Ich glaube ... irgendwie?

Hartmut Scheffler (ADM, TNS Infratest)

Hartmut Scheffler

Von Hartmut Scheffler

In den letzten Wochen hatte ich das Vergnügen, viele Kongresse, Mitgliederversammlungen etc. von Organisationen oder mit Teilnehmern erleben zu dürfen, die sich mit Marketing oder Marktforschung beschäftigen. Relativ unstrittig war, dass die Digitalisierung Auswirkungen auf jeden hat (Verbraucher, Anbieter, Marken und Medien) und so gut wie alle Handlungsmuster auf Verbraucherseite wie Geschäftsmodelle und viele Wertschöpfungsketten verändert. Vergleichbar ist dies vielleicht mit der Erfindung des Automobils, der sich daraus ergebenden völlig neuen Möglichkeiten der Mobilität mit entsprechenden Veränderungen auf Verhalten, Geschäftsmodelle.

Interessanter als dies war bei all diesen Veranstaltungen, wie viele Sätze bei Vortragenden oder Diskutanten mit "ich glaube" anfingen, wie oft in den Wortbeiträgen das "irgendwie" vorkam.

Alle beschäftigen sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf Einstellungen, Verhalten, Geschäftsmodelle allgemein wie entsprechende Konsequenzen für Marketing, Marktforschung oder noch enger für Kommunikation, CRM im speziellen. Allen gemeinsam ist ein hohes Maß an Unsicherheit, ein deutliches mehr an Fragezeichen denn an Ausrufezeichen. Einige Beispiele?

Werden Marken in einer viel schnelleren Welt die gleiche Bedeutung haben wie bisher, an Bedeutung verlieren oder gar – als Orientierungshilfe – an Bedeutung gewinnen? Unabhängig davon: Wer führt die Marke, wer bestimmt Richtung und Entscheidungen: Der Hersteller, neuerdings und immer mehr der Verbraucher oder beide in einer vielleicht je Marke und Kategorie unterschiedlichen Mixtur?

Welche Rolle werden Massenmedien allgemein, werden TV, Radio und die verschiedenen Printgattungen zukünftig spielen? Werden sie zu Teilen überflüssig und durch Online-optimierte eins zu eins Kommunikation ersetzt oder werden sie gerade wichtiger, weil sie die Plattform, das Grundlagenwissen schaffen müssen für Verbraucher-basierte "On-Demand"-Entscheidungen, funktionierendes Targeting?

Wie gehe ich als Anbieter mit Social Media um: Nur beobachten, aktiv "mitspielen", als Werbeplattform nutzen? Mehr Push oder Pull, mehr Risiko, mit distanzierter Strategie oder mit offensiver Strategie?

Welche Rolle spielen vor allem im Bereich der Kommunikation Relevanz eines Themas und eines Absenders, Vertrauen in den Absender, aber auch Zeit- und Kostenbudget: Wie sieht der "Digital-genetische Code" eines Touchpoint aus? Schaffen die immer umfänglicheren Informationen auch entscheidungsrelevantes Wissen oder ist das Gegenteil der Fall: Der Informationsüberfluss verhindert, in Strukturen und Zusammenhängen zu denken, Wissen zu generieren und wissensbasierte Entscheidungen zu treffen ... er führt vielmehr zu Unsicherheit, Entscheidungsblockade?

Und um dem Ganzen noch die Spitze aufzusetzen: Werden sich nicht alle diese Fragen je nach Themenfeld, Produktkategorie und vielleicht sogar Marke in einer Kategorie unterschiedlich beantworten lassen müssen? Ich nehme einen o. g. Begriff noch einmal auf und formuliere es als These: Es wird auf Makroebene (allgemeine Erkenntnisse) wie auf Mikroebene (Markenführung) notwendig sein, einen digitalen Markencode zu entwickeln. Dieser wird Erfahrungen und Erkenntnisse und daraus abgeleitete Maßnahmen zu allen oben angerissenen Fragen und vermutlich noch vielen weiteren enthalten.

Zusammengefasst und auf das Thema der Marktforschung fokussiert heißt dies, dass sich die Hersteller und die Marktforschung in einem Prozess des Trial and Error oder, optimistischer formuliert, des "learning by doing" befinden. Viele Diskussionen mit Auftraggebern zeigen mir dies. Niemals in den von mir überschaubaren letzten 20 bis 30 Jahren wurden so viele Forschungsfragen und Forschungsprojekte diskutiert und auch verabschiedet, bei denen Auftraggeber und Auftragnehmer der Marktforschung sich dessen bewusst sind, mit dem jeweils geplanten Projekt schon bei Projektanlage/Methode und Methodologie den einen richtigen Weg noch nicht zu kennen und ausprobieren zu müssen. Beide sind sich darüber hinaus auch häufig dessen bewusst, dass Erkenntnisse, "Wahrheiten" und Lösungen nur in Schleifen und manchmal mit Umwegen zu finden sind. Eben: learning by doing.

Dies klingt negativ: Ich sehe das Gegenteil! Alle Agierenden haben umfassendes Wissen, Forschungs- und Lebenserfahrung und meistens die notwendige Bereitschaft innovativ zu denken, Neues auszuprobieren. Wir befinden uns auch bei Marktforschung betreffenden Aufgaben und Fragen in einer hoch interessanten Zeit. Wir befinden uns gleichzeitig in einer Phase der Unsicherheit und des Suchens nach neuen Lösungen. Uns steht dabei umfassendes Know-how, Erfahrung und Offenheit, begründbare Skepsis wie Euphorie zur Verfügung. Wir – die Marktforschung – (in gleichem Maße Betriebs- wie Institutmarktforschung) ist mittendrin! Die Fragen, die mit unserer Hilfe zu beantworten sind (s. o.) sind bekannt und umfänglich – ambitioniert. Die Digitalisierung wird auch in der Marktforschung Geschäftsmodelle, Prozesse, Wertschöpfungsketten verändern. Aber die Marktforschung ist dabei, sie ist aufgerufen, aus dem "ich glaube" immer häufiger ein "ich weiß" zu machen, aus dem "irgendwie" ein "so". Es gibt Schlimmeres!

 

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