jeweils eine Gradwanderung, für deren Gelingen der psychologische Marktforscher bereit sein muss, sich auf die kulturspezifischen Besonderheiten der Märkte genau einzulassen. Idealerweise ergänzt er die Innensicht des Marktes durch eine kulturpsychologische Perspektive und durch einen direkten interkulturellen Austausch.
Auf diese Weise lassen sich die Potenziale internationaler Strategien ergründen, ohne dass kulturspezifische und regionale Eigenheiten, für die das Marketing Gewicht haben, unter den Tisch fallen.
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