Petra Kemmerzell & Saskia Billhardt, MR&S Ich habe heute kein Foto für dich - Migräne in den sozialen Medien

"Migräne ist ein Arschloch. Sie isoliert dich. Sie macht dich wütend", schreibt Ann-Kathrin Schöll am 14. August 2017 auf gofeminin.de. Die Autorin dieses Blogbeitrags setzt sich mit all den Vorurteilen und gut gemeinten Ratschlägen auseinander, die Betroffene seit Jahr und Tag zu hören bekommen. Auf diesen und ähnliche Beiträge sind wir im Rahmen von Recherchen zu unserer Eigenstudie zum Thema Migräne gestoßen.

Über das Thema Migräne wird im Alltag mit Freunden, Kollegen und der Familie gesprochen, über neue Therapieoptionen wird sowohl in der Fachpresse als auch in Wochenzeitungen wie der Zeit berichtet. Wie wird jedoch online über das Thema gesprochen bzw. geschrieben? Wer äußert sich überhaupt zu diesem Thema, über welche Symptome wird gesprochen und werden Therapieerfahrungen im Internet diskutiert? Welche Wellen schlagen neue Substanzklassen, wie die CGRPs (Calcitonin Gene-Related Peptide) im Netz? Fragen, die MR&S zum Anlass genommen hat, um unter Anwendung der Quick Search der Social Media Monitoring-Plattform Talkwalker die Chancen und Grenzen von Social Listening in Ergänzung zur klassischen qualitativen Marktforschung aufzuzeigen.

Soziale Medien spiegeln den gesellschaftlichen Umgang mit chronischen Erkrankungen und deren Akzeptanz sowie die persönlichen Emotionen wider

Der Beobachtungszeitraum dieses Social Listenings betrug insgesamt 13 Monate, von Juli 2017 bis August 2018 und die Suche wurde auf Deutschland und Beiträge auf Deutsch begrenzt. Da uns primär die Äußerungen und Beiträge der Betroffenen interessierten, wurde diese Studie auf "echte" soziale Medien beschränkt, Nachrichtenbeiträge, Newsletter und Fachartikel wurden aus diesem Grund ausgefiltert.

Auffällig ist zunächst, dass die Inzidenz der Migräne online quasi 1:1 die Realität widerspiegelt: Frauen sind etwa dreimal so häufig betroffen wie Männer und auch in unserer Stichprobe waren 65,3 Prozent der Autoren von rund 7.000 Beiträgen zu den Suchbegriffen (Query) Migräne und Migräne + Beschwerden / Symptome / Schmerzen weiblich. Auch in Bezug auf das Alter finden wir Bestätigung. Die schreibenden Personen sind zu 47,9 Prozent zwischen 18 und 24 Jahre alt und zu 28,6 Prozent zwischen 25 und 34 Jahre. Dies bestätigt das häufige Auftreten der Migräne bei jungen bis mittelalten Patienten, wobei die Nutzungshäufigkeit von sozialen Medien in dieser Altersgruppe sicherlich auch einen großen Einfluss hat.

Abbildung 1: Ausgabe der Daten zur Demographie des Queries "Migräne", ausgegeben von Talkwalker Quick Search
Abbildung 1: Ausgabe der Daten zur Demographie des Queries "Migräne", ausgegeben von Talkwalker Quick Search

Bei der qualitativen Betrachtung der Äußerungen zeigt sich jedoch, dass die Aktivitäten, die aufgrund des Migräneanfalls nicht ausgeführt werden konnten, mehr im Fokus stehen als die eher am Rande erwähnten Symptome und Beschwerden selbst. Die Schreibenden rechtfertigen sich für ihre Abwesenheit aus dem sozialen Netz, begründen ihren Rückzug aus der Familie, dem Sportprogramm sowie das Fernbleiben vom Arbeitsplatz. Gerade im bild-basierten Medium Instagram wird die Migräne nur im begleitenden Text erwähnt und dient den Followern als Begründung, warum der regelmäßige Post mit Bild vom Sportprogramm oder ein aktuelles Fotoshooting ausblieb. Damit bestätigen die Schreibenden den wahrgenommenen sozialen Druck, der sicherlich auch Ann-Kathrin Schöll zu ihrem Blog-Beitrag bewogen hat. Migräne heißt anscheinend noch immer Verweigerung, wird von Nicht-Betroffenen noch immer als persönlich beanspruchte und letztendlich nicht gerechtfertigte Auszeit interpretiert.

Die soziale Akzeptanz der Migräne scheint zumindest in den sozialen Medien angekommen zu sein, ein Fakt, der Betroffenen noch nicht bewusst zu sein scheint

Zumindest haben die Schreibenden das Gefühl, sich für ihren Ausfall aufgrund der Migräne rechtfertigen zu müssen, ein Gedankengang, den wir als qualitative Marktforscher auch in Tiefeninterviews mit Migränepatienten schon oft gehört haben. Müssen die Migräniker dieses Gefühl überhaupt haben?

Zur qualitativen Analyse dieser Frage wurden die Beiträge gefiltert, die das höchste Engagement aufwiesen, in diesem Falle definiert als die höchste Anzahl an Kommentaren und Likes. Bei der Analyse fiel auf, dass die Follower neben Komplimenten für das gepostete Bild auf Instagram Genesungswünsche schicken, mit den Schreibenden sympathisieren oder von eigenen Erfahrungen berichten. Der implizite Vorwurf "es sind doch nur Kopfschmerzen" konnte nicht gefunden werden. Dieses Ergebnis ließ sich auch auf Twitter wiederfinden. Interessanterweise wurden die Tweets, die das größte Engagement generierten, von Männern geschrieben. NebelNiek ein erfolgreicher Youtube-Star, dessen Videos bis zu 1,7 Millionen Mal angeklickt werden, berichtet auch auf seinem Twitter-Kanal von seiner Migräne und rechtfertigt und entschuldigt sich dafür, in den letzten Tagen kein Video gepostet zu haben. In insgesamt 229 Kommentaren werden Genesungswünsche getwittert und die Community bekundet ihr Verständnis, denn "Gesundheit geht vor".

Neben dem behandelnden Arzt spielt auch das Internet eine große Rolle bei der Suche nach einer geeigneten Therapie

Die Suche nach Therapien ergibt, dass auffällig häufig alternative Lösungen angepriesen werden: Edelsteintherapie mit Amethyst oder Tigerauge, die OSC-Diät (One Simple Change), Basen und Fasten-Kuren, Heilmittel wie Kräutertee, organischer Schwefel oder osteopathische Behandlungen, oder es wird zu einer Homepage verlinkt, die empfiehlt, kein Gluten mehr zu essen, um Migräne zu vermeiden. In Foren wird diskutiert, ob der Verzicht auf Süßstoff die Anfälle vermeiden hilft.

An dieser Vielzahl möglicher Hilfsmittel und dem hohen Engagement zu diesen Beiträgen kann abgelesen werden, dass die Patienten nach Therapien und Abhilfe suchen. Wie stark ist der Buzz rund um die heute führende Substanzklasse zur Behandlung der Migräne, die Triptane?

Abbildung 2: Instagram Beitrag von wellness.doc vom 11. April 2018

Insgesamt konnten zu den verschiedenen Triptanen (Sumatriptan, Rizatriptan, Almotriptan, Eletriptan, Naratriptan und Zolmitriptan) im Suchzeitraum 511 Beiträge aus Deutschland von deutschen Autoren identifiziert werden, wobei News-Seiten und Newsletter weiterhin ausgeschlossen wurden. Interessanterweise werden die Schilderungen zu den mit einer Migräneattacke einhergehenden Symptomen bei der gleichzeitigen Nennung eines Triptans sehr konkret. Es wird von dröhnenden Kopfschmerzen und Schwindel, aber auch psychischen Veränderungen, wie Traurigkeit und Aggressivität gesprochen. Auf Instagram beispielsweise klagt Welness.doc über eine schlimme Migräneattacke und fragt andere User nach deren Erfahrungen. In mehr als 30 Kommentaren tauschen sich die User über ihre Symptome aus und sprechen sich gegenseitig auch Therapieempfehlungen aus. So empfehlen sie den anderen Usern nicht nur ihr eigenes Triptan, sondern auch Nahrungsergänzungsmittel wie Magnesium und sogar Cortison.

Der Diskurs über die verschiedenen Triptane wird jedoch nicht nur von Betroffenen geführt, es finden sich auch Informationen von medizinischem Fachpersonal in den sozialen Medien. Dr. Tobias Weigl ist "Arzt und Schmerzforscher" und informiert auf seinem Youtube-Kanal "Video-Visite Dr. Weigl" über die 7 verschiedenen Triptane und deren jeweilige Wirkung. Das Video wurde bereits über 4.000 Mal angeklickt und in 18 Kommentaren werden Dr. Weigl fachliche Fragen gestellt.

In den sozialen Medien wird ausschließlich von eigenen Erfahrungen der Patienten berichtet, die Zukunft der Migränebehandlung wird im offenen Netz nicht diskutiert

Im nächsten Schritt dieser Social Listening Analyse wenden wir uns einer neuen Substanzklasse, den Calcitonin Gene-Related Peptiden (CGRPs) zur Migräneprophylaxe zu. Diese, zum Analysezeitpunkt in Deutschland noch nicht zugelassene Substanzklasse, generierte im Zeitraum von 13 Monaten in Deutschland insgesamt 573 Beiträge, wobei im Rahmen dieser Analyse News-Seiten und Newsletter ausdrücklich eingeschlossen wurden. Im Zeitverlauf konnten verschiedene Peaks in der Kommunikation über CGRPs identifiziert werden. Diese Peaks ergeben sich durch die verschiedenen Ereignisse zu den einzelnen Substanzen und bilden beispielsweise die Ankündigung der möglichen Zulassung eines CGRPs im Dezember 2017 und seine Zulassung in den USA im Mai 2018 ab. Bei den Beiträgen handelt es sich fast ausschließlich um Pressemitteilungen und Zeitungsartikel, User-generierter Content zu den CGRPs lässt sich zu dieser neuen Substanzklasse kaum finden. Beim Ausschluss der News-Seiten bleiben lediglich 298 Beiträge übrig, die jedoch keinen neuen Informationsgehalt liefern, da sie die bereits gesichteten Artikel auf verschiedenen sozialen Medienkanälen nur weiter verbreiten, ohne dass jedoch eine Diskussion darüber entsteht. Auf Twitter teilen 11 Autoren, darunter Teva Deutschland, die Schmerzklinik Kiel und zwei Selbsthilfegruppen zu Cluster-Kopfschmerzen in insgesamt 134 Beiträgen die Artikel.

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die neueren Substanzen zur Behandlung der Migräne bislang in den sozialen Medien noch gar nicht besprochen werden und sich online bislang nur Artikel und Nachrichten zu diesem Thema finden lassen.

Influencer-Kampagnen können eine Bereicherung für das Marketing darstellen und einen nicht zu vernachlässigenden Buzz kreieren

Was bedeutet Social Listening für Pharma-Unternehmen? Im Rahmen unserer Recherchen sind wir immer wieder auf die #initiativeschmerzlos gestoßen. Hinter diesem Hashtag verbirgt sich ein Influencer-Marketing der Firma Reckitt Benckiser (RB), die unter anderem Nurofen® (ein Schmerzmittel mit dem Wirkstoff Ibuprofen) vertreibt. Die Initiative möchte die Aufklärung zum Umgang mit Kopfschmerzen bei Jugendlichen vorantreiben und nutzt verschiedene Influencer in allen sozialen Kanälen. Deren Beiträge erreichen durch das hohe Engagement viele User und können somit als erfolgreich für die Kampagne eingestuft werden. Zum Zeitpunkt der Auswertung der vorliegenden Analyse wurde die Kampagne #initiativeschmerzlos von RB bereits offiziell eingestellt, der Hashtag wurde von den Usern jedoch weiterhin verwendet. Diese Situation zeigt zweierlei: erstens, das Netz vergisst wirklich nicht so schnell und zweitens, erfolgreiche Influencer erzeugen zuweilen einen Buzz, der sich ungeprüft verselbständigt und weiterverlinkt.

Weniger im sozialen Netz verbreitet ist die Migräne-App der Techniker Krankenkasse. Einzig auf Pinterest ist diese nachgewiesen hilfreiche App verlinkt und generiert so vergleichsweise wenig Buzz. Sie ist also praktisch das Gegenbeispiel zur #initiativeschmerzlos.

Auch pharmazeutische Unternehmen können und sollten die Chance nutzen, die sozialen Medien, einen immer wichtiger werdenden Lebensaspekt ihrer Zielgruppe, zu berücksichtigen

Die Beispiele der #initiativeschmerzlos und die Migräne-App zeigen, dass bereits erste Ansätze pharmazeutischer Unternehmen und Krankenkassen im Bereich Migräne bestehen, die sozialen Medien gezielt zu nutzen. Sicherlich ist das Potential dieses stets wachsenden Marktes noch nicht erschöpft. Gerade die Unternehmen, die derzeit Präparate zur Migräneprophylaxe in der Pipeline haben, könnten diese Kanäle nutzen, um den Diskurs über diesen neuen Behandlungsansatz aktiv mitzubestimmen. Durch Awareness-Kampagnen mit Influencer-Marketing, aber auch Gesundheitsspezialisten im offline Bereich, könnte nicht nur Aufklärung betrieben, sondern es könnte auch positive Aufmerksamkeit auf das Unternehmen gelenkt werden. Die Möglichkeiten sind vielfältig und der Markt nach unseren Analysen noch weitestgehend unbearbeitet.

Aber auch nach der Zulassung oder für bereits verbreitet eingesetzte Medikamente besteht Handlungsbedarf: ein konstantes "Monitoring" der eigenen Marke in den sozialen Medien kann Unternehmen helfen, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben, neue Trends zu entdecken, aber auch, mögliche Probleme frühzeitig zu erkennen, um gezielt Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.

Die klassische Marktforschung wird durch Social Listening und Big Data nicht obsolet, sondern stellt eine Bereicherung in der Methodenvielfalt dar

Social Listening ist das qualitativ "hochwertige Google" für uns Marktforscher und zugegebenermaßen verführerisch: auf Knopfdruck werden die Suchergebnisse in Form von präsentierfähigen Charts ausgespuckt und man kann diese interpretieren. Das ist spannend und eine Bereicherung für das Portfolio der Marktforschung. Gerade im Bereich Zielgruppenmerkmale kann Social Listening verstehen helfen, was die Menschen umtreibt und ihre Lebenswelt veranschaulichen. Social Listening sollte in Zukunft häufiger parallel oder im Vorlauf zu den unverzichtbaren klassischen Studien eingesetzt werden.

"Unverzichtbar" sagen wir hier nicht gebetsmühlenartig und um unsere eigene Existenz als qualitative Marktforscher besorgt, sondern aus Überzeugung, dass es auch in Zukunft forscherischer Expertise in Form von qualitativer Insightgenerierung und quantitativer Validierung bedarf, welche die Ergebnisse in den richtigen Rahmen setzt, die richtigen Schlüsse zieht und die passenden Anschlussfragen stellt. Nur so bietet ein Social Listening für den Kunden einen echten Mehrwert und ist nicht nur ein zusätzlicher Datenpunkt.

Unsere Analyse zum Thema Migräne zeigt deutlich, welchen Benefit Social Listening bietet: man kann sich von Trends und interessanten Insights "überraschen" und auch inspirieren lassen. Man kann Spuren identifizieren, aufnehmen und verfolgen. Aber dann kommt der für den Auftraggeber von Marktforschungsprojekten ausschlaggebende Moment: wer konkrete Dinge wissen will, muss weiterhin direkt fragen. Die im Netz gefundene Spur kann inspirieren, muss aber immer hinterfragt und validiert werden. Nur dann haben wir Marktforscher unseren Job gemacht und bekommen vom Kunden auch ein Foto für die nächste Runde, um im Bild unserer Überschrift zu bleiben.

Die Autorinnen

Petra Kemmerzell arbeitet seit fast 20 Jahren in der Marktforschung und ist Managing Partner bei Market Research & Services GmbH. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Konzeption, Durchführung und der Analyse qualitativer Marktforschungsstudien im Bereich Healthcare, aber auch in der Entwicklung eigener und kreativer Durchführungs- und Analysetools.

Saskia Billhardt setzte bereits in ihrem Psychologiestudium (M.Sc.) einen Schwerpunkt auf computervermittelte Kommunikation und Online-Forschung. Daher kümmert sie sich neben den klassischen Aufgaben der qualitativen Marktforschung auch um den Ausbau der onlinebasierten MR&S.

 

Diskutieren Sie mit!     

Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de