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Kolumne von Oliver Tabino Ich schwör! Christkind gibt's! Marktforschung im postfaktischen Zeitalter

Neulich in der postfaktischen Marketing-Präsentation:
Die Gen Z hasst Marken!
Krass. Woher wissen Sie das?
Habe ich gehört.
Aha!? Ergebnis einer Studie?
Neee, Alder, bei den Simpsons. Oder warten Sie, das war so ein Post bei Facebook.
Hm, Facebook-Post? Und woher kam der Post?
Von dem Apple-Fuzzi. Jobs oder so.
Genauer haben Sie es nicht?
Doch. Habe es in meiner Future of Marketing What’s App Gruppe geteilt. Sieht doch voll echt aus. Das ist doch dieser Jobs. Zitat vom Juli 2016. Hat er gesagt. Ganz sicher.
Oh Mafo-Baum, oh Mafo-Baum, wir dürr sind deine Blätter ...
Was ist das für 1 Mafo-Leben (Das Meme des Jahres von sueddeutsche.de) fragt man sich vielleicht in einer Zeit, in der "postfaktisch" zum Wort des Jahres gewählt wurde. Markt- und Marketingforschung ist logischerweise völlig überflüssig, denn Fakten dienen nur noch dazu, sich darüber lustig zu machen. Repräsentativität? Wie lustig, eine Twitter-Poll reicht doch! Rekrutierung nach vorher definierten Kriterien? Voll bescheuert. Ich frage einfach mal meine Facebook-Fans – das muss reichen. Einen ausgebildeten Moderator in einer Gruppendiskussion einsetzen? Pure Geldverschwendung. Der, die, das – wer, wie, was – wieso weshalb warum? – wer nicht fragt bleibt dumm. Das lernt man doch schon in der Sesamstraße.
Seit gefühlt 15 Jahren wird in Kommentaren das Ende der Marktforschung postuliert. Oder seit Neuestem das Bild vom Marktforscher als Häschen vor der Digitalisierungs-Schlange bemüht. Die Demoskopie hat im Zuge von Brexit und der Trump Wahl ihr Fett abbekommen. Jetzt auch noch postfaktisch. Das muss das Ende sein. Fakten waren und sind doch das Einzige was Marktforscher können. Oder? Wenn wir uns in einer postfaktischen Ära befinden, dann sind wir im Marketing Himmel angekommen. Storytelling ist das Zauberwort. Wen interessieren Fakten? Das Marketing erzählt Geschichten und die Konsumenten oder Wähler glauben diese. Postfaktische Zombies eben. Die Aufgabe der Marktforschung beschränkt sich maximal darauf, die Effekte der Geschichten zu messen und zu optimieren, wenn man uns überhaupt noch braucht.
Mit Fakten, Fakten, Fakten die Elefanten vertreiben
Das mediale Einläuten der postfaktischen Ära setzt voraus, dass es eine faktische Ära gegeben hat und wir jetzt einem fundamentalen Wandel unterworfen sind. Unsere Entscheidungen beruhen also auf Gefühlen und nicht auf Tatsachen. Heureka möchte man ausrufen, das ist ja ganz was Neues. Oder hatte Helmut Markwort in den 1990ern doch Recht? "Fakten, Fakten, Fakten!", schallte es in einem Werbespot. Aber selbst vor 20 Jahren dürfte klar gewesen sein, nur durch Fakten wird kein Produkt verkauft oder keine Wahl gewonnen.
Versuchen wir mit einer kleinen Geschichte dem Faktischen oder Postfaktischen auf die Spur zu kommen: Ein Mann klatscht alle zehn Sekunden in die Hände. Ein anderer Mann fragt ihn nach dem Grund für dieses Verhalten. Der Klatscher antwortet: "Um die Elefanten zu verscheuchen.“ Auf die Bemerkung, dass es hier gar keine Elefanten gäbe, antwortet er: "Na, also! Sehen Sie?"
Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser an diese Geschichte. Sie wurde 1983 in der "Anleitung zum Unglücklichsein" (macht sich auch gut unter dem Weihnachtsbaum) von Paul Watzlawick veröffentlicht. Die Interpretation dieser Geschichte ist Folgende: Watzlawick wollte darauf hinweisen, dass der konsequente Versuch, ein Problem zu vermeiden, in Wahrheit zur Verewigung führt. Was diese Geschichte aber noch zeigt: Wir konstruieren unsere Wirklichkeit selbst. Der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Ernst von Glasersfeld und der Kybernetiker Heinz von Foerster nannten diese Überzeugung oder Position in der Erkenntnistheorie „Radikalen Konstruktivismus“. Erkenntnis ist für die Konstruktivisten eine rein subjektive Konstruktion. Sie hat nichts mit der realen Welt zu tun und sie liefert nicht einmal ein Bild der realen Welt. Die subjektive Konstruktion wird quasi passend gemacht zur Welt, wie ein Mensch sie sich vorstellt. Dabei spielt das Gedächtnis für den Neurobiologen und Neurophilosophen Gerhard Roth eine zentrale Rolle: "Das Gedächtnis ist das wichtigste Sinnesorgan: Das meiste, was wir wahrnehmen, stammt aus dem Gedächtnis. Wir nehmen stets durch die 'Brille' unseres Gedächtnisses wahr, denn das, was wir wahrnehmen, ist durch frühere Wahrnehmung entscheidend mitbestimmt." [1]
Kuscheln auf dem postfaktischen Ruhekissen
Das Postfaktische ist doch letztendlich vor allem ein kläglicher Erklärungsversuch für das scheinbar Unerklärliche. Menschen hören nicht auf Fakten und Tatsachen, warum sollte man dann überhaupt noch Dinge erklären oder argumentieren? Man muss als Unternehmen, Organisation, Marke oder auch als Partei oder Politiker aufpassen, dass das Mantra des Postfaktischen nicht zu einer Rechtfertigung für die eigene Unfähigkeit verkommt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen oder Zielgruppen zu verstehen, die auf den ersten Blick scheinbar widersprüchlich in ihrem Verhalten sind, ganz nach dem Motto: Sorry, das sind Postfaktische, das ist unheilbar, da kann man nichts mehr tun ...
Für die Menschen, die scheinbar so postfaktisch sind, geht es um ihre eigene Wirklichkeit und Wahrheit. Als Markt- und Marketingforscher müssen wir diese Wirklichkeiten und Wahrheiten verstehen. Diese mit dem Etikett „postfaktisch“ zu versehen, ist ein Armutszeugnis. Es geht nicht um Fakten oder Postfakten, sondern um Konstruktionen der Wirklichkeit. Daraus ergibt sich meines Erachtens eine zentrale Aufgabe für unsere Profession. Aber, neu ist das auch nicht: Konsumentenversteher oder Wählerversteher wollte ich persönlich schon immer sein.
Postfaktische Realitäten im Marketing?
Noch ein Weihnachtsmärchen zum Schluss: Als ich ein Jung-Marktforscher war, gab es eine Geschichte über einen Kunden. Nach einer Präsentation für einen Kampagnentest für die zentrale Kommunikationskampagne mit unterschiedlichen Routen und einem eindeutigen Gewinner, sah sich der Kommunikationschef dazu gezwungen die zweitplatzierte Route als Sieger zu küren. Die Argumentation war schlüssig, stichhaltig und nicht von der Hand zu weisen: Die Ehefrau fand die Route auf Platz 2 eindeutig besser. Die Geschichte hielt sich hartnäckig. Beweise gibt es nicht. Nur eine Legende. Eine nette Geschichte. Oder wie Professor Vincent Hendricks im März auf der GOR16 in seiner Keynote meinte: "Who cares about the truth, if the narrative is good."
Schöne postfaktische Weihnachten wünsche ich allen.
P.S.: In der ganzen Diskussion um Fakten und das Postfaktische habe ich über das Christkind im Web recherchiert. Und wissen Sie was? Es gibt es doch. Am 24.12. kommt es, klingelt mit seinem Glöckchen und bringt die Geschenke. Ich schwör!
Der Autor

[1] Gerhard Roth: Das konstruktive Gehirn: Neurobiologische Grundlagen von Wahrnehmung und Erkenntnis. In: Siegfried Schmidt (Hrsg.): Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2; Frankfurt am Main, 1992
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