Michael Schiessl & Philip Bresinsky, eye square GmbH Have You ever clicked your mouse right HERE?

Seit dem Aufkommen des Werbebanners in den 1990er-Jahren sind Kommunikation im Digitalen und datengetriebenes Marketing für Werbetreibende und Agenturen mit Optimismus und Zweifeln gleichermaßen verbunden. Mithilfe der Neurosemiotik und ihren Analyseebenen imaginär, symbolisch und real bieten wir einen Zugang zum Verständnis der aktuellen Entwicklung an und skizzieren daraus folgende Herausforderungen für die Marktforschung.

Michael Schiessl, & Philip Bresinsky ©eye square
Michael Schiessl & Philip Bresinsky ©eye square

 

Am 27. Oktober 1994 erschien auf HotWired eine 468 x 60 Pixel große Grafik, die nur aus Text bestand. Dieser stellte die Frage: "Have You ever clicked your mouse right HERE?"

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Rechts davon befand sich ein Pfeil, der an den oberen rechten Rand zeigte. Dort stand grafisch abgesetzt, invers zur alten Print-Ordnung weiß auf schwarz, in Großbuchstaben: "YOU WILL". Diese imperative und autoreferentielle Grafik motivierte 42 Prozent der Besucher von hotwired.com dazu, genau das zu tun und mit dem Zeigfinger den Mouse Button zu drücken. Damit war einer der ersten Banner live gegangen, Teil einer Kampagne für AT&T, die höchst erfolgreich über alle Erwartungen hinausflog. Die beteiligten Kreativen kommentierten: "Beyond anything we had imagined."

Im Folgenden möchten wir mit Hilfe von drei Begriffen, die wir auf vereinfachte Weise aus der lacanschen Psychoanalyse in die Neurosemiotik übernommen haben, eine kleine strategische Karte formen, mit deren Hilfe die Herausforderung der datengesteuerten Kommunikation deutlicher werden. Die Begriffe, die wir verwenden sind: imaginär, symbolisch und real. Dabei bezieht sich imaginär auf die psychischen etwa impliziten Projektionen gegenüber dem Datengeschehen, symbolisch auf das, was die Daten über sich aussagen, und wie sie so ihren Wert angeben, und real auf das, was geschieht.

Im Imaginären bewirkte der erste Banner Projektionen von gewaltiger Spannweite. Es entzündetete sich an diesen "42 Prozent" ein Optimismus, der für die werbetreibende Industrie das Versprechen eines neuen, dichten, wirksamen Zugangs zu Zielgruppen gab und so eine neue Art der Begegnung zu ermöglichen schien, die alle bisherigen psychologischen und ökonomischen Modelle des Marketing alt aussehen ließ.

Der digitale Kontakt schien unmittelbar besser zu sein und nicht mehr wie in den alten Medien eine komplizierte Verbindung aus Aufmerksamkeit, emotional kognitiven Lernvorgängen und Handlungsprozessen zu benötigen – eben etwas, das mindestens so schwierig ist, wie die Beziehung zwischen Menschen.

Das Digitale versprach einfach und direkt zu sein und eine Gegenwart aus Rechner und Nutzer herzustellen, die ohne Streuverluste und Zufälligkeiten, ohne die Begrenzungen von Ort und Zeit auszukommen schien.

Neben den Werbetreibenden versprachen sich auch die Anbieter dieser Werbeformen ein gewaltiges Geschäft und es bestand die Hoffnung, dass sich etwa die aufwendige Produktion von Content digitaler Werbung leicht refinanzieren lassen wird.

Zwar ist dieses Phantasma beim Symptom des Banners verblasst, in veränderter Form setzt sich dieser Optimismus fort. So wird zurzeit bekanntlich gemutmaßt, dass Wahlen nicht mehr allein von mündigen Bürgern entschieden werden, sondern in hochwichtigen politischen Angelegenheiten – wie der Wahl des US Präsidenten oder der Entscheidung über die Zugehörigkeit zur europäischen Union – maschinelle Machbarkeit an die Stelle des aufgeklärten Subjekts tritt. 

Das Phantasma des Digitalen ist damit der treffsichere Kontakt, der ohne Zufälligkeit präzise seinen Willen bekommt. Das Phantasma einer totalen digitalen Präsenz, wie es der Philosoph Philipp Kleinmichl* nennt, so erregend und weit, dass es natürlich nicht nur die Machtfantasie zum Gegenstand hat, sondern auch deren Oppositionen Ohnmacht und Exklusion hervorruft – weniger bei denen, die Kommunikation treiben, sondern vielmehr bei jenen, bei der sie ankommt. 

Betrachtet man die Lage symbolisch, also aus dem Innenraum der Daten heraus, zeigt sich hier keineswegs ein ähnliches Leuchten, denn mit den vorhandenen Indikatoren tauchen vielfältige neue Probleme auf, allein schon die Frage, was der Kontakt ist - mehr noch die Frage, was Daten am Ende wert sind, ist allein datenbasiert und symbolisch ungelöst. Die schillernde Metapher von den Daten als dem neuen Öl vermittelt gut die fehlende Transparenz. Stellvertretend für die Werbetreibenden hat Marc Pritched von P&G diese Daten-Dunkelheit etwa letztes Jahr auf einer IAB (internet advertising bureau) Veranstaltung vorgetragen:

What finally put me over the edge was a conversation with a top executive from one of the major companies," Mr. Pritchard said. "After a long discussion, the executive said, 'I know you want us to get third-party verification from an accredited source, but you should know that there are many companies, including your competitors, who are 'leaning forward' and spending billions with us without that measurement.' At that moment, the image of my dad popped into my mind saying, 'If all of your friends jumped off of a cliff, would you jump too?"

"I had a moment of clarity," Mr. Pritchard continued," and replied, 'Well, hundreds of millions of dollars may not seem like a lot to you, but it's a lot to us. We've been leaning forward for the past several years. And it's going to stop unless you get validated, accredited third-party verification.'"

– erstaunlich selbstkritische, geradezu demütige Aussagen für einen US Manager. So gibt Pritchrad etwa zu, dass die von ihm geforderte Metrik Viewability nicht alles kann, aber immerhin mehr als etwa die Ad Impression ist.

Im Wesentlichen folgt die Bestimmung des symbolischen Werts des Digitalen heute dem alten Analogen.

Sie beruht auf empirischen Approximation, der Inkaufnahme von Fehlern und Zufälligkeiten.

Was aber ist real? 

Real ist, dass am Ende des Digitalen Menschen stehen. Und die sind weder so mächtig noch so ohnmächtig, wie sie es imaginieren. Allein der menschliche Körper stellt aufgrund der Zeitlichkeit und Begrenzungen seiner neuronalen Strukturen bereits einen schützenden Filter gegenüber einem Übermaß an digitalen Zudringlichkeiten dar; weiter weiß der Mensch, was er macht, und kann somit  Schemata, Strukturen und Kompetenzen im Umgang mit den digitalen Kontakten erwerben.

Real ist auch, dass Werbetreibende, trotz des Platzens von Imaginationen im Kern vom Digitalen nicht betrogen werden – Online wirkt, nur eben nicht maschinell. Real ist damit die Offenheit des digitalen Raumes. Es herrscht eben kein You will, das aus den Daten selbst kommt.

Angesichts dessen steht die Marktforschung vor der Herausforderung, dieses Reale zu messen und zu (be-)greifen. Traditionelle (explizite) Ansätze der analogen Welt besitzen jedoch im digitalen Kontext nur eine geringe Erkenntniskraft – anders gesagt:

Erkenntnisse über Banner-Werbung lassen sich nicht in einer Fokusgruppe gewinnen. 

Zwei Kompetenzen sind für das Verständnis des Digital Now notwendig: Zum einen die Anwendung impliziter Forschungsmethoden – dazu gehören unter anderem Eye-Tracking, Facial Expression Tracking, Reaktionszeitmessung; denn das Digitale wirkt insbesondere implizit also auf unbewusster Ebene. So konnten wir in verschiedenen Studien nachweisen, dass Display- bzw. Banner-Werbung jenseits von Klicks vor allem implizite Wirksamkeit entfaltet, die sich auf das Online(kauf)verhalten von Nutzern auswirkt. Stärker noch als im Analogen benötigen wir implizite Modelle, um das Verhalten von Menschen im Digitalen zu erklären. 

Zum anderen ist Digitalkompetenz notwendig, also Verständnis des Digitalen sowie der Einsatz von Methoden, die selbst aus dem Digitalen kommen. Das entscheidende für Werbetreibende ist, die menschlichen Gründe für Erfolg oder Misserfolg zu erfahren. Dies erreicht man durch die Kombination impliziter Modelle, digitaler Kompetenz und psychologischem Verständnis, das uns letztlich erlaubt, die über bloße Korrelationen hinausgehende Kausalität des Begehrens im Digitalen zu entschlüsseln.

* Philipp Kleinmichel: The phantasm of total digital presence

 

Die Autoren

Michael Schießl ist Diplom-Psychologe und CEO des 1999 in Berlin von ihm mit gegründeten Marktforschungsunternehmens eye square. Er arbeitet, forscht und publiziert zu Experience und impliziten Methoden, unterrichtet an Universitäten und ist gelegentlich im Fernsehen zu Fragen der Konsumpsychologie zu sehen. Michael Schießl ist im BVM Fachvorstand und beschäftigt sich mit dem Thema Leadership und Ethos. Außerdem sammelt er Kunst und berät als Business Angel Start Ups. 

Philip Bresinsky, Research Consultant eye square, ist Mitarbeiter der Unit Digital, Consulting & Strategy. Nach seinem Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation forschte er an der Universität der Künste Berlin zu kommunikativen Verbraucherschutzmaßnahmen. Erfahrungen in Marketing und PR sammelte er beim Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft ZAW und bei der Deutschen Werbewissenschaftlichen Gesellschaft DWG.

 

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  1. Gerald Falkenburg am 12.07.2018
    Ein Artikel mit großer kreativer Flughöhe, der zudem mit interessanten orthographischen Versionen von Mr. Pritchards Namen aufwartet.
  2. Gerald Falkenburg am 16.10.2019
    Ein Artikel mit großer kreativer Flughöhe, der zudem mit interessanten orthographischen Versionen von Mr. Pritchards Namen aufwartet.

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