Wolfgang Gerstenhauer, FROG KING "Die Marktforschung muss sich angesichts der Erkenntnisse aus der Hirnforschung weiterentwickeln. Und zwar dringend"

Wolfgang Gerstenhauer hat ein E-Book über haptisches Marketing geschrieben. Im Interview erklärt er, warum sich gerade die Marktforschung mit dem Thema Neuromarketing beschäftigen sollte. Ein Gespräch über implizite Befragungsverfahren, multisensorische Kommunikation und unseren Tastsinn als Wahrheitssinn.

Wolfgang Gerstenhauer © FROG KING

Wolfgang Gerstenhauer © FROG KING

marktforschung.de: In der Marktforschung geht es vor allem darum, Kaufmotive von Kunden zu ergründen und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Marktforschung hilft auch dabei, Werbemaßnahmen auszuwerten und umzusetzen. Sie sagen, dass das nicht reicht und dass sich die Marktforschung mehr mit dem Thema Neuromarketing beschäftigen sollte. Also damit, wie Konsumenten Informationen aufnehmen und wie das Gehirn sie in ein bestimmtes Kaufverhalten umwandelt. Habe ich das richtig zusammenfasst?

Wolfgang Gerstenhauer: Ja, das haben Sie gut auf den Punkt gebracht. Ich denke, die Marktforschung muss sich angesichts der Erkenntnisse aus der Hirnforschung weiterentwickeln. Und zwar dringend. 80 Prozent aller neu eingeführten Produkte floppen – trotz Marktforschung. Was viele Marktforscher ausblenden: Wenn das Unbewusste 90 Prozent aller Entscheidungen trifft – vor allem auch die Kaufentscheidungen – dann ist das Unbewusste ihr wichtigster Interviewpartner. In der aktuellen Marktforschung kommen jedoch noch immer fast ausschließlich explizite Erhebungsverfahren zum Einsatz. Das heißt: Der Kaufentscheider wird gar nicht befragt! Um das Unbewusste anzuzapfen, sind implizite Befragungsverfahren nötig, deren Planung, Einsatz und Auswertung deutlich aufwändiger sind als explizite Fragen. Beim GfK-Verein habe ich dazu gelesen, dass sich der Einsatz impliziter Verfahren nur dann empfehle, wenn mit systematischen Antwortverfälschungen, etwa aufgrund sozialer Erwünschtheit, zu rechnen sei. Das sehe ich anders. Er empfiehlt sich generell aus den eben geschilderten Gründen parallel zu den expliziten Verfahren.
 
marktforschung.de: Sie sagen, dass Marketing ein großes Problem hat: Es wird immer schwieriger, eine Botschaft ins Gedächtnis eines Menschen zu verlagern, da es einfach zu viele Informationen, zu viele Signale und Botschaften gibt. Und dafür gäbe es nur eine Lösung: Marketing muss wieder haptischer, die Sinne wieder mehr angesprochen werden.

Wolfgang Gerstenhauer: Ja, die Kommunikation muss multisensorisch werden, also alle fünf oder zumindest mehrere unserer Sinne gleichzeitig ansprechen, darunter auch die Haptik. Je mehr Sinne von Werbemaßnahmen aktiviert werden, desto größer fällt nachweislich ihr Erfolg aus. Der Tastsinn ist dabei sehr wichtig. Er ist der erste Sinn, der sich in der Entwicklung des Menschen – schon im Mutterleib – ausbildet und zumeist der letzte Sinn, der uns am Ende unseres Lebens verlässt. Vielleicht vertrauen wir ihm deshalb mehr als den anderen Sinnen, weil wir damit unsere Ur-Erfahrungen gesammelt haben. Der Tastsinn ist so etwas wie unser Wahrheitssinn. Man kann sich versehen oder verhören, verfühlen kann man sich nicht.

Ich habe einmal anlässlich eines Vortrages bei einem Werbemittelanbieter dem Auditorium zwei Kugelschreiber in die Hände gegeben. Sie mussten sich mit verbundenen Augen für einen entscheiden. Die Kugelschreiber unterschieden sich qualitativ und haptisch geringfügig. Der eine war hochwertiger vom Material her, ergonomischer, minimal schwerer – das haben die Teilnehmer innerhalb weniger Sekunden allein mit ihren Händen erfasst und konnten ein stimmiges Qualitätsurteil abgeben.
Wir haben geistige Erkenntnis nicht umsonst in unserer Sprache mit Worten verbunden, die eng mit dem Tastsinn und unseren Händen verknüpft sind: Begriff, begreifen, erfassen und so weiter. Wenn wir eine Botschaft visuell senden und sie zusätzlich haptisch fassbar machen, dann kommt sie nicht nur besser an, sondern bleibt auch eher im Gedächtnis.

marktforschung.de: Nun lautet ihre These, dass Gedrucktes besser funktioniert, also Flyer, Magazine und alles, was man in die Hand nehmen kann. Warum ist ein Flyer in seiner Wirkung besser als ein Plakat? Doch nicht deshalb, weil ich ihn anfasse?

Wolfgang Gerstenhauer: Doch, genau deshalb. Wenn Sie etwas anfassen, nehmen Sie zwangsläufig auch eine emotionale Verbindung dazu auf. Sie berühren ja nicht nur, Sie werden auch berührt. In Ihrem Gehirn ist viel mehr los, sobald Haptik ins Spiel kommt. Sie bewerten unbewusst die Struktur der Oberfläche. Sie nehmen ganz nebenbei den Geruch des Papiers und der Druckfarben wahr. Wenn es Druckveredelungen wie zum Beispiel partielle Lackierungen oder Prägungen gibt, streichen ihre Finger wie unter Zwang mehrfach darüber. Sie verursachen und hören ein Geräusch, wenn Sie die Seiten wenden – als Belohnung für das bereits Erreichte beim Lesen oder Durchblättern. Das alles hat wiederum Einfluss darauf, wie Sie den Inhalt in Form von Bildern sehen und in Form von Worten verstehen. Deswegen wirkt Printwerbung auch realer als digitale Werbung, wird besser vom Gehirn verarbeitet sowie erinnert und wirkt vertrauenserweckender. Sie haben damit einfach etwas in der Hand und nicht nur Helligkeitsunterschiede auf einem Bildschirm vor Augen, die mit dem nächsten Klick verschwunden und vielleicht schon wieder vergessen sind.

marktforschung.de: Sie haben ein E-Book zum Thema Haptisches Marketing veröffentlicht, welches sich unsere Leser kostenlos herunterladen können. Doch ich frage mich:  Wenn Sie Recht haben mit Ihrer These, dass das Gehirn sich von gefühlten Erlebnissen mehr beeinflussen lässt, wie ist es dann zu erklären, dass neue Formate, die nur noch online geschaltet werden, besser funktionieren und weniger kosten als Maßnahmen von alten Schlag. Zum Beispiel Online- und Content-Marketing. Und dann haben wir noch die gute Fernseh-Werbung, die sich so langsam ins Internet verlagert. Mit Anfassen ist da nicht.

Wolfgang Gerstenhauer: Anfassen ist da nicht, sagen Sie? Nun, zumindest der Siegeszug der Smartphones und Tablets wäre ohne den Touch-Screen und Vibrationen – also die Übertragung haptischer Qualitäten auf digitale Technik – kaum denkbar gewesen. Aktuell wird daran gearbeitet, Tastaturen und Schieberegler auf Basis piezoelektrischer Aktuatoren durch Ultraschall-Vibrationen auf Touch-Screens spürbar zu machen. Mit gutem Grund: Es wird primär die Haptik sein, die unseren Umgang mit Technik und Information weiter vereinfachen wird. Der Haptik-Hype hat auch die Online-Kommunikation erfasst, gestaltet deren Medien zunehmend haptischer. Hier funktioniert Haptik nicht direkt, sondern subtiler. Das Credo der digitalen Haptik lautet: Online-Publikationen sollten sich passend zum jeweiligen Medium ganz natürlich für uns anfühlen – nicht weit weg von dem zitierten "gefühlten Erlebnis" aus Ihrer Frage also. Sind nicht gerade Content-Marketing und Storytelling Belege für die These, dass sich Online-Kommunikation zunehmend an unserer menschlichen Natur orientiert?Auch die Haptik kommt deshalb überall im Bereich Online-Kommunikation zum Tragen.

Der Ablauf von Verkaufsroutinen, die Gestaltung von Call-to-Action-Buttons, eine an der Haptik orientierte Bild- und Textsprache, haptische Feedback-Töne, USB-Webkeys in Anzeigen oder Mailings – es gibt viele Beispiele, die zeigen, dass Haptik Orientierungshilfe bietet. So manches E-Book oder mancher Online-Prospekt simuliert das Geräusch des Blätterns, um in uns das passende haptische Gefühl wachzurufen. Online-Shops, gerade für komplexe Dienstleistungen wie zum Beispiel im Bereich Telekommunikation, werden anhand unseres haptischen Verhaltens optimiert, um zum Beispiel dem "Choice Overload", also einer zu großen Breite und Tiefe des Angebots, entgegenzuwirken. Ich denke, Kommunikation kann nur erfolgreich sein, wenn sie menschlich ist. Das ist ja auch der Gedanke des Neuromarketings. Und Haptik ist ein sehr wichtiger Teil dieser Vermenschlichung.

marktforschung.de: Vielen Dank!

Das Interview führte Tilman Strobel.

Wolfgang Gerstenhauer ist Geschäftsführer der FROG KING Agentur für Kommunikation. Sie können das E-Book "Haptisches Marketing: E-Book macht Werbung greifbar" hier herunterladen.

 

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  1. Matthias Wirth am 02.05.2018
    Schöner Beitrag, insbesondere aus der Perspektive einer Agentur. Wissenschaftlich werden diese Effekte regelmäßig nachgewiesen. Hier eine aktuelle Studie des Verband Druck und Medien Bayern und The Neuromarketing Labs zum Thema:

    https://www.vdmb.de/news/hochwertige-printprodukte-steigern-kaufmotivation/

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