Guanxi und die Marktforschung

"In der Guanxi-Kultur gibt es wenig Anlass, nach den Kriterien objektiv "richtig" oder "falsch" zu antworten. Vielmehr sind Verhalten und Antworten danach ausgerichtet, ob sie in der gegebenen sozialen Situation eher als "klug" oder eher als "dumm" gelten."

Von Matthias Fargel

Im Westen gelten Essstäbchen, Kaligraphie und Geschäftstüchtigkeit als die Quintessenz Chinas. Doch nichts ist im Kern chinesischer und relevanter als "Guanxi" 关系 .  

Guanxi regelt die Beziehungen und die sich daraus ergebenden gegenseitigen Verpflichtungen, in die Chinesen jeden Menschen eingebunden sehen. Guanxi leitet sich aus der chinesischen Großfamilie ab - dem Grundmodell aller chinesischen Organisationen. Dem Clan gehören neben den Blutsverwandten die Angeheirateten, deren Verwandte und engste Freunde an: Sie zusammen bilden die "Jia Rén", 家人, die zur Familie Gehörenden. Sie stehen in einer differenzierten Hierarchie aus Respekt, Privilegien und Verpflichtungen  zueinander. Da geht es um weit mehr als wiederholte liebevolle Gesten oder Symbole der Höflichkeit. Innerhalb der Jia Rén besteht eine lebenslange Fürsorge, sich in allen Situationen gegenseitig zu helfen, schützen, fördern und vertrauen. Das ist anspruchsvoll, bisweilen teuer und nicht stressfrei. Das Ansehen der Familie verpflichtet jedes Mitglied; der Erfolg des Einzelnen kommt der Großfamilie zu; Peinliches  ist nie nur eine Privatangelegenheit; Ehre oder  Schande färben auf alle im Clan ab (siehe dazu den später erscheinenden Artikel zu "Miánzi" / Gesicht). Chinesen verhalten sich möglichst so, dass der Familie Nutzen entsteht und das eigene Ansehen innerhalb des Clans steigt.  

Innerhalb des Clans sprechen sich Familienangehörige mit Funktionsnamen an, womit signalisiert wird "ich weiß, was Dir und mir  in dieser Beziehung zusteht": Vater, Mutter, große Schwester, zweiter Bruder, Großmutter väterlicherseits, dritter Onkel, u.s.w. In die Familie aufgenommene Freunde erhalten Funktionsnamen wie z.B. "Tante". Die Clanmitglieder sind durch ein besonders ausgeprägtes, belastbares Vertrauensverhältnis untereinander verbunden. Der Clan bildet somit einen geschlossenen "Kreis des Vertrauens", (man denkt da an "Meet the Fockers").
 
"Shú Rén" 熟 人, heißt wörtlich "Menschen zu denen eine gegarte, fertig zubereitete Beziehung besteht" und bezeichnet eine zweite Sphäre des Guanxi. Das sind vertrauenswürdige Freunde, Bekannte, engere Kollegen und altbewährte Geschäftspartner mit gewissen gegenseitigen Verpflichtungen. Shú Rén schulden sich untereinander weniger als Clanmitglieder; man ist im Shú Rén Geflecht aber an einer langfristigen und zuverlässigen Beziehung interessiert. Shú Rén bilden eine weit reichende Infrastruktur aus nützlichen und vertrauenswürdigen Kontakten; aus dem Shú Rén-Kreis heraus treiben schier unendlich weit reichende Verbindungsfäden aus: zu anderen, den man vertrauen kann, die jemanden kennen u.s.w. Die chinesische Gesellschaft ist durchzogen, vermutlich sogar getragen, durch diese Beziehungsketten. Bekanntschaften, Empfehlungen, zuverlässige Kommunikation und Information, Geschäft und Politik bauen primär auf solche Shú Rén gestützte Verbindungen auf. Jia Rén und Shú Rén zusammen bilden die Essenz des Guanxi – ein "LinkIn" in der vier Tausend Jahre alten Urversion. Mao Tse Tung wird der Spruch  zugeschoben "alle Macht kommt aus dem Lauf der Gewehre" – er hätte es als ehemaliger Lehrer und Kenner der Geschichte Chinas besser wissen sollen: In seinem Land sind weit reichende und angesehenes Guanxi–Netzwerke beständiger und langfristig mächtiger als Gewehre, Geld und Titel.

Und was kommt jenseits des "Shú Rén" Kreises? Die "Shèng Rén",  生人 "Menschen, zu denen rohe, unbehandelte Beziehungen" bestehen: also die Fremden, fast egal, ob chinesisch oder ausländisch. Fremden begegnet man, der guten Erziehung und dem eigenen Stolz geschuldet, möglichst höflich und angenehm. Doch man weiß wenig über sie, weder über ihren Charakter, Status, Absichten, Bedrohungspotential und Nützlichkeit. Freundliche Vorsicht ist angebracht; Neugierde darf ausgelebt werden, aber nicht um den Preis von Verpflichtungen, Offenbarungen und eigenen Risiken. Kleinere Prüfungen der Fremden im Hinblick auf deren Verhaltensmuster, Charakters oder Nützlichkeit gelten als angebracht, aber auch eine Abfuhr, freundlich verpackt oder signalisiert, ist legitim.

Es ist eine soziologische Grunderkenntnis, dass Gruppen mit großem Binnenzusammenhalt sich besonders stark nach Außen abschotten. Das trifft den Kern des Guanxi: Es verteilt die materiellen, sozialen und emotionalen Ressourcen zugunsten definierter Nahestehender und vorenthält jene gegenüber den Nichtberechtigten.  
Skrupel, Fremde zum eigenen Vorteil auszunutzen, sind eher schwach ausgeprägt; dem Fremden schuldet man nichts; er muss sich selbst um seine eigenen Interessen kümmern.

Was hat das alles mit Marktforschung zu tun?

Für chinesische Marktinformationssuchende gilt primär: Zuverlässige Informationen über Markt, Chancen, Wettbewerb und Trends kommen zunächst aus dem Guanxi System und / oder werden mit solchen Guanxi-Quellen abgeglichen bzw. verifiziert. Der Glaube an verlässliche Informationen aus systematischen und stochastischen Untersuchungen, durchgeführt und interpretiert von Fremden muss in China noch reifen - dazu an anderer Stelle mehr.

Aus Sicht der Befragten kommt ein Interviewer i.d.R. als Fremder und fragt im Auftrag von Fremden. Ein gemailter Erhebungsbogen hat einen fremden Absender, dessen Absichten unbekannt sind. Es herrscht unter Guanxi – Gesichtspunkten eine totale Nichtbeziehung, bei der ein chinesischer Befragter nichts gewinnen, aber vielleicht etwas verlieren kann: Zeit (siehe später erscheinender Artikel zu "Zeit in China"), Schutz seiner (familiären) Intimität, "Gesicht".

Die im Westen übliche Zusicherung der völligen Anonymität aus Datenschutzgründen und die Betonung auf Zufallsauswahl aus methodischen Gründen, stoßen i.d.R. auf Unverständnis und erhöhen eher das Misstrauen: "Wenn ich schon etwas von mir preisgebe, dann möchte ich auch wissen, an wen und der sollte wissen, wer ich bin."

Aus dem Guanxi- Blickwinkel sind  Chinesen konditioniert, zunächst sich selbst zu fragen, "wem und was nützt meine Teilnahme und die Art meiner Antwort?" Nicht ein objektiver Inhalt, sondern die Beziehungsebene spielt die entscheidende Rolle: "Wie will ich mich darstellen?" Alles, was dem Eigenimage  abträglich ist, wird eher abgelehnt oder beschönigt, bis es passt.

Das heißt: In der Guanxi-Kultur gibt es wenig Anlass, nach den Kriterien  objektiv "richtig" oder "falsch" zu antworten. Vielmehr sind Verhalten und Antworten danach ausgerichtet, ob sie in der gegebenen sozialen Situation  eher als "klug" oder eher als "dumm" gelten.
Wohl dem, der in China Partner hat, die einem dies zu deuten helfen!

Im Sinne des Guanxi ist man als Marktforscher klug, die Zielpersonen  als Mitglied einer Shú Rén – Gruppe anzusprechen: "wir, jene XY-Fahrer mit dem besseren Geschmack, bieten Dir die Möglichkeit, Dich mit Deinen wertvollen Erfahrungen in einen exklusiven Expertenkreis einzubringen... "; oder als Jia Rén: "Du, als große Schwester aller jener Mütter, die sich ebenfalls Sorgen um die Sicherheit der Babynahrung machen", etc.

Vor diesem Hintergrund haben Befragungen, die von den chinesischen Facebook ähnlichen Plattformen oder Nutzerforen wie "Renren", "Sina Weibo", "Douban" oder "Wechat" aus starten, einen Heimvorteil: Es sind zwar fiktive, aber nicht "ganz so fremde" Mitglieder eines virtuellen Beziehungssystems; Leute, die sich mit einem Internet-Namen melden und mit denen man sich, ebenfalls namentlich, gegenüber äußern kann. Bloggen ist eine große Leidenschaft im heutigen China – dazu mal mehr getrennt.

In China ist ein eigener Zweig des "Guanxi"-Marketings entstanden: Maßnahmen, die Kunden als Freunde, Clubmitglieder, Fans oder als Teil einer zweiten Familie ansprechen. "Customer Relationship Management" in einer chinesischen Variante. Produktlabels und Namen von Anchorpersonen nehmen gezielt Anleihen aus der Familie: In der Werbung wimmelt es von Onkeln, Tanten und Großmütterchen. Der in der Werbung Vertrauen stiftende Bezug zur Heimat, zu alten Sagen und Heldengeschichten, berühmten Bergen und magischen Heilkräften ist ebenfalls dem Guanxi geschuldet. Es bedarf Marktforscher mit guter Landeskunde, um solche Zitate und deren symbolische Bedeutung für die Zielpersonen richtig einzuordnen.

Anreize für eine Teilnahme an einer Marktforschungsstudie kann Neugierde auf Neues (siehe später erscheinender Artikel zur Innovationsbereitschaft in China) stiften. Studien, in denen man den Befragten den privilegierten Einblick in etwas Neues bietet, bringen höhere Responseraten.
Gleichzeitig sollte man sich im Hinblick auf Vertraulichkeitsklauseln und entsprechende Verträge mit den Zielpersonen keine all zu großen Illusionen machen – ein Vertrag mit völlig Fremden...

 

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