Jens Krüger vs. Raimund Wildner Gräbt sich die Marktforschungsbranche mit dem Trennungsgebot zwischen Marketing und Marktforschung langfristig ihr eigenes Grab?

Jens Krüger, CEO Bonsai Research
Eine klare Trennung ist gefährlich

Aber so ganz getrennt waren sie ja nie - fast alle Institute haben ihre Einheiten gegründet, formal richtig, aber immer ein Gratwanderung. Heute ist es Unsinn. Und tatsächlich gefährlich.
Schnittstellen und der Kontakt zu den Menschen gewinnen an Bedeutung
Wir müssen beides zusammenbringen, wenn End-To-End Lösungen wie Qualtrics und andere Plattformbasierte Daten-Schnittstellen "daily business" sind. Es geht dabei ja nicht nur um die technische Implementierung eines Systems - obwohl es manchmal so klingt, als wenn die Technik alleine schon Lösung ist. Es geht doch v.a. um die Deutungshoheit des über diese Schnittstellen gewonnene Wissen. Wissen in und über eine immer weiter fragmentierende Welt da draußen. SAP hat sich mit dem teuren Kauf von Qualtrics auf den Weg gemacht, mehr als nur Softwarelieferant zu sein - was sie eigentlich auch schon lange nicht mehr sind. Es geht um die Schnittstelle, den Kontakt zu den Menschen da draußen. Wer es schafft, hier die richtigen Informationen zum richtigen Zeitpunkt abzurufen, wird den Wettlauf um die Deutungshoheit gewinnen. Dabei geht es dann nicht mehr allein um die Information, sondern auch in der Lage zu sein, die richtige Botschaft, den richtigen Impuls auszuspielen. Genau das ist Marketing. Das ist nur ein Beispiel. Auch in anderen Bereichen verwischen die bekannten alten klaren Kontouren - sei es in Co-Creation-Prozessen. Hier sind Anbieter wie zum Beispiel der Crowd-Sourcing-Anbieter Jovoto in der Lage, Kreation und Evaluation in einem Schritt anzubieten. Wenn wir als Branche relevant bleiben wollen, müssen wir uns selbst hinterfragen - eben auch Relikte wie das Trennungsgebot.
Start ups beweisen, dass man auch ohne Trennungsgebot Anerkennung in der Branche findet
Viele von uns Marktforschern haben sich auf den Weg gemacht - sie suchen Kooperation oder (er-)finden eigene Lösungen. Das ist gut so. In den letzten Jahren wurde so viel von Agilität gesprochen - und meist im Kontext von Geschwindigkeit und Digitalisierung. Das ist mir zu einseitig. Agilität ist für mich insbesondere die Anpassung an die gesamtheitlichen Entwicklungen in und um unserer Branche. Wir können Zuhören, wir können Rechnen, wir verstehen Daten und können diese richtig zu deuten.Warum nicht den nächsten spannenden Schritt mitdenken, mitmachen?
Wir können mit unserer tiefen Expertise so viel besser, tiefgründiger, valider auch das, was nach der Ergebnispräsentation kommt, mitgestalten.
Da ist das Trennungsgebot eine gefährliche Barriere, die es eigentlich nicht mehr braucht.
Gerade die vielen spannenden Start Ups in der weiter gefassten Marktforschungs-Szene beweisen, dass es geht. Und Sie genießen - auch ohne Trennungsgebot - die Anerkennung in unserer Branche. Und haben auch mitunter gleich andere oder mehr zu Zugänge. Zugänge, von denen die etablierten Institute seit Jahren reden und sich dann doch wieder in ihre Echokammer der reinen Lehre verstecken. Dabei sollten wir genau das Gegenteil erreichen - Ein bisschen lauter, ein bisschen mutiger werden. Übrigens - damit auch wieder relevanter für junge Bewerber werden. Wir müssen Position beziehen, sich aktiver anbieten, einmischen. Was haben wir denn wirklich zu verlieren?
Raimund Wildner, Vorsitzender Rat der deutschen Markt- und Sozialforschung
Das Trennungsgebot ist notwendiger Schutz für die Marktforschung

Dieses ist aus einer ganzen Reihe von Gründen notwendig:
- "Keine Weitergabe personenbezogener Daten" und "kein Verkauf" - das sind die Versprechen, mit denen die Marktforschung in der Öffentlichkeit auftritt. Diese Versprechen sind zentral wichtig, um Teilnehmer für die Marktforschung zu gewinnen.
- Die Erhebung von personenbezogenen Daten, um diesen Menschen etwas zu verkaufen, kann legal und legitim sein. Nur darf das nicht unter dem Deckmantel der Marktforschung geschehen, schon weil das nicht redlich ist.
- Das deutsche Standesrecht schließt die Weitergabe personenbezogener Daten an den Auftraggeber aus. ESOMAR erlaubt dies für Forschungszwecke. Die deutsche Regelung schützt den/die Marktforscher/in im Unternehmen vor Begehrlichkeiten des Marketings, dem er oder sie ja oft unterstellt ist.
- Auch die organisatorische Trennung bleibt wichtig. Von einem Unternehmen, das als Marktforschungsfirma bekannt ist, wird zu Recht erwartet, dass es die Regeln für die Marktforschung auch beachtet. Will ein solches Unternehmen sein Portfolio erweitern und auch andere Tätigkeiten, wie z.B. Direktmarketing betreiben, so kann dies unter einem anderen Firmennamen geschehen.
- Dazu kommen rechtliche Überlegungen: Forschungsfreiheit ist ein Grundrecht und genießt daher Privilegien, die die Marktforschung auch braucht (z.B. für Telefoninterviews). Art. 5 Abs. 3 GG schützt "jeden, der mit wissenschaftlichen Methoden zu Erkenntnissen gelangen will" (Wikipedia zum Artikel 5 Grundgesetz) und damit auch die Marktforschung. Auch das Datenschutzrecht sieht für wissenschaftliche Forschungszwecke Sonderrechte vor (z.B. Art. 5 DSVGO), wobei diese im Erwägungsgrund 159 ausdrücklich breit definiert werden und u.a. auch privat finanzierte Forschung und damit die Marktforschung einschließen.
Die Trennung von Marktforschung und Marketing bedeutet nicht das Ende der Marktforschung. Sie ist vielmehr der Schutzwall, der sie erst möglich macht.
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