Hartmut Scheffler: "Markt- und Meinungsforschung hat mit klassischer Werbung und Verkauf nichts zu tun"
Hartmut Scheffler, Managing Director der TNS Infratest Holding GmbH sowie Vorstandsvorsitzender des ADM Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e.V., hat sich im Interview mit marktforschung.de zu den aktuellen Diskussionen zum Thema Datenschutz und Telefonwerbung und den damit einhergehenden Konsequenzen für die Marktforschungsbranche geäußert.
marktforschung.de: Herr Scheffler, wie bewerten Sie die aktuellen Diskussionen um die Novellierung des UWG, das Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung, das Bundesdatenschutzgesetz, die Datenschutzproblematik insgesamt und die daraus resultierenden möglichen Konsequenzen für die Markt- und Meinungsforschung?
Hartmut Scheffler: Es ist unzweifelhaft, dass eine Reihe von schwarzen Schafen mit ihren Aktivitäten in der Bevölkerung zum Einen eine extrem negative Einstellung zur Telefonwerbung hervorgerufen und zum Anderen ein ausgeprägtes Misstrauen hinsichtlich des Datenschutzes geschaffen haben. Nun ist Markt- und Meinungsforschung aber keine Werbung, und sie will nichts verkaufen! Markt- und Meinungsforschung arbeitet auf der Grundlage anonymisierter Daten, personenbezogene Daten werden nicht weitergegeben.
Wenn man sich dann vor Augen führt, dass unser gesamtes politisches und wirtschaftliches System von Informationen lebt und wir der offenen Informationsgesellschaft politische und wirtschaftliche Erfolge verdanken, dann ist es nicht nur für unsere Branche bedauerlich, wenn die Möglichkeiten der Markt- und Meinungsforschung durch die neuen Gesetze eingeschränkt werden sollten.
Es ist darüber hinaus – und dies ist gesamtgesellschaftlich sicherlich der wichtigere Punkt – für unsere offene Informationsgesellschaft, für die benötigten Informationen in Politik und Wirtschaft von großem Nachteil. Hier liegt meines Erachtens die Gefahr eines "Kollateralschadens" vor. Die Markt- und Meinungsforschung war nicht Verursacher der für notwendig erachteten gesetzlichen Änderungen, sie stand und steht nicht im Mittelpunkt der Vorwürfe, sie könnte aber mit den genannten negativen Auswirkungen "mit gefangen und mit gehangen" werden.
marktforschung.de: Haben Sie eine Vermutung, warum Werbung und Markt- und Meinungsforschung häufig gleichgesetzt werden?
Hartmut Scheffler: Dazu habe ich drei Anmerkungen: Wenn Sie als Privatperson ständig mit werblichem Hintergrund - also mit dem Ziel eines Verkauf, eines Abonnements etc. - angerufen werden und dann einmal von einem Markt- und Meinungsforschungsinstitut und wenn fast jedes Mal am Anfang der Einstieg etwas mit "Umfrage" oder "Fragen" zu tun hat, dann gehen wir von der Markt- und Meinungsforschung mit unseren Anrufen zu Forschungszwecken in dem Wust der – übrigens zumeist schon jetzt verbotenen – werblichen Anrufe unter und werden mit diesen gleichgesetzt. Man könnte sagen: Pech gehabt.
Zum Zweiten ist es natürlich so, dass speziell die Marktforschung den Wirtschaftsunternehmen mittelbar dabei hilft, die optimalen Produkte zu entwickeln und diese in bestmöglicher Weise werblich zu kommunizieren und zu vermarkten. Markt- und Meinungsforschung dient also unter anderem auch der Optimierung von Werbung und Markenkommunikation, einer wesentlichen Voraussetzung für erfolgreiche Unternehmen und damit für die wirtschaftliche Prosperität unseres Landes. Die Markt- und Meinungsforschung arbeitet natürlich auch für die Werbung, sie ist und macht aber keine Werbung.
Womit ich zum dritten Punkt komme, der nicht oft genug in möglichst einfacher Weise vermittelt werden muss: Markt- und Meinungsforschung wirbt nicht für Produkte und Dienstleistungen, sie verkauft nicht, sie bahnt auch keine Verkäufe an. Sie hat mit klassischer Werbung und Verkauf nichts zu tun. Warum sie trotzdem so häufig damit gleichgesetzt wird, ist aus den genannten Gründen nachvollziehbar, wird dadurch aber nicht richtiger.
marktforschung.de: Die größte Befürchtung im Augenblick ist ja bei vielen, dass persönliche Daten und Antworten auf konkrete Fragen weitergegeben oder sogar verkauft werden. Welche Position hat hier die Markt- und Meinungsforschung?
Hartmut Scheffler: Die Markt- und Meinungsforschung hat ein umfassendes und verbindliches System berufsständischer Verhaltensregeln entwickelt, mit dem sie sich über die Datenschutzgesetzgebung hinaus verpflichtet, keine personenbezogenen Daten weiterzugeben oder gar zu verkaufen. Gerade in Deutschland ist die glaubhafte Zusage der Anonymität der Befragten und ihrer Antworten die Basis der Privilegien, die uns der Gesetzgeber bisher zugestanden hat. So müssen wir bei Interviews die notwendige Einwilligung nicht schriftlich einholen. Dieses Privileg ist eine Voraussetzung dafür, um in der Bevölkerung eine ausreichende Teilnahmebereitschaft zum Interview zu erreichen und darauf basierend repräsentative Ergebnisse liefern zu können.
Uns geht es bekanntlich nicht darum, irgendwie 500 oder 1.000 oder 5.000 Menschen zu befragen! Solche Daten sind nicht generalisierbar, nicht repräsentativ, für den Anwender sogar gefährlich. Der Markt- und Meinungsforschung geht es um verallgemeinerungsfähige und hochrechenbare Ergebnisse auf hohem methodischem Standard. Dies macht es notwendig, dass möglichst viele der nach wissenschaftlichen Verfahren ausgewählten Personen tatsächlich mitmachen.
Die Notwendigkeit einer schriftlichen Einwilligung – also das "Unterschreibens eines Formulars" –, würde diese Bereitschaft deutlich senken und damit die Qualität unserer Forschung gefährden.
marktforschung.de: Hin und wieder hört man trotzdem, dass Politik und Wirtschaft auch ohne Markt- und Meinungsforschung auskommen könnten bzw. dass Markt- und Meinungsforschung auch ganz anders, mit anderen Methoden durchgeführt werden könnte. Kann es sein, dass Sie, dass der ADM und die Institute an überholten Modellen festhalten?
Hartmut Scheffler: Wenn sich jeder Politiker, wenn sich jede Partei vorstellen würde, dass es keine repräsentativen Umfragen auf Basis wissenschaftlicher Verfahren geben würde, wenn Medien- und Wirtschaftsunternehmen sich die gleiche Frage stellen würden, dann wäre die Antwort garantiert eindeutig: Man braucht die Markt- und Meinungsforschung in der jetzigen Form und Bandbreite.
Natürlich gibt es auch andere, beispielsweise qualitative Verfahren. Für eine Vielzahl von Fragestellungen führt aber nichts an repräsentativen, generalisierbaren Daten vorbei. Wenn dann manchmal in Urteilen oder in öffentlichen Diskussionen darüber gesprochen wird, dass man schließlich anstelle von Telefonbefragungen auch Passantenbefragungen durchführen könnte, dann verschlägt mir dies ehrlich gesagt die Sprache. Hinter der Markt- und Meinungsforschung steckt ein umfassendes wissenschaftliches Gebäude aus verschiedenen Fachrichtungen. Diese Wissenschaften haben über viele Jahrzehnte die bestgeeigneten Methoden herausgearbeitet. Markt- und Meinungsforscher sind nicht der Meinung, die besseren Richter, die besseren Anwälte oder die besseren Politiker zu sein.
Umgekehrt ist es erstaunlich, wie viele Personen aus anderen Professionen sich ein Urteil im Hinblick auf die wissenschaftliche Markt- und Meinungsforschung zutrauen. Repräsentative Telefonbefragungen durch Passantenbefragungen ersetzen zu wollen, ist schlicht ein Witz, allerdings ein schlechter.
Zusammengefasst: Die Markt- und Meinungsforschung hat ein breites Spektrum unterschiedlicher Methoden für unterschiedliche Einsatzfelder. Die Repräsentativbefragungen - sei es face-to-face oder per Telefon – wird sie weiterhin benötigen!
marktforschung.de: Sie sagten vorhin, dass die Markt- und Meinungsforschung ein umfassendes System berufsständischer Verhaltensregeln entwickelt hat. Warum muss sie trotzdem um ihre bisherigen Privilegien fürchten, warum sehen Sie durch die Novellierung speziell des Bundesdatenschutzgesetzes Gefahren auf die Profession zukommen?
Hartmut Scheffler: Ein wenig wundert mich das auch. Der ADM als Vertretung der Institute und ich selbst als Vorsitzender des ADM haben immer die Meinung vertreten, dass Systeme der Selbstregulierung – wenn und solange sie funktionieren – neuen Gesetzen oder permanenten Gesetzesänderungen vorzuziehen sind. Die Markt- und Meinungsforschung hat seit vielen Jahren mit ihrem umfassenden und verbindlichen System berufsständischer Verhaltensregeln gezeigt, dass sie zum Wohl der Auftraggeber, der Mitarbeiter und vor allem der Befragten in der Lage ist, sich selbst zu regulieren. Die aktuellen Skandale kommen nicht aus der Markt- und Meinungsforschung. Insoweit bin ich in der Tat mehr als verwundert, dass dieses System der Selbst- und Koregulierung und die damit über Jahrzehnte gemachten Erfahrungen vielleicht nicht ausreichen sollen, um seitens des Gesetzgebers ganz eindeutig zu sagen: Markt- und Meinungsforschung ist keine Werbung und insoweit ist Markt- und Meinungsforschung den entsprechenden Änderungen im BDSG nicht unterworfen bzw. erhält auch weiterhin die bisher gewährten Privilegien.
Es gibt weltweit in kaum einem anderen Land ein derart detailliertes und ausgefeiltes System der Selbst- und Koregulierung der Markt- und Meinungsforschung wie in Deutschland: Dies sollte seinen Niederschlag in den aktuellen politischen Diskussionen finden!
marktforschung.de: Sie reden in sehr positiver Weise von der Markt- und Meinungsforschung. Gibt es denn keine schwarzen Schafe? Gibt es nicht Fälle, wo gegen Gesetze oder die berufsständischen Verhaltensregeln verstoßen wird?
Hartmut Scheffler: Verzeihen Sie die etwas lapidare Antwort, dass es natürlich auch in der Markt- und Meinungsforschung schwarze Schafe gibt. Auch hier hat es Fälle gegeben und wird es Fälle geben, wo gegen berufsständische Verhaltensregeln und in Einzelfällen vielleicht sogar gegen bestehendes Gesetz verstoßen wird.
Der ADM hat zusammen mit befreundeten Verbänden eine Beschwerdestelle ähnlich des Presserates gegründet, um selbst die wenigen Fälle noch zu reduzieren. Aber auch dann wird es immer wieder das eine oder andere schwarze Schaf geben. Es gibt ja auch immer wieder Personen, die mit 100 km/h durch eine Ortschaft fahren und trotzdem wird das Autofahren in geschlossenen Ortschaften natürlich nicht verboten.
marktforschung.de: Ihren Antworten ist zu entnehmen, dass Sie mit der aktuellen Diskussion über die Markt- und Meinungsforschung nicht zufrieden sind, dass Sie für die Markt- und Meinungsforschung negative Entscheidungen befürchten. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Ihre Ansichten und Interessen vielleicht nicht das notwendige Gehör finden?
Hartmut Scheffler: Ich sehe eine ganz einfache Erklärung: Obwohl die Ergebnisse der Markt- und Meinungsforschung, also Umfrageergebnisse ein täglicher Begleiter der Bevölkerung, aber auch der Politiker, Journalisten und Juristen sind, herrscht eine große Unwissenheit darüber, was Markt- und Meinungsforschung wirklich ist und wie sie funktioniert. Das betrifft die Unkenntnis der wissenschaftlichen Hintergründe, es betrifft teilweise auch die Unkenntnis des strikten Anonymisierungsgebots und der klaren Trennung von forschungsfremden Tätigkeiten wie Werbung und Verkauf.
Wenn zu dieser Unwissenheit dann noch täglich Störungen durch unerlaubte Telefonwerbung, zum Teil mit bewusst falscher Vorspiegelung von Markt- und Meinungsforschung, erfolgen, dann haben Sie die Erklärung. Wir in den Instituten und wir beim ADM müssen uns insoweit an die eigene Nase fassen, als es uns bisher nicht in ausreichendem Maße gelungen ist, der Öffentlichkeit Markt- und Meinungsforschung zu erklären und von Werbung abzugrenzen. Wir haben lange geglaubt, die umfangreichen Aktivitäten der Selbst- und Koregulierung reichen dazu aus. Das ist aber eindeutig nicht der Fall; es bedarf zusätzlich einer umfassenden, informierenden Öffentlichkeitsarbeit.
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

Kommentare (0)
Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!
Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.
Anmelden