Das-Wahre-Leben - Kolumne von Jens Krüger Haltung. Haltung. Haltung. Um jeden Preis, oder?

Haltungskampagnen sind seit Covid-19 auch in Deutschland im Marketing endgültig angekommen. Aber wer kann auch schon gegen Impfen sein? Haltung zeigen, ist schon fast Mainstream. Ohne eine ethisch, moralisch oder auch politische richtige Haltung geht es nicht mehr. So scheint es. Aber dann kam die Ukraine. Ein Angriffskrieg. Und es sind nicht wenige Unternehmen, die die aktuelle Situation in der Ukraine derzeit kommentieren. Oder sich politisch positionieren. Eine Kolumne von Jens Krüger.

Schalke 04 hat sich wegen des Ukraine-Kriegs von seinem Trikotsponsor Gazprom getrennt. Auch das ist Haltung. (Bildnachweis: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Martin Meissner)

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich tue mich schwer damit, es anderen gleich zu tun. Unser Logo ist auch nicht gelb-blau, wie das von Edeka. Die Anteilnahme ist sehr groß – auch bei uns, unseren Mitarbeitern. Viele haben Freunde und Verwandte in Russland wie auch in der Ukraine. Wir sprechen mit unseren Kundinnen und Kunden darüber – und liken bei LinkedIn aufrichtig und ehrliche Kommentare. Ich tue mich aber schwer, das Thema selbst aufzugreifen – obwohl ja sonst nicht auf den Mund bzw. die schreibende Hand gefallen, fühlt es sich für mich nicht richtig an. Gerade deshalb will ich es hier einmal anreißen:

Wie politisch dürfen Marketing und auch die Marktforschung eigentlich sein? Brauchen wir tatsächlich auch mehr Haltung?

Früher wäre es undenkbar gewesen, sich als Marktforscher klar zu positionieren. Wie keine andere Branche hat sich die Marktforschung jahrzehntelang auf den Mythos ihrer vermeintlich notwendigen Neutralität zurückgezogen.

Marktforschung machen war ein bisschen wie Schweiz sein. Unantastbar, neutral, immer gewissenhaft, manchmal überkorrekt.

Mit der Fähigkeit zur immerwährenden Anpassung – wie ein Chamäleon.

Wir alle haben zur Ukraine eine klare Haltung. Aber ist es opportun, darüber öffentlich zu sprechen?

Was machen die Marketeers?

Als eines der ersten Unternehmen hat sich Edeka marketingtechnisch vorgewagt. Die werbliche Botschaft vor gelb-blauen Hintergrund: „Freiheit ist ein Lebensmittel“.

What? So richtig verstehe ich die Botschaft nicht, oder ist sie wirklich so vordergründig gemeint? Und die eher kritische Diskussion in den einschlägigen sozialen Medien ließ auch nicht lange auf sich warten. Andere Unternehmen, wie die Telekom oder die Bahn haben sich ein bisschen mehr Zeit gelassen – und vielleicht auch vorausschauender reagiert mit konkreten Angeboten für die Menschen in der Ukraine. Kostenlose Telefonate in und aus der Ukraine und freie Fahrt für Flüchtende mit der Bahn. Der Applaus war den Unternehmen sicher. Gut umgesetzt. Tue Gutes und rede darüber.

Dann aber kam die Rede von Olaf Scholz am vergangenen Wochenende – als „Zeitenwende“ bezeichnet er den jetzt im Herzen von Europa eskalierenden Krieg. Er fordert Haltung. Von allen. Und er liefert: Die bisher klarste Botschaft seiner Kanzlerschaft und Waffen für die Ukraine. Und fordert auch von uns allen anderen Haltung – Länder, Organisationen und der Wirtschaft.

Spätestens jetzt beginnt Haltung weh zu tun – zumindest monetär. Shell steigt bei Northstream2 aus, Beteiligungen an russischen Unternehmen z. B. BP an Rosneft werden abgeschrieben. Schalke 04 trennt sich von seinem Hauptsponsor. Die Fifa tut es dem Verein gleich. Jegliche Handelsbeziehungen werden gekappt.

Fast alle Automobilhersteller ziehen sich aus Russland zurück. Und die Schweiz macht bei den SWIFT-Sanktionen mit und friert die Konten von Putin und seiner Clique ein. Die Schweiz!

Wow. Oder ist es doch alles nur Kalkül?

Die Ukraine ist längst zu einer globalen Bewegung geworden, der sich kaum noch jemand entziehen kann.

Wer kann es sich überhaupt noch leisten, nicht dabei bzw. dagegen zu sein, auch dann, wenn es weh tut.

Entscheidend ist, dass es diesen Druck von den Menschen da draußen gibt. Und es ist auch gut, dass Unternehmen und Marken im Sinne ihrer Kundinnen und Kunden entscheiden, mit wem sie Geschäfte machen und mit wem nicht.

Compliance ist nicht nur ein Kapitel im jährlichen Geschäftsbericht, sondern gelebter Purpose. Die Unternehmen haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt – so scheint es zumindest. Es braucht mehr Haltung und auch konsequentes Handeln, auch wenn es richtig weh tut.

Mir macht das Hoffnung, weil wir die großen Themen unserer Zeit nur mit Haltung und als Gemeinschaft lösen können. Ob bei den großen gesellschaftlichen Umbrüchen, beim Klimaschutz oder bei globalen geopolitischen Auseinandersetzungen.

Und wenn die Schweizer schon mitmachen – dann dürfen wir als Marktforscher doch auch mehr Haltung zeigen, oder?

Über Jens Krüger

Jens Krüger ist seit 2019 CEO von Bonsai Research. Der Consumer-Experte war zuvor über zehn Jahre Geschäftsführer bei Kantar/TNS Infratest. Der studierte Soziologe und Sozialpsychologe engagiert sich in mehreren Beiräten (u. a. im Zukunftsforum und dem VKE-Kosmetikverband), ist Speaker und Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen gesellschaftlicher Wandel, Consumer-Trends, Ernährung und Handel der Zukunft.

 

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  1. P am 03.03.2022
    Jeder und jede kann so viel Haltung zeigen, wie er oder sie will. Das ist der Kern einer liberalen Gesellschaftsform. Problematisch wird das aber dann, wenn die Gesellschaft bei jedem Thema immer nur eine bestimmte Haltung als korrekt anerkennt und abweichende Meinungen und deren Vertreter als dumm, irrational oder wissenschaftsfeindlich an den Pranger stellt und ausgrenzt, wie es aktuell in Deutschland und so gut wie allen anderen westlichen Ländern geschieht.
    Dies ist das schlimme Erbe des Wortes „alternativlos“, das seit einigen Jahren als Totschlagargument gegen abweichende Meinungen verwendet wird. Aber nichts ist „alternativlos“. Man kann sogar gegen das Corona-Impfen sein, und sei es nur, um Widerstand gegen die Rhetorik der Regierung gegen Nicht-Geimpfte und deren Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben zu leisten und dafür zu kämpfen, dass 2G nicht irgendwann für „gehorsam“ und „gefügig“ steht.
    In englischsprachigen Medien ist bereits die Rede von der „illiberal left“, einer geistigen und politischen Strömung, die keine andere Meinung als die eigene akzeptiert und bereits den Verdacht, jemand könne sich vielleicht mit Worten gegen die dominierende Form politischer Korrektheit wenden, als „hate speech“ diffamiert und ahndet. Siehe das vom ewig lächelnden Justin Trudeau geplante Hate-Speech-Gesetz in Kanada.
    Mit großem Schrecken habe ich gestern die Meldung vernommen, der ADM wolle aufgrund des Ukraine-Krieges jetzt auch beginnen, Haltung zu zeigen. Mir schwant Schlimmes …
    Nein, Jens Krüger, nein, liebe Marktforschungsverbände! Allen Marktforschern und Marktforscherinnen steht es offen, im privaten Umfeld, in politischen Gremien oder im journalistischen Bereich für ihre Meinung einzutreten. Aber fangt bitte nicht an, in gleichschalterischer Manier bestimmte Haltungen als die offizielle Meinung der Marktforschungsbranche zu definieren.
    Meinen Klarnamen möchte ich hier lieber nicht verwenden. Ich habe Angst vor Ausgrenzung, Verächtlichmachung, wirtschaftlichen Konsequenzen und körperlichen Angriffen …

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