Matthias Wahl (AGOF): "Häufig wird gar nicht mehr bewusst wahrgenommen, über welchen Zugang digitale Inhalte genutzt werden."

marktforschung.dossier: Beginnen wir mit einem Blick zurück: Im vergangenen Jahr konnte die AGOF ihr zehnjähriges Jubiläum feiern – im Digitalzeitalter ja schon fast eine halbe Ewigkeit. Welche Entwicklungen und Trends haben die Nutzung digitaler Medien und deren Vermarktung aus Ihrer Sicht in dieser Zeit am meisten geprägt?
Matthias Wahl: Von zentraler Bedeutung ist, dass das Internet in den letzten 10 Jahren zum Massenmedium geworden und im Alltag der Menschen angekommen ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der es genutzt wird – zuhause, im Büro und unterwegs – sowie die Vielfältigkeit der Nutzungsmöglichkeiten hat es zum allzeit begleitenden Medium der Menschen gemacht. Und das längst nicht mehr nur für junge Zielgruppen, sondern mittlerweile auch für Menschen jenseits der 50, deren Zahl kontinuierlich steigt.
Ein weiterer Trend liegt sicher darin, via Smartphone permanent online zu sein. Sei es, um seine E-Mails zu checken, im Netz zu recherchieren oder Apps zu nutzen, die zunehmend nicht mehr nur auf dem mobilen Endgerät funktionieren, sondern inzwischen auch als Webservice auch auf dem heimischen PC oder Fernseher. Womit wir schon die dritte, entscheidende Entwicklung beschreiben: Die zunehmende Vernetzung aller Lebensbereiche und dass die Zugriffsmöglichkeiten immer hybrider werden, so dass häufig gar nicht mehr bewusst wahrgenommen wird, über welchen Zugang digitale Inhalte genutzt werden.
marktforschung.dossier: Mit den internet facts haben Sie eine Währung geschaffen, die heute für zahlreiche relevante Online-Vermarkter die entscheidende planerische Basis darstellt. Was waren und sind die größten Herausforderungen bei der Erhebung valider Reichweiten- und Strukturdaten im Internet?
Matthias Wahl: Nicht nur für zahlreiche Vermarkter – insbesondere für die Agenturen stellt die internet facts seit langem die unverzichtbare planerische Basis dar.
Die sozusagen erste und ursprünglichste Herausforderung lag darin, eine wissenschaftlich fundierte Methode zu entwickeln, um die Reichweite von Online-Angeboten medienadäquat zu ermitteln. Wir haben uns von Anfang an für die Installation einer technischen Messung als wichtigen Bestandteil der Methode entschieden, da wir dadurch einem elektronischen Medium wie dem Internet und dessen fragmentierter Nutzung gerecht werden konnten. Notwendige Anforderung aus methodischer Sicht waren außerdem – und sind heute noch – die Erfüllung der Gütekriterien der empirischen Sozialforschung wie Validität, Reliabilität und Repräsentativität der Ergebnisse. Diese Qualität zu halten und auch mit jeder Neuerung und/oder jedem neuen Leistungswert fortlaufend gerecht zu werden fordert von uns auch heute noch stetig die Methode und ihre Ergebnisse zu hinterfragen und Veränderungen im Markt oder in der Mediennutzung adäquat umzusetzen.
marktforschung.dossier: Wie gehen Sie bei der Erhebung der internet facts methodisch vor?
Matthias Wahl: Die methodische Grundlage der internet facts ist ein Drei-Säulen-Modell, in dessen Zentrum die technische Messung der Nutzung (Basiserhebung) steht, die durch eine OnSite-Befragung sowie eine bevölkerungsrepräsentative Telefonbefragung ergänzt wird.
Die rein technische Messung, die über ein eingebautes SZM-Tag erfolgt, ist eine Vollerhebung der gesamten Kontakte auf den Online-Werbeträgerangeboten, die an der Studie teilnehmen. Diese Daten werden anschließend mit den zusätzlichen Daten aus der OnSite-Befragung angereichert. In dieser OnSite- Befragung werden Informationen über die Nutzer hinter den Browsern generiert, z.B. personenbeschreibende soziodemografische Größen oder Informationen zur Nutzung des Endgerätes. Für diese Anreicherung verwenden wir ein kombiniertes dynamisches Profiling- und Modelling-Verfahren zur Bildung so genannter dynamischer Microcluster: Von den Nutzern, von denen sowohl Daten aus der technischen Messung als auch Daten aus der Online-Befragung vorliegen, werden idealtypische Nutzerprofile erstellt (Profiling). Danach werden die soziodemografischen Daten jedes idealtypischen Nutzers nach dem Identitäts- bzw. Ähnlichkeitsprinzip auf diejenigen Nutzer projiziert bzw. prognostiziert, von denen lediglich das tatsächliche Internetnutzungsverhalten aus der technischen Messung vorliegt und mit dem eines der idealtypischen Nutzer korrespondiert. Auf diese Weise werden fehlende soziodemografische Daten ergänzt und vollständige Nutzerprofile generiert (Modelling) und Unique Clients (also gemessene Browser) in Unique User umgewandelt. Denn als wohl wichtigste Innovation, die die internet facts dem Markt zur Verfügung gestellt hat, werden in der Studie internet facts Unique User, also die einzelnen Nutzer hinter den Bildschirmen, ausgewiesen. Unique Clients sind dabei nicht eins zu eins auf Personen übertragbar: Manche User nutzen mehrere Browser (Clients) oder ein Rechner/Browser wird von mehreren Personen in einem Haushalt genutzt.
Um die bisherigen Informationen auf die deutschsprachige Internetnutzerschaft ab 10 Jahren in Deutschland bzw. auf die Gesamtbevölkerung ab 10 Jahren übertragen zu können, wird eine repräsentative Telefonbefragung mit großer Fallzahl durchgeführt. Erstens definiert und beschreibt sie die Grundgesamtheit der deutschsprachigen Internetnutzerschaft, zweitens erhebt sie Daten der Nicht-Internetnutzer und drittens ermittelt sie personenbeschreibende Informationen, die zur Bildung von vermarktungsrelevanten Zielgruppen notwendig sind. Dazu gehören neben einer ausführlichen Soziodemografie auch Markt- und Branchendaten sowie Informationen zu Einstellungen der Befragten.
marktforschung.dossier: Als logische Konsequenz auf die Entwicklung des mobilen Internet gibt es unlängst auch die „mobile facts“. Auch wenn das Mobile Web weiter auf dem Vormarsch ist, die Werbung scheint es in diesem Kontext nicht immer zu sein. Täuscht dieser Eindruck?
Matthias Wahl: Sie dürfen mobile Werbung, bzw. deren aktuelle Verbreitung nicht mit der Werbedichte anderer, deutlich länger etablierter Medien vergleichen. Als TV oder Online an den Start gingen hat es auch eine Weile gedauert, bis die Werbemöglichkeiten des neuen Kanals ausgelotet waren und das Medium eine ausreichend weite Verbreitung hatte. Erst dann sind die Werbebuchungen und Umsatzzahlen in die Höhe geklettert. Mobile ist ein neues Medium, das durch seinen engen persönlichen Bezug zum Endgeräte-Besitzer völlig neue (Werbe-)Möglichkeiten erschließt, die es erst auszutesten galt. Aber inzwischen wächst der mobile Werbemarkt genauso rasant wie die Verbreitung des Mediums an sich.
marktforschung.dossier: Nutzer bzw. Leser springen heutzutage völlig selbstverständlich zwischen den verschiedenen medialen Distributionsformen hin und her. Wie gut hat sich die Markt- und Medienforschung aus Ihrer Sicht auf veränderte Gegebenheiten eingestellt?
Matthias Wahl: Wir beobachten nicht nur ein Springen - Nutzer unterscheiden nicht mehr, über welche Endgeräte oder Zugänge sie Inhalte und Angebote konsumieren, gleichzeitig werden die Angebote selbst immer hybrider. Dafür müssen wir neue und angemessene Leistungswerte entwickeln, um weiterhin die digitalen Medien und ihre Nutzung adäquat abbilden zu können. Wichtig werden in dieser Hinsicht insbesondere neue, medienübergreifende Standards werden. Bei der AGOF arbeiten wir daher bereits mit der „digital facts“ an einer übergreifenden, digitalen Reichweitenstudie, die unsere bisherigen Studien internet facts und mobile facts verbinden wird. Die Markt- und Medienforschung muss sich dabei aber nicht neu erfinden, die grundsätzlichen Rahmenbedingungen oder Planungsgrundlagen für Online-Werbung bleiben dabei unverändert bestehen, so z.B. Zielgruppen und Umfelder, ebenso Standards wie Unique User oder Reichweiten. Unsere „Systeme“ sind also schon gut aufgestellt.
marktforschung.dossier: Wie bewerten Sie technische Entwicklungen, mit denen Gerätehersteller grundsätzlich in der Lage sind, Daten über das Nutzerverhalten zu sammeln? Zuletzt sorgten ja Medienberichte zu „spionierenden Fernsehern“, konkret: den Smart-TVs für einiges Aufsehen.
Matthias Wahl: Wir sehen das insbesondere aus Sicht des Datenschutzes sehr kritisch. Wichtig ist, dass mit den gesammelten Daten sehr sorgsam umgegangen wird und die Nutzer sich darauf verlassen können, dass keine personenbezogenen Daten von ihnen weiterverwendet werden. Und gerade diese Sorgfalt lassen solche Datensammlungen – im Gegensatz zur etablierten Mediaforschung – fast immer vermissen.
Und nicht zuletzt muss man sich immer die Frage stellen: Welche Daten werden hier gewonnen, zu welchem Zweck und welche Aussagen können damit überhaupt getroffen werden. Derartige, oft rein technische Kennziffern haben nur beschränkte Aussagekraft und entsprechen nicht den Anforderungen an eine qualitative Marktforschung. Was der Markt braucht sind von allen akzeptierte Standards, die im Ergebnis Relevanz für alle Player haben. Versuche einzelner Unternehmen, mit eigenen Daten und Untersuchungen zu operieren, stiften Verwirrung und weichen im schlimmsten Fall sogar die Währung auf, die wir erfolgreich für den digitalen Markt etabliert haben. Wesentlich sinnvoller wäre eine Bündelung aller Aktivitäten.
marktforschung.dossier: Herr Wahl, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
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