Aus dem wahren Leben – Kolumne von Jens Krüger Hallo! Seid ihr jetzt total verrückt?

Der Handel und die aktuelle Preispolitik scheinen aus dem Ruder zu laufen. Wir, die Marktforscher in diesem Land, sollten einschreiten. Jetzt, bevor es zu spät ist und wir alle den Preis für den günstigsten Preis bezahlen müssen.

Jens Krueger, CEO von Bonsai Research | marktforschung.de

 

Jetzt ist es doch passiert – er ist wieder da. Zehn Jahre, ziemlich genau seit November 2011, haben wir ihn nicht vermisst. Wir nicht, die Menschen da draußen nicht und eigentlich auch nicht die Händler. Es hat erst noch etwas gedauert bis er sich aus der Erinnerung gebrannt hat. Und dann kam Corona und jetzt lese ich: Er ist wieder da! Der Claim, der wie wenige polarisiert hat. Der Claim einer ganzen Generation: GEIZ IST GEIL. Nee, nicht wirklich denken Sie vielleicht jetzt. Doch. Darüber müssen wir sprechen – heute, weil sich so langsam eine innere Unruhe breit macht. Warum in Gottes Namen? Warum macht ihr so einen un-fucking-fassbaren Blödsinn?

Preis ist rational, oder?

Der Preis und die Findung desselben ist eigentlich – zumindest aus Marktforschungsperspektive – ein ziemlich rationaler, ja fast ein unaufgeregter, unspektakulärer Prozess. Es gibt eine Reihe etablierter Modelle mit schönen, eingängigen Grafiken, die zeigen, wo der ideale Preispunkt oder Korridor für ein bestimmtes Produkt liegt. Eigentlich mit dem Ziel, den richtigen Preis zu definieren, an dem am Ende des Tages die meisten Menschen ein Produkt zu einem möglichst hohen Preis einkaufen. Ist ja auch logisch, weil dann die Marge am höchsten ist. Es ist so einfach, vielleicht sogar ein bisschen langweilig. Darum haben sich ja findige und kreative Leute noch drei weitere P-s ausgedacht. Wo wäre ja auch sonst der Spaß?

Preis geht immer – irgendwie. Hingegen wird zu den Produkten selbst, zu Promotion und Kommunikation und zu Packungen in unserer Branche viel geforscht. Gerade jetzt. Und immer weniger zum Preis. Oder? Anders kann man sich sonst ja nicht erklären, warum da draußen eine Rabattschlacht, wie seit Jahren nicht mehr tobt. Zwischen Discountern – ob hart oder soft, bei den Supermärkten oder im Möbelhaus oder der kleinen Boutique nebenan. Egal, alle spielen mit. Der Auslöser: Die Reduzierung der Mehrwertsteuer für fünf Monate.

Was als Konjunkturpaket gedacht war – insbesondere für verhandlungsschwache Barzahler von Porsche-SUVs über 100.000 EUR, die tatsächlich 3.000 EUR sparen können, kommt im wahren Leben und dem täglichen Einkauf doch eher als Almosen an. Genau – dachten sich auch die Händler und über- bzw. unterbieten sich seit Tagen mit immer neuen Rabatten. Warum macht ihr das, liebe Händler? Irgendwo las ich, dass es euch um die Preishoheit geht.

Jeder Preis hat seinen Preis

Letztlich ist der wahre Preis für uns alle aber höher, wenn ihr so weitermacht. Weil die Dinge, die ihr verramscht, eben ihren Preis haben und einen Wert, auch emotional. Sie werden von Menschen und Tieren produziert, die in Würde leben und arbeiten wollen und sollen. Wir waren uns gerade einig, dass wir nicht mehr damit einverstanden sind, dass Leiharbeiter aus dem Ausland in unwürdigen Unterkünften und zu unwürdigen Bedingungen hier in Deutschland arbeiten und billiges Fleisch produzieren. Ja, nicht jeder kann sich ein teures Stück Fleisch jeden Tag leisten. Aber müssen wir das überhaupt? Auch in anderen Bereichen, wie bei Bekleidung, werden und müssen wir uns die Frage stellen, ob wir uns als Gesellschaft Fast-Fashion auf Kosten anderer noch leisten wollen? Conscious Life ist nicht nur ein kurzer Trend. Und kommt jetzt nicht mit einem "ja, das muss man sich auch leisten können" oder "aber die Verbraucher*innen wollen das doch so". Ich verstehe, dass ihr um die Aufmerksamkeit buhlt. Die Aufmerksamkeit derer, die wieder die Geschäfte beleben sollen – es ist ein bisschen trist geworden, in unseren Shopping-Meilen und auch im Supermarkt ist uns der Spaß auf Experience und Discovery vergangen. Ja, da muss man was machen. Aber ein Meer an kleinen, roten Schildchen macht nicht immer Lust auf Mehr.

Worum es wirklich geht

Dabei liegen doch die Themen auf der Hand – und ihr hattet so schön angefangen in der Krise, alles richtig zu machen. Ihr habt Verantwortung übernommen. Ihr habt gemeinsame Sache gemacht – auch unter- und miteinander. Ihr habt super Ideen gehabt – von der Maske zum Selbstkostenpreis, über Pop-Up Supermärkte für Ärzte und Krankenschwestern in den Hot-Spots des Landes. Ihr habt die Themen soziale Verantwortung, Nachhaltigkeit, Mensch- und Tierwohl so glaubwürdig präsentiert. Ihr habt selbst Themen wie CO2-neutrale Produktionen und Bio hoch zwei aufgemacht, dass wir uns manchmal voll Ver- und Bewunderung die Augen gerieben haben.

Es gibt jetzt eine Verbrauchermilch für 1,50 Euro. Für mich war klar: ihr habt verstanden, worum es wirklich geht. Nämlich um kulturelle Nähe zu den Menschen da draußen. WOW haben wir gerufen, geliked und applaudiert. Klar, diese Dinge haben ihren Preis – das haben sogar die Menschen da draußen verstanden. Und jetzt – GEIZ IST GEIL? Preishoheit? Es wirkt ein bisschen so, wie meine beiden Kids (vier und sechs Jahre). Nach zwei Stunden entspanntem Spiel mit Spaß und Empathie ist kein Halten mehr. Am Ende weinen beide. Aus dem Nichts. Irrational. Hoch emotional und völlig sinnlos. Da hilft dann nur noch ein beherztes Einschreiten von unserer Seite. Nur so können wir die völlige Eskalation verhindern. Und ein bisschen fühlt es sich jetzt auch mit euch an. Und wir müssen jetzt mal Einschreiten – nicht als Eltern, sondern als Marktforscher mit den richtigen Modellen für die 4Ps, um eine völlige Eskalation noch zu verhindern.

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Sebastian Götte am 30.07.2020
    Sehr guter Beitrag! Ich bin schon lange der Meinung, dass wir als Forscher mehr Verantwortung übernehmen und unseren Kunden auf dem Weg in eine sozial-ökologischere Wirtschaft helfen sollten. Es ändert sich etwas bei den Menschen, wenn auch langsam. Werte werden wichtiger. Das sollten die Anbieter und Händler jetzt aufgreifen und mit den richtigen Angeboten unterstützen. Und wir sollten tatsächlich auch ein bisschen werteorientierter forschen :-).
  2. Hubertus (Prediki) am 30.07.2020
    Ein rätselhaftes Dilemma zeigt Jens Krueger hier auf: Etablierte Preismodelle zeigen "mit schönen, eingängigen Grafiken", wo der ideale Preispunkt für ein bestimmtes Produkt liegt. Und dennoch nehmen Rabattschlachten zu und es wird "immer weniger zum Preis" geforscht. Er fragt: Warum?

    Hier ist meine Sicht: die "etablierten Modelle" basieren auf Umfragen, wo Käufer ungestraft recht beliebig klicken können, verschärft durch einige signifikante Verzerrungen (zB Acquiescence Bias). Zu optimistische Resultate, die in der Realität dann nicht eintreffen, könnten die von Jens gesuchte Erklärung liefern, warum Händler billiger bepreisen als die "schönen Grafiken" aufzeigen. Und warum immer weniger zum Preis geforscht wird.

    Hingegen werden Käufer in der (aufstrebenden aber noch nicht etablierten) Preisforschung mittels Prognosemarkt-Methode incentiviert, den künftigen Umsatz zu typischen Preishypothesen richtig zu prognostizieren. Falsche Prognose, kein Incentive. Funktioniert hervorragend, weil Behavioural. Und jede einzelne Prognose kann an der Realität verifiziert werden, erfüllt also das Falsifizierbarkeitskriterium, das Wissenschaft von Metaphysik trennt.
  3. Tut nichts zur Sache am 31.07.2020
    Grundsätzlich ein guter Ansatz, wie ich finde. Ich bin jedoch überrascht, diese Meinung in einer solchen Umgebung wieder zu finden. "Was für eine Umgebung?" wird der Leser dieser Zeilen nun fragen. Na, auf der Website eines Fachmediums für die Marktforschungsbranche. Einer Branche, die seit Jahren mit dem Thema Preiskampf ringt, wie man es sonst kaum woanders beobachten kann; da wären zum einen die Studios, die sich lange Zeit einem "Wir-verstehen-uns-untereinander-alle-sehr-gut" Credo unterworfen haben und selbstverständlich immer wieder miteinander arbeiten (müssen), um Kundenwünschen zu entsprechen. Das Thema Preise aber wird ohne Unterlass dauerhaft diskutiert und man regt sich über "den anderen" auf, weil dieser offenbar wieder "so billig" arbeitet. Zum anderen sind da die Panelanbieter, die sich - von der strengen Nachfrage diktiert - immer tiefer in die Knie zwingen lassen und stets bestrebt sind einen Weg zu finden, ihre Angebote noch billiger darstellen zu können, vergessend, dass am Ende aber nach wie vor der Mensch/Probant für die Beantwortung der Befragungen zuständig ist, und dass man diesem den Duktus des "schneller, günstiger, qualitativer" irgendwann möglicherweise nicht mehr aufzudrücken vermag. Bei uns Instituten sieht es bedauerlicherweise nicht anders aus. Kaum sind unsere Tätigkeiten vergleichbar, und das sind sie sehr häufig, unterliegen wir sehr schnell dem Preis. Wir haben unsere Stammkunden, keine Frage, aber auch die fragen nicht nur bei uns nach.
    Ich bin besorgt, wenn ich mitbekomme, wie sich unsere Branche vereinzelt zunehmend selbst auseinander nimmt. Sicher, Preisabsprachen funktionieren auch hier nicht. Aber der immerwährende Ausruf "wir sollten endlich mal den Kunden sensibilisieren und diesem klarmachen, dass Qualität ihren Preis hat" muss endlich einer Einstellung im Sinne von "wir müssen uns an unsere eigene Nase fassen und Angebote schreiben, die unserer Arbeit gerecht werden" weichen, ansonsten sehe ich schwarz für eine Branche, die viel kann, aber offenbar immer weniger vorzuweisen hat.
    Consultants kaufen unsere Arbeit ein, analysieren die Daten und versehen ihre anschließende Beratung mit einem Preis, der die Arbeitsstunden wiederzuspiegeln vermag. Wir aber suchen nach Automation und agilen Arbeitsweisen, und kommen in der obengenannten "Geiz ist geil" Atmosphäre zu kurz. Lasst uns doch mal hinterfragen, warum das so ist, und wie wir uns endlich wieder besser positionieren können.
    Ich selbst schaue ehrlicherweise neidisch auf einige Kolleginnen und Kollegen, dessen Arbeit ich kennengelernt habe, und von denen ich weiß, dass sie ihre Preise durchgesetzt bekommen. Wie? Durch ehrliche und innovative Arbeit. Nicht unter der Prämisse günstiger, sondern besser werden zu wollen.
    Meine eigenen Kollegen und ich sind bestrebt, diesen Beispielen zu folgen, zugebend, dass auch wir uns dem Preis so lange unterwerfen werden, bis wir einen anderen Weg gefunden haben. Die vergangenen Zeilen rechtfertigen hoffentlich meinen Wunsch, diesen Beitrag anonym verfasst zu haben, doch möchte ich wie folgt schließen:

    Wir feilen an unserem USP und werden hoffentlich schon bald aus diesem Teufelskreis herausbrechen können. Sollten wir alle tun, denn die meisten von uns haben enormen Nachholbdarf.
  4. Markus Küppers am 01.09.2020
    Es wäre schon viel geholfen, wenn alle "Proband" schreiben würden, und nicht "Probant".

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de