Hat sich die Marktforschung neu zu erfinden? - Interview mit Edward Appleton (Avery Zweckform) und Hartmut Scheffler (TNS Infratest)

Hartmut Scheffler (TNS Infratest, ADM), Edward Appleton (Avery Zweckform)

Hat sich die Marktforschung neu zu erfinden? Diese Fragestellung wurde Anfang September in München von Vertretern der Instituts- und betrieblichen Marktforschung in Deutschland gemeinsam mit Jane Frost, CEO der britischen Market Research Society (MRS), erörtert. Zu den Diskutanten aus der Bundesrepublik gehörten Edward Appleton (Avery Zweckform), Hartmut Scheffler (TNS Infratest, ADM), Raimund Wildner (GfK Verein, BVM, Initiative Markt- und Sozialforschung), Michael Bartl (Hyve, BVM) und Jonathan Gable (BrainJuicer). Im Nachgang hatte marktforschung.de Gelegenheit zum Interview mit Edward Appleton und Hartmut Scheffler, die sich im Gespräch zu Status Quo und Perspektiven der Marktforschungsbranche äußerten. 

marktforschung.de: Herr Scheffler, Herr Appleton, Sie haben sich gemeinsam mit weiteren Kollegen kürzlich in München mit Jane Frost, CEO der britischen Market Research Society (MRS) getroffen. Der Roundtable stand unter der Fragestellung "Hat sich die Marktforschung neu zu erfinden?" – nun, hat sie das?

Hartmut Scheffler: Ja und nein! Ich sehe keinen Grund, warum die Marktforschung bisherige Ansätze, Regelungen, Regulierungen, Methoden etc. ad acta legen und quasi neu beginnen sollte. Aber natürlich hatte sich die Marktforschung seit vielen Jahrzehnten regelmäßig zu verändern und aufgrund der durch die Digitalisierung beschleunigten Entwicklungen hat sich dieser Veränderungsbedarf in den letzten Jahren erhöht und wird sich in den folgenden Jahren erhöhen. Ich möchte diese Notwendigkeit aber mit dem Markenbegriff der Selbstähnlichkeit beschreiben: Auf dem bisherigen Aufbauen und den neuen Anforderungen entsprechend anpassen. Was sicherlich bleiben muss, sind Interdisziplinarität und Qualitätsanspruch als Voraussetzung für valide und anwendbare Informationen. Was sich durchaus organisch deutlich erweitern wird, sind die methodischen Möglichkeiten und Ansätze. Was sich in jedem Fall ändern muss, ist eine noch stärker business-orientierte Herangehensweise, eine stärkere anwendungs- und ergebnisorientierte Vorgehensweise. Dazu gehört ein "frischerer" Auftritt, dazu gehört die Sprache der Auftraggeber und Adressaten der Informationen - also das so oft zitierte C-Level bzw. das Level C-1.

Edward Appleton: Eher ja, obwohl ich eine evolutionäre als revolutionärere Entwicklung sehe - wir müssen uns nicht komplett neu erfinden, eher weiterentwickeln, auf unseren analytischen Stärken aufbauen. Eins ist klar: die "Befragung" hat als Insights-Quelle definitiv ihre Monopolstellung verloren, wir werden sekündlich von einer Datenflut regelrecht überschwemmt. Diese Datenflut ist sicherlich problematisch – zu viel nutzlose Informationen - "Noise", vergleichsweise wenig Interessantes. Dennoch: die Vielfalt der "Insights-Quellen" explodiert. Denken Sie an Social Media, Mobile, Google Analytics, Predictive Analytics, Data Mining.

Unsere Rolle als Marktforscher wird künftig eine andere, hoffentlich wichtigere:  wir werden uns mit der Analyse von vielen verschiedenen Data Sets beschäftigen müssen, um Businessprobleme zu lösen.

Zudem: unsere Autorität als "Insights Experte" muss neu verdient werden, organisatorisch ist sie nicht mehr gesichert. Der Zugang zu Daten ist häufig frei verfügbar - wer will, kann sich relativ schnell seine eigenen Daten sammeln, analysieren, erste Schlussfolgerungen - valide wie invalide - ziehen. Die Hoheitsposition der Marktforschung als "Insights Gatekeeper" ist mehr als in Frage gestellt, aber die Palastrevolution ist schon längst geräuschlos passiert. Wir müssen uns in einer digitalisierten Welt neu definieren.

Auf betrieblicher Seite wird die Marktforschung weiter wachsen und gedeihen, wenn sie nah am Geschäft operiert, viele Disziplinen mit spezifischen Daten unterstützt und vor allem klar zeigt, welche wichtige Rolle wir bei Wachstums- und Innovationsprojekten einnehmen. Dies fordert sicherlich neue Skillsets, die sich jenseits der klassischen methodologischen Expertise des Marktforschers befinden – wir müssen uns also schon neu- und weiterbilden, und gewissermaßen damit eine Neu-Erfindung im positiven Sinne voranbringen.

marktforschung.de: Der Roundtable fand ja mit der britischen Market Research Society statt. Unterscheidet sich die Rolle bzw. Funktion der Marktforschung in England so grundlegend von der in Deutschland?

Hartmut Scheffler: Marktforschungshistorie, methodische Entwicklungen, ein starker Fokus auf Research on Research: Die Marktforschung in UK und Deutschland haben sehr viel gemeinsam - nicht zuletzt angetrieben durch die Internationalisierung bzw. Globalisierung der Marktforschung, die schon vor vielen Jahren mit den Big 3 in Europa - UK, F, D - begonnen hat. Aber natürlich gibt es signifikante Unterschiede: Die deutsche Marktforschung erscheint mir nach wie vor alles in allem etwas wissenschaftlicher und weniger business-orientiert als in England. Sie nimmt das Thema Datenschutz - getrieben auch durch den Gesetzgeber und die Gerichte - deutlich ernster: Kein Hindernis für die Marktforschung morgen, sondern aus meiner Sicht eine Voraussetzung angesichts der aktuell beginnenden Diskussionen vor dem Hintergrund von NSA, Big Data etc.

Weiterhin erscheint vielen die deutsche Marktforschung weniger innovativ bzw. kreativ in Entwicklung und Anwendung und vor allem im Ausprobieren neuer Ansätze und auch alles in allem etwas weniger kundenorientiert - vom Kundenproblem und -bedürfnis her kommend - zu sein. Dies ist natürlich ein Durchschnittsbild, in beiden Ländern durch "Ausreißer" in jeweils beide Richtungen gekennzeichnet. Zusammengefasst glaube ich, dass beide Länder voneinander auf unterschiedlichen Gebieten noch immer ein wenig lernen können.

Edward Appleton: In UK haben Marktforscher - wenn möglich - eine noch positiver besetzte Rolle als in Deutschland inne. Sie gelten häufig als kreativitätsstiftend, vor allem in der qualitativen Marktforschung. Marktforschung wird auf der Insel in kreativen Prozessen häufig sehr zentral positioniert, sie wird frühzeitig eingebunden. Man akzeptiert generell gesehen Neues, Innovatives ohne großes Umschweifen.

Vielleicht hat das mit der langjährigen Integration der Marktforschung in UK-Werbeagenturen zu tun. Viele UK-Werbeagenturen, inklusive Kreativ-Schmieden, kennen und begrüßen das "Account Planning Prinzip" - Kreative werden von möglichst agentureigenen Marktforschern - in Deutschland nennt man das "Strategic Planning", in UK heissen sie einfach "Planners" - beim Creative Briefing positiv beeinflusst, der Output ist damit automatisch volksnäher, was zu einer erhöhten Resonanz und damit besserer Kommunikation führen kann.

Wichtig erscheinen mir auch die Unterschiede im Berufstypus: in UK ist die Marktforschung eine bunte Mischung von Menschen aus allen möglichen akademischen Disziplinen: da findet man Mathematiker, Literaturwissenschaftler, Philosophen, Geschichtler, Physiker vor, um nur einige zu nennen. Es sind Akademiker, die sich nach dem Studium für Marktforschung interessieren, eine firmeneigene Berufsausbildung durchlaufen, um dann praxisnah und sicherlich sehr effektiv arbeiten zu können. Doktortitel werden häufig verschwiegen, ähnlich wie in den USA. In Deutschland hat man es häufig mit Soziologen oder Psychologen zu tun, die sicherlich fundiertes Wissen mitbringen, aber deren Sichtweise akademisch bedingt möglicherweise etwas enger ist, weniger disziplinübergreifend.

Ich will nicht von Denkschablonen reden, aber die Bereitschaft, Neues auszuprobieren, scheint mir häufig nicht so eindeutig vorhanden. Man sucht immer eine Legitimation, eine Autoritätsquelle. Ich glaube, in Zukunft wird das als Geisteshaltung weniger nützlich sein - dafür ist der Wandel einfach zu schnell, sowohl im betrieblichen als im gesellschaftlichen Leben.

marktforschung.de: Sie haben das Thema "Datenschutz" bereits angesprochen, Herr Scheffler: Fair Data, die Initiative der MRS zur Gewährleistung von branchenweiten Qualitätsstandards für die Datenerhebung, gibt der Branche in England laut Jane Frost ein Alleinstellungsmerkmal, das Zugang zu neuen Branchen und Disziplinen ermöglicht. Ist Deutschland beim Thema Datenschutz und -Sicherheit da nicht mindestens genau so weit?

Hartmut Scheffler: Ja, was Datenschutz, Richtlinien und auch die Durchsetzung durch Gerichte betrifft. Es geht hier also nicht darum, dass wir in der Regulierung Nachholbedarf haben: Wohl aber immer noch beim Thema "Awareness" bzw. "Bekanntmachen". Dafür kann man mit Sicherheit von "Fair Data" eine Menge lernen: Angefangen vom sehr eingängigen Namen über die personelle und finanzielle Ausstattung der Initiative bis hin zu den einzelnen intelligenten und gut aufgesetzten Maßnahmen. Wir sollten uns in Deutschland bei Positionierung und Imageveränderung von Marktforschung Einiges vom Fair Data-Konzept abschauen!

Edward Appleton: Als betrieblicher Marktforscher sehe ich die das Thema "Daten-Qualität" als Grundvoraussetzung, dafür sollen die beauftragten Institute sorgen - mein Interesse gilt zu 100 Prozent der Analyse und Auswertung, die Identifizierung der Insights, die uns im Kampf um Marktanteile und bei Innovationsprozesse weiterhelfen. Dafür werde ich bezahlt, entsprechend ist meine Interpretation von Qualität - wachstumsfokussiert, vorwärtsdenkend, businessnah.

marktforschung.de Auch das Stichwort "Internationalisierung" ist bereits gefallen - in diesem Kontext ein ja nicht ganz unproblematisches Thema. Das deutsche Datenschutzrecht nutzt ja wenig, wenn Umfragen hierzulande augenscheinlich von in Deutschland ansässigen GmbHs durchgeführt werden, der eigentliche Geschäfts- oder Vertragspartner laut Kleingedrucktem dann aber der Mutterkonzern mit Sitz in den USA ist. Wie kann man dem begegnen?

Hartmut Scheffler: Das Thema ist eigentlich längst geregelt: Für Marktforschung in Deutschland gelten unabhängig davon, ob dies durch in Deutschland ansässige Institute bzw. Unternehmen geschieht oder durch solche aus dem Ausland in Deutschland, die deutschen Datenschutzbestimmungen und Richtlinien. Ein Problem ist hier nicht die theoretische Regelung, sondern die gelebte Praxis: Zum einen "wo kein Kläger, da kein Richter", zum anderen sind andere Länder und Institute in solchen Fällen dann oft sehr weit und z. B. eine Rüge durch den Rat der Deutschen Markt- und Sozialforschung wenig wirksam.

Damit haben wir uns abzufinden und sollten uns in der Branche als Auftraggeber wie Auftragnehmer einfach an die eigene Nase fassen: Solche Untersuchungen bzw. Probleme gäbe es ja gar nicht, wenn Auftraggeber wie Auftragnehmer nicht Ansätze in der Grauzone oder gar in der schwarzen Zone verlangen und/oder durchführen würden: Also eine Frage der Selbstdisziplinierung und Selbstbeschränkung.

Edward Appleton: Ich sehe Internationalisierung als Chance – es gilt, möglichst hohe, gerne deutsche Qualitätsstandards stolz und pro-aktiv in die Welt hineinzutragen, statt sich vor der digitalisierten und globalisierten Welt zu bangen. Die Autoindustrie liefert uns ein hervorragendes Modell, wie man von Globalisierung profitieren kann. Jeder Marktforschungs-Auftraggeber muß für sich selber die Qualitätsfrage beantworten und ein vernünftiges Preis-Leistungs Verhältnis aussuchen. Dazu muss ich aus Kundensicht sagen: es gibt hierzulande erschreckend große Preisunterschiede bei sehr ähnlichen Anbieter-Leistungen - möglicherweise übersteigt das Angebot die Nachfragen, was natürlich zu einem Preisverfall führt.

marktforschung.de: Die rückläufige Teilnahmebereitschaft ist ein wichtiges Thema; auf der anderen Seite hören wir immer wieder von Institutsseite, dass eines der wesentlichen Probleme darin besteht, in den Unternehmen auf der schon zitierten C-Level-Ebene Gehör zu finden, also Marktforschungsergebnisse in den obersten Führungsetagen sinnhaft zu vermitteln. Wie bewerten Sie diesen Aspekt?


Hartmut Scheffler: Dies sind weitestgehend zwei ganz unterschiedliche Punkte: Die abnehmende und mittlerweile häufig sehr geringe Teilnahmebereitschaft ist ein methodisches Problem. Ich halte nach wie vor das Thema der Repräsentativität, d. h. der Verallgemeinerbarkeit auf die jeweilige Grundgesamtheit für ein ganz wichtiges Element aussagekräftiger Forschung - auch wenn dies in immer mehr oft sehr oberflächlichen Diskussionen zugunsten einer nebulösen Forderung nach mehr "Insights" hintangestellt wird.

Für die geringe Teilnahmebereitschaft gibt es selbstgemachte und fremde Gründe: Der wichtigste fremde Grund ist seit Jahrzehnten vor allem das Telefonmarketing und die teilweise eindeutig verbotene werbliche Ansprache per Telefon - zusehends auch online. Auch hier gilt aber im Hinblick auf die Absender: Wo keine Kläger, da kein Richter. Unabhängig von der Bezeichnung dieser Aktionen wird dies in der Bevölkerung mit Umfragen bzw. Befragungen, vielleicht auch ausdrücklich mit Marktforschung gleichgesetzt und die enorm aufgebaute Reaktanz gegenüber solchen Störungen wird dann auch auf die anonyme, von fremden Forschungstätigkeiten garantiert getrennte Marktforschung übertragen.

Und dann kommt das selbstgemachte Argument: Viel zu lange, oft langweilige Fragebögen, die für jeden Befragten eine Zumutung sind und diese Menschen im Wiederholungsfalle zur Verweigerung und parallel dazu zu entsprechenden negativen Kommentaren und Empfehlungen im Bekannten- und Freundeskreis führen.

Von dieser Thematik gänzlich unterschieden ist die Frage, wie Marktforschung bzw. Marktforschungsergebnisse auf C-Level Gehör finden können. Dies hat viel mit dem Image und damit den Erwartungen an Marktforschung zu tun. Es hat genauso viel mit den Erfahrungen zu tun, also der Tatsache, dass es der Marktforschung in den Unternehmen und in die Unternehmen hinein nicht ausreichend und noch besser gelungen ist, die Relevanz von Marktforschungsdaten für eine Vielzahl von Entscheidungen strategischer und vor allem auch immer wieder taktischer Natur zu beweisen.

Für diesen Beweis bedarf es in Richtung des C-Levels nicht methodischer Beschreibungen und Diskussionen, sondern einer klaren Umsetzung der Erkenntnisse aus Marktforschungsprojekten in die Entscheidungsfelder und Businessprobleme auf Entscheiderebene hinein: In einfacher Form, in sprachlich und grafisch eingängiger Form, in eindeutiger Form. Insgesamt handelt es sich also um eine Kombination aus gemeinsam anzugehender Positionierung und Imageveränderung einerseits und täglich gelebter und gelieferter Praxis andererseits.

Edward Appleton: Zum ersten, die Problematik der schwindenden Befragten-Teilnahmebereitschaft. Aus meiner Sicht existiert das Problem nur begrenzt. Es gibt viele, viele Menschen die gerne an unseren Unternehmensentscheidungen durch Marktforschung "teilnehmen" wollen. Wir bei Avery Zweckform verfügen über unser eigenes Panel an Menschen, mit denen wir regelmäßig kommunizieren, involvieren, befragen. Natürlich kann man nicht jedes Projekt darüber führen - aber der Trend, dass Endverbraucher gerne mit Unternehmen kommunizieren, solange sie richtig eingebunden werden, scheint mir weiter stark voranzumarschieren. Insofern teile ich die erste Sorge wenig.

Zum zweiten Thema, Marktforschung auf der C-Suite: Dies hat für mich eine hohe Priorität. Nur wenn unsere Stimme häufig und mit hoher Glaubwürdigkeit in den Entscheidungsgremien gehört wird, werden wir die Portion Anerkennung für unsere Leistungen sichern können. Präsenz ist eine Kernvoraussetzung für Einfluss. Um dies in Zukunft besser zu erreichen, sind eine Reihe von Aktivitäten nützlich, die ich hier nicht weiter erötern kann. Es gibt aber Techniken und Prozesse, die in meiner Erfahrung hier sehr gut funktionieren.

marktforschung.de: Unternehmen aus der Marktforschung finden in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht statt – mit Ausnahme der GfK vielleicht gibt es kaum "Markenbekanntheit". Anders sieht es bei den Unternehmen aus dem Bereich Politik- und Meinungsforschung aus, allerdings ist - wie jüngst im Rahmen der Bundestagswahl - immer wieder zu beobachten, dass Medienvertreter und Politiker Gefallen daran finden, eine Art "Meinungsforscher-Bashing" zu starten und den Instituten vorzuhalten, wann und wo vermeintliche Fehler in der Datenerhebung zu falschen Prognosen geführt haben.

Ohne die Aufgabenfelder von Meinungs- und Marktforschung in einen Topf werfen zu wollen - gleichwohl ich glaube, dass der thematisch nicht involvierte Bürger hier wenig differenzieren wird - für das öffentliche Bild der Branche ist das doch wenig förderlich. Was kann man aus Ihrer Sicht dagegen tun?

Hartmut Scheffler: Ich bin der Meinung, wir müssen sogar in drei Bereiche unterteilen: Die in den Medien speziell vor Wahlen extrem aktivierte Status-Quo-Forschung - von vielen fälschlicherweise als Prognose tituliert - , die ebenfalls in den Bereich der Politik- und Sozialforschung gehörende Sozialforschung - über die aber ebenfalls nicht selten in den Medien berichtet und diskutiert wird - und die überwiegend "im Verborgenen" stattfindende Marktforschung. Die Sozialforschung ist ein Paradebeispiel für äußerst anspruchsvolle und nur in sehr seltenen Fällen mit negativem Touch diskutierte Umfrageforschung. Hier liegt - ob gleichzeitig in den Medien veröffentlicht bzw. diskutiert oder nicht - sicher kein Problem.

Die Marktforschung findet im Verborgenen statt und hier liegt das Problem in einer adäquaten Bekanntmachung der Hintergründe, der Leistungen, der Notwendigkeiten für eine offene Informationsgesellschaft. Dieser Aufgabe stellt sich die vor einigen Jahren gegründete Initiative für Markt- und Sozialforschung (IMSF) mit ersten Erfolgen: Zugegebenerweise besteht hier aber weiterer Handlungsbedarf - siehe das Lernen vom Fair Data-Konzept in England -  inklusive Finanzierungsbedarf. 

Das dritte Thema ist die gerade im Zusammenhang mit der aktuellen Wahl stattfindende mediale Inflationierung von Status-Quo-Daten bei einer gleichzeitigen Inflationierung der Kritik daran. Hier würde ich mir zweierlei wünschen: Zum Einen, dass die dort aktiven Institute sich endlich wieder einen Ehrenkodex verschaffen - z. B. sieben bis zehn Tage vor der Wahl keine neuen Daten, z. B. eine einheitliche Sprachregelung von Aussagekraft und Grenzen der Aussagekraft - und diesen Ehrenkodex auch ihren - medialen - Auftraggebern gegenüber aufrechterhalten. Ein gutes Beispiel vor dieser Wahl war die gleichzeitige Verweigerung der ARD und der sie beliefernden Infratest Dimap, den Umfragehype bis unmittelbar vor dem Wahltag mitzumachen - u. a weil es hinsichtlich der Frage der Wahlbeeinflussung durch solche Umfragen keine gesicherten Erkenntnisse gibt.

Der zweite Wunsch geht dahin, mehr Grundlagenforschung gerade zu diesem letztgenannten Thema zu machen, von Verfahren der Marktforschung in Richtung Forecasting und Preditive Analysis zu lernen, also wirklich klassisches Research on Research für die Politikforschung.

Edward Appleton: Wir sind als Branche in der Tat kaum sichtbar. Wichtiger noch, unser Profil, soweit vorhanden, ist nicht sonderlich positiv: wir gelten als Erbsenzähler, analytisch-introvertiert, etwas altmodisch, dem Zeitgeist hinterherhinkend.

Vielleicht ist es keine realistische Aufgabe, dieses eher negative Image in der breiten Öffentlichkeit korrigieren zu wollen - das wäre eine Mammuth Aufgabe. Für zwei Zielgruppen sehe ich allerdings durchaus Handlungsbedarf: bei Studenten und Marketing-Entscheidern. Beide beeinflussen maßgeblich unsere Zukunft.

Was man für eine Verbesserung der Mafo-Sichtbarkeit, eine Image-Verbesserung, tun kann, ging klar aus dem Gespräch mit Jane Frost hervor: ein professionel organisierter, klar fokussierter strategischer Marketing-Ansatz ist nötig. Das Budget muss adäquat sein, man muss kontinuierlich in zielgruppenspezifische Kommunikation investieren, Experten in den relevanten Kommunikationsdisziplinen müssen herangezogen werden, Branding Expertise ist unabdingbar.

Marktforschung braucht eine professionelle Vermarktung - dieses Skillset haben wir in den allerwenigsten Fällen. Einzelne, eher innovative Institute in Deutschland machen hier allerdings einen sehr guten Job - ob sie sich allerdings als Marktforschungsinstitute sehen, ist fraglich.

marktforschung.de: Der Ruf nach Veränderungen in der Branche wurde in den letzten Jahren in schöner Regelmäßigkeit laut. Themen wie neue Technologien haben die Debatte ebenso befeuert wie die viel diskutierte Frage, ob Marktforscher ihre Kernkompetenz Richtung Beratung erweitern sollten. Zudem hat jüngst die Diskussion um die Maritz-Rüge gezeigt, dass nicht alle in der Branche davon überzeugt sind, dass das Anonymisierungsgebot als ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal der Marktforschung ausreichend ist, um langfristig Geschäft zu generieren.

Nun könnte man ketzerisch sagen, viel bewegt haben die Diskussionen bislang nicht. Kritiker äußern zudem, dass sich die Branche darin viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, anstatt wirklich auf Anforderungen und Gegebenheiten seitens der Auftraggeber zu reagieren. Wie ist Ihre Einschätzung?

Hartmut Scheffler: Schaut man sich die Aktivitäten gerade der Marktforschungsverbände ADM und BVM an, so könnte dieser Eindruck einer starken Selbstbeschäftigung entstehen. Der jüngste Fall, die Rüge gegen Maritz, hat dies in den Augen einiger Marktforschungskollegen, Auftraggeber, sonstiger Kommentatoren noch bestätigt. Dieser Eindruck ist inhaltlich falsch, möglicherweise muss aber auch hier seitens der Verbände an der eindeutigen und auch intensiveren Information gearbeitet werden. Warum inhaltlich falsch? Die Aufgabe der Verbände war immer eine dreifache und dies wird auch in Zukunft unbestritten bleiben müssen: Für Qualität zu sorgen, Qualitätsstandards festzulegen etc., weil sonst die Informationen definitiv ihr Geld nicht wert sind. Als Zweites dafür zu sorgen, dass der Markt- und Sozialforschung die bestehenden Privilegien auch in der neuen digitalen Welt - siehe EU-Diskussion! - erhalten bleiben und dass sehr eindeutig anonymisierte Forschung mit entsprechenden Privilegien von nicht-anonymisierter Forschung ohne solche Privilegien unterschieden wird. Letzteres bedeutet nicht, dass die nicht-anonymisierende Forschung qualitativ schlecht ist: Ihr fehlen aber - und das grenzt die Möglichkeiten z. B. bei der Stichprobenziehung ein - die Privilegien.

So langweilig dieses Thema manchen erscheint - mir scheinen diejenigen umso lauter zu posaunen, die sich mit dieser Thematik am wenigsten beschäftigt haben! -, so notwendig sind hier klare Regelungen. Diese sollen Umfragevarianten und –möglichkeiten nicht einschränken, sondern für die anonymisierte Marktforschung weiterhin ein Maximum an Möglichkeiten eröffnen. Das dritte Aufgabenfeld der Verbände, der Institute, der Marktforschung insgesamt ist die Außendarstellung in Richtung der Fachöffentlichkeit, der Multiplikatoren aus Politik, Medien und Rechtsprechung und in Richtung der Öffentlichkeit. Dass hier neue Schwerpunkte gesetzt werden müssen, ist an anderer Stelle dieses Interviews schon ausreichend erwähnt.

Solange im BDSG in der Kombination von Marktforschung und dem Gebot der Anonymisierung Privilegien gewährt werden - und im Falle der Nicht-Anonymisierung nicht von Marktforschung gesprochen werden kann und die Privilegien entfallen -, so lange ist die Anonymisierung sowohl ein Alleinstellungsmerkmal der Marktforschung als auch für die Generierung von Geschäft nicht nur nicht blockierend, sondern Voraussetzung für Marktforschungsgeschäft.

Zu Ihrer Frage, zu Ihrem Stichwort in Richtung Beratung: Ich glaube, hierzu in diversen Interviews schon eindeutig Position bezogen zu haben und an den dort gemachten Aussagen hat sich auch nichts durch die aktuellen Entwicklungen geändert: Marktforscher haben sich nie als Berater in Konkurrenz der klassischen Beratungsinstitute verstanden. Marktforscher haben sich schon immer als datenbasierte Berater verstanden, d. h. einmal als Berater in Richtung der richtigen und aussagekräftigen Methoden und Daten und vor allem auch als Berater in Richtung auch der datenbasierten Schlussfolgerungen für Markenführung und Marketing. An diesem Anspruch hat sich nichts geändert und wird sich nichts ändern und an diesem Anspruch wird die Marktforschung heute und morgen gemessen werden.

Eine letzte Anmerkung: Ich glaube, dass Marktforschung - die Marktforschungsabteilungen der Auftraggeber, die Institute, die Verbände - zusätzlich zu den oben genannten Punkten wie Qualitätssicherung, Datenschutz, Kommunikation viel stärker vom Kunden, von den Marketingherausforderungen, von den Erwartungen der Endabnehmer auf C-Level und C-1-Level her denken müssen und dies auch sichtbar kommunizieren und leben müssen. Ich glaube auf Basis vieler Gespräche - zuletzt auch auf der ESOMAR-Konferenz in Istanbul -, dass das Problem erkannt ist. Damit es gebannt wird, bedarf es aber eines langen Atems, einer Kollaboration von Nachfragern und Anbietern, einer Disziplinierung zur Vermeidung der angesprochenen selbstgemachten Fehler und Probleme und auf dieser Grundlage und unter dieser Voraussetzung dann der entsprechend abgestimmten Initiativen in den Unternehmen und den Verbänden.

Edward Appleton: Ja, es ist sehr viel über das Thema "Marktforscher als Berater" geschrieben und geredet worden. Hat sich viel getan? Ist ist sinnvoll, darüber zu reden?

Ich befürchte, das Tempo des Transformationsprozesses ist eher langsam - möglicherweise dadurch bedingt, dass der Dialog zwischen Auftraggebern und Instituten häufig nicht strategisch genug stattfindet. Auftraggeber wie ich fokussieren auf Business-Impact, auf Insights-Generierung, Institute demgegenüber reden zum überwiegenden Teil über Methodologie. Diese Kluft scheint nach wie vor sehr breit zu sein.

Ist eine Thematisierung überhaupt sinnvoll? Da bin ich mir nicht ganz sicher. Einerseits sehe ich schon die Chancen, die wir als Marktforscher in einer Ära von Daten-Überflutung wirklich gut ergreifen könnten - wer ist dafür eher prädestiniert? Andererseits bin ich mir schon bewußt, dass viele Marktforscher eben vom Typus das sind, was sie wohl bleiben werden - sympathisch, team-orientiert, vertrauenswürdig, fachlich hervorragend, aber schlecht in der Selbstvermarktung.

Vielleicht stellen wir uns nochmal die Frage in fünf Jahren, und blicken auf die Entwicklung zurück. Es bleibt spannend.  

marktforschung.de: Das bleibt es definitiv! Herr Scheffler, Herr Appleton, herzlichen Dank für das ausführliche Gespräch und Ihre Einschätzungen!

 

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