Google: Großangriff auf die Marktforschung?

Von Nils Glück (marktforschung.de)

Noch nicht einmal ein Jahr ist vergangen, seit Google seinen neuen Befragungsdienst "Consumer Surveys" der Öffentlichkeit vorstellte. Spektakuläre Zahlen und eine breit angelegte Expansionsstrategie machen deutlich, dass der Konzern Gefallen gefunden hat an der Online-Marktforschung – und gekommen ist, um zu bleiben.

Das Tool ist inzwischen nicht nur in den USA, sondern auch in Kanada und Großbritannien verfügbar. Die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten nutzte der Konzern im vergangenen Jahr für eine Demonstration seiner Stärke: Einer Analyse des renommierten Daten-Gurus Nate Silver von der "New York Times" zufolge konnte Google die mit Abstand zutreffendste Internet-Wahlprognose aufweisen. Silver verglich dazu vier Tage nach der Wahl die Ergebnisse von Instituten, die mindestens fünf Wahlumfragen in den letzten drei Wochen vor der Wahl angestellt hatten. Kurz vor der Wahl stellte Google seinem Online-Panel die Wahlfrage – und prognostizierte einen Vorsprung für Barack Obama von 2,3 Prozentpunkten gegenüber dem Kontrahenten Mitt Romney in der Gesamtbevölkerung. Silver befand diese Prognose am 10. November als auffallend präzise, besagten erste verlässliche Hochrechnungen doch einen Vorsprung von 2,6 Prozentpunkten. Besser als Google schnitten laut Silver nur die Marktforscher von TIPP mit einem nationalen CATI-Panel ab. Selbst das renommierte Institut Gallup konnte nicht mithalten. Das Institut, so Silver, habe den falschen Gewinner prognostiziert und landete im Ranking auf dem letzten Platz. Das Resultat des Datenexperten Silver fiel entsprechend eindeutig aus: "Die Google-Befragung war fast perfekt, viel besser als die Befragung von Gallup", ließ sich Silver von der Nachrichtenagentur Reuters zitieren. "Wir leben in einer Welt, in der Google Gallup schlägt."

Genüsslich nahm Jon Sadow, Google-Entwickler im Silicon Valley, den Steilpass aus New York auf. In einem Online-Vortrag vom 17. Januar dieses Jahres zeigte sich Sadow selbstbewusst und angriffslustig. Im Stakkato-Ton macht er deutlich, was er von der alten Marktforschung hält. Man habe dem Google-Panel anlässlich der Präsidentschaftswahl lediglich zwei Fragen gestellt und dennoch sei die Qualität der Stichprobe hervorragend gewesen: "Wir können also eine Präsidentenwahl mit nur zwei Fragen pro Teilnehmer zuverlässig voraussagen. Viele Leute hätten vorher geschworen, dass das nicht möglich ist."

Überhaupt, so Sadow, sei die Marktforschung noch viel zu kompliziert – sowohl für Befragte wie auch für Forscher. Der Branche schlägt er "kreative Zerstörung" vor: Weg mit den Frageblöcken nach Alter, Geschlecht, Wohnort. Weg mit großen Item-Batterien und Fragen nach den Vorlieben, Lieblingswebsites, Angwohnheiten der Konsumenten. All dies werde in Zukunft die Technik automatisiert erledigen, plädiert Sadow. Und für die, die das nicht verstehen wollen, hält der Nerd in seinen PowerPoint-Folien eine respektlose Zeichnung parat: Zwei Lastenpferde stehen betrübt vor dem Arbeitsamt und bezichtigen ein Automobil, ihnen den Arbeitsplatz weggenommen zu haben. Die Nachricht aus Kalifornien ist klar: Wer die Zeit verschläft, wird böse bestraft.

Der Eifer, mit dem Google sein Survey-Tool vorantreibt, ist beeindruckend. Die Hoffnung der alteingesessenen Branche, es könne sich nur um ein vorsichtiges Vortasten zu Erprobungszwecken handeln, hat sich nicht bestätigt. Stattdessen kündigte Chefentwickler Paul McDonald im Oktober 2012 in einem Interview mit dem Branchenverband Esomar an, man werde zunächst weitere englischsprachige Länder wie Australien, Singapur und Hongkong ins Visier nehmen. "Und dann werden wir Europa in den Blick nehmen und anschließend versuchen, in Regionen vorzudringen, die schwieriger zu erreichen sind. Zum Beispiel die Länder südlich der Sahara oder andere afrikanische Staaten."

Und es war eben dieser 17. Januar, an dem eine Pressemitteilung aus Palo Alto bekanntgab, dass sich ein Investoren-Konsortium an dem weltweit führenden Onlinefragebogen-Anbieter SurveyMonkey mit rund 800 Millionen Dollar beteiligen wird. Zur neuen Riege der Teilhaber gehört auch Google. Es sei doch bezeichnend, dass die Bewertung von SurveyMonkey in etwa derer von TNS Infratest entspreche, als diese im Jahr 2008 von WPP übernommen worden sei, staunt YouGov-Chef Stephan Shakespeare im Interview mit marktforschung.de angesichts der Neuigkeiten. "Und bislang hat sich SurveyMonkey lediglich auf einer einzigen Etage in Palo Alto eingemietet." Shakespeare bezeichnete das Investment als "möglichen Wendepunkt" für eine neue Struktur in der Branche: Es sei abzusehen, dass es in Zukunft vor allem vollkommen technisierte Do-It-Yourself-Anbieter geben werde, die Panels automatisch zusammenstellen und ihren Kunden bedarfsgerecht anbieten. Auf der anderen Seite sieht Shakespeare Datenspezialisten wie YouGov, die aus komplexen Quellen Markttrends herauslesen. Der Raum dazwischen werde wohl den konventionellen Instituten überlassen bleiben – allerdings könne es sich dabei nicht mehr um einen Wachstumsmarkt handeln.

Google prägt den Begriff der "Micro Surveys"

Was macht die "Consumer Surveys" so interessant? Googles Ansatz ist getrieben von der Überzeugung, dass quantitative Online-Forschung schneller, besser und vor allem billiger geht. Dazu setzt der Konzern auf eine radikale Technisierung und Automatisierung von Panelbildung, Datenerhebung und deren Auswertung. Dies gelingt Google vor allem durch die vielen Daten, die der Suchmaschinenriese ohnehin schon von seinen Nutzern ständig sammelt: Über die Aufzeichnung des Surfverhaltens kann Google Rückschlüsse ziehen auf das wahrscheinliche Alter und Geschlecht eines Teilnehmers, über IP-Daten erstellt Google eine recht zuverlässige Prognose des derzeitigen regionalen Standorts des Panelisten. Ein Abgleich der demografischen und geografischen Daten mit denen der Bevölkerungsstruktur in der jeweiligen Region hilft beim Bilden einer geeigneten Stichprobe. Und zuletzt ermöglicht es Google den Kunden von "Consumer Surveys", Screening-Fragen am Beginn des Fragebogens zu stellen, um eine Teil-Strichprobe nach individuellen Wünschen zu selektieren. Dieser viergliedrige Ansatz, so Googles Strategie, soll die Marktforschung revolutionieren.

Dass auf diese Weise zuverlässige Befragungen auf nationaler Ebene möglich seien, will Google spätestens mit der Präsidentschaftswahl bewiesen haben. Um die Konsumenten aber flächendeckend am Bildschirm zu erreichen, setzt der Konzern auf die Erfahrungen, die er in vielen Jahren mit seinem erfolgreichen Werbeprogramm "AdSense" gesammelt hat. Ein Partner-Netzwerk aus Website-Betreibern bindet die Google-Surveys auf seinen Angeboten ein und wird dafür entlohnt, sobald ein Teilnehmer einen Fragebogen durchlaufen hat. Um etwa Zugang zu einem Artikel im Netz zu erhalten, müssen Leser eines Online-Angebots erst einen kurzen Google-Fragebogen durchlaufen. Statt also Geld vom Leser zu verlangen, wird dieser aufgefordert einige kleine Fragen zu beantworten.

"Wir haben die Dollarzeichen in Fragezeichen verwandelt", scherzt Jon Sadow über diesen neuartigen Ansatz, der statt einer Paywall eine "Surveywall" verwendet. Chefentwickler McDonald macht in einem Interview mit dem YouTube-Channel "Research Business Daily Report" (RBDR) vom Sommer 2012 klar, wie das Projekt 2010 begann: Man suchte nebenbei nach Möglichkeiten, ein Bezahlmodell für Online-Inhalte zu entwickeln. In ersten Versuchsreihen habe es den Testern wesentlich mehr Spaß gemacht, die Attraktivität von Logos oder Werbesprüchen zu bewerten als etwa kryptische Texte abzutippen, um mit diesen Daten später die Arbeit von Leseautomaten zu verbessern. Während letztere Aufgaben die Nutzer eher frustrierten und zum Abbruch des Vorgangs motivierten, hätten sich die meisten Leser über Marktforschungsfragen sogar gefreut. Eine Testphase auf den Seiten des populären Online-Magazins "Huffington Post" führte schließlich dazu, dass Google grünes Licht für das Projekt der "Micro Surveys" gab.

In dieser Allianz von Google mit Website-Betreiben könnte eine erhebliche Gefahr für herkömmliche Panel-Anbieter liegen. Denn auch bei der Bezahlung setzt Google auf Automatisierung und einen Pauschal-Ansatz. Für eine simple Zufallsstichprobe verlangt der Konzern lediglich 10 Dollar-Cent pro gegebener Antwort. Wer seine Stichprobe anhand geografischer Merkmale oder mit Hilfe einer Screening-Frage filtern möchte, zahlt 50 Cent an Google. Rund die Hälfte der Einnahmen wandern als Provision an den Website-Betreiber, wie McDonald klar macht. So ist es problemlos möglich, dass Google für die Befragung von 2.500 zufällig ausgewählten Personen lediglich 250 Dollar vom Kunden verlangt – ein Schnäppchen.

Konkrete Zahlen weist der Konzern nicht aus, auch mit deutschen Medien möchte man nicht sprechen. Schließlich sei das Angebot in Deutschland nicht verfügbar, heißt es knapp aus der Pressestelle. Glaubt man allerdings dem Vortrag von Sadow, so konnte Google allein im November 2012 in den USA rund drei Millionen "Unique Respondents" mit seinem Tool akquirieren. Selbst wenn jeder Nutzer im Schnitt nur eine Frage beantwortet hätte, ließe sich das Ergebnis sehen: Angesichts der Preisstruktur ist davon auszugehen, dass Googles Mindest-Monatsumsatz in den Vereinigten Staaten somit bei rund 650.000 Dollar gelegen hat, wovon rund die Hälfte als Provision an die Website-Betreiber geht. Und das, wie Sadow sagt, nach nur rund neun Monaten Testbetrieb.

Branche bleibt auf Distanz

Die deutsche Branche betrachtet den neuen Mitspieler noch aus der Distanz. Hartmut Scheffler, Managing Director bei TNS Infratest und Vorstandsvorsitzender des Arbeitskreises Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute (ADM), gibt das begrenzte Angebot von Google zu bedenken: "Google bietet im Unterschied zu herkömmlichen Marktforschungsinstituten keine Lösungen/Tools zu Fragen der Markenführung, des Marketing an. Google deckt damit auch nicht die Palette der dafür notwendigen quantitativen und qualitativen Methoden ab." Vielmehr fokussiere sich der Konzern offenbar auf die Nische von sehr kurzer, sehr schneller und sehr günstiger Forschung. "Für den bei weitem größten Teil der Marktforschungsthemen und Fragen reicht ein so eingegrenzter Einsatz, ergänzt um grundsätzliche Beschränkungen hinsichtlich der abgedeckten Grundgesamtheit, nicht aus", sagt Scheffler. "Für die spezielle erwähnte Nische 'kurz, schnell, preiswert' gibt es im herkömmlichen Angebot nichts Vergleichbares."

Auch Christian Brieskorn, Geschäftsführer der Consumerfieldwork GmbH in Hamburg, reagiert kühl auf Googles vermeintliche Discount-Preisliste: "Consumerfieldwork sieht sich als Online-Panel-Anbieter gegenüber Google Consumer Surveys gut aufgestellt, da der durchschnittliche 15-minütige Fragebogen unserer Kunden ungefähr 60 Fragen enthält und bei uns ca. 3 Euro Fallpreis kostet." Brieskorn rechnet vor, was solch ein Fragebogen bei der Konkurrenz kosten würde: "Eine Befragung gleicher Länge mit Google Consumer Surveys kostet mindestens 6 Euro (60 Fragen * 10 Cent pro Frage). Wenn – wie fast immer erforderlich – ein Screening oder eine demografische Einschränkung nötig ist, dann steigt der Preis für eine Befragung gleicher Länge bei Google auf 30 Euro (60 Fragen * 50 Cent pro Frage)." Letztlich sei der günstige Preis damit hinfällig, sagt Brieskorn: "Damit ist bei vergleichbarer Fragebogenlänge Google Consumer Surveys zweifach bis zehnfach teurer als Consumerfieldwork."

Auf die teils deutliche Kritik aus der Branche reagiert Google gewohnt gelassen. Fraglich erscheint vor allem die Qualität des Google-Panels. In einem 16-seitigen Gutachten führt der Konzern aus, weshalb er die Erhebungen als verlässlich erachtet: Demnach weichen weder Rohdaten noch gewichtete Analysen besorgniserregend von vergleichbaren Erhebungen ab. Ein Mythos über die Ermittlung von Befragungsergebnissen laute "schnell oder genau, aber nicht beides", sagt Sadow. Google habe diesen Mythos zerstört, habe ein halbes Jahr lang genauestens getestet, ob die eigenen Ergebnisse sich mit denen von herkömmlichen Studien vergleichen ließen. Der durchschnittliche Unterschied zwischen den erhobenen Daten von Google und den von anderen Instituten habe bei lediglich rund drei Prozent gelegen. Das sei "ziemlich gut".

Google-Gegner haben die Stichprobenqualität dennoch als Achillesverse des Projekts ausgemacht. Projektleiter McDonald hat beobachtet, dass viele Survey-Kunden mit dem Tool gezielt Validitätsfragen stellen, um die Repräsentativität der Stichprobe zu überprüfen: Fragen nach dem Aufkommen einer bestimmten Marke etwa. Die Konkurrenz scheint nur darauf zu lauern, Googles Samplingmethode in Misskredit bringen zu können.

Dabei könnte Google selbst das Etikett einer fragwürdigen Qualität hinnehmen, sind die anderen Vorzüge des Tools doch ebenfalls verlockend: Die Teilnahmebereitschaft der Panelisten sei höher, argumentieren die Entwickler, denn "Consumer Surveys" stellt den einzelnen Teilnehmern jeweils maximal zwei Fragen – wobei ein Survey-Projekt auch mehr Fragen beinhalten darf. Diesen Widerspruch gleicht der Google-Datenalgorithmus durch Gewichtung wieder aus. "Wenn wir neue Datenpakete nutzen, können wir den gesamten Prozess der Forschung extrem beschleunigen, ohne ihn teurer zu machen", so Sadow. "Wir können Tausende Teilnehmer innerhalb von wenigen Stunden akquirieren". Kollege McDonald bringt es auf eine einfache Formel: "Wir leisten mehr in kürzerer Zeit, für weniger Geld." Am Ende müsse sich jeder selbst entscheiden, ob er statt eines Online-Panels eine viel teurere, zeitaufwändigere Offline-Studie anfertigen lassen wolle.

Neue Mikro-Marktforschung

Den eigentlichen Großangriff plant Google im Segment kleiner bis mittlerer Unternehmen. "Unser Fokus sind die kleineren Firmen, denn die hatten bislang keinen direkten Zugang zu professioneller Marktforschung", sagt McDonald im Interview mit dem RBDR. "Das ist wirklich eine Form der Demokratisierung: Wir geben diesen Unternehmen Zugang zu Tools, für die sie sonst Tausende Dollar zahlen müssten." Eine aussagekräftige Studie bekomme man mit Hilfe von "Consumer Surveys" bereits ab 1.000 Interviews geliefert, für Target-Stichproben genügten bereits 200 bis 500 Interviews.

Frank Knapp, Chief Information Officer bei Psyma und Vorstandsvorsitzender des BVM Berufsverbands Deutscher Markt- und Sozialforscher, sieht in dem Tool eine interessante neue Möglichkeit für Omnibus-Anbieter: "Hier stellen Sie, wie bei Google, lediglich sehr wenige, meist bereits vorhandene Fragen in ein bestehendes Instrument ein. Sie können also gar nichts mehr am Instrument verändern." Den Mikro-Ansatz von Google kann Knapp durchaus etwas abgewinnen: "Bei solchen 'Kleinstumfragen' könnte eine Online-Schnittstellen sowohl für Auftraggeber als auch Dienstleister eine Arbeitserleichterung darstellen. Zusätzliche Beratung kann man ja immer noch anbieten."

Die Strahlkraft der Marke Google kann allerdings leicht von möglichen Schwächen des Projekts ablenken. Auch wenn Hartmut Scheffler dem Simplizitätsgedanken des Tools etwas abgewinnen kann, bleibt er kritisch: "Marktforschung ist in der Tat für den Teilnehmer bzw. Befragten manchmal recht kompliziert. Zum Teil ist dies den notwendigen Informationen in Richtung Datenschutz und Einholung der Zustimmung geschuldet, zum Teil den natürlich längeren und umfassenderen Fragebögen." Auf deutliche Unterschiede zum Do-It-Yourself-Ansatz von Google möchte Scheffler dennoch nicht verzichten: "Vereinfachung täte der Marktforschung an der einen oder anderen Stelle gut, ist aber weitem nicht immer Google-ähnlich zu erreichen. Deren einfacher Ansatz ist damit komplementär, aber nicht ersetzend zur klassischen Marktforschung zu sehen."

Der Nutzer stehe im Mittelpunkt, beteuert Google gebetsmühlenartig. Es ist diese dogmatische Politik, die die Branche nervös macht. Beispielsweise fragt man sich, weshalb Google die Länge der einzelnen Fragen zunächst auf 100 Zeichen begrenzte. Dies habe den Zweck, den Teilnehmer nicht zu überfordern, sagt McDonald. Ein weiterer Kritikpunkt könnte die obligatorische Google-Kontrolle darstellen: Ähnlich wie bei Google-Werbekampagnen durchläuft jeder Fragebogen zunächst eine automatische wie menschliche Sichtprüfung. Anzügliche Fragen oder solche, die Teilnehmer verwirren könnten, werden nicht akzeptiert. Google selbst bezeichnet dies als Service, um unerfahrenen Marktforschern hilfreiche Tipps an die Hand zu geben. Doch achtet Google stets auf seinen guten Ruf als Werbeplattform – die Hoheit über ausgespielte Inhalte bleibt wie immer beim Konzern.

"Wer Marktforschung ernst nimmt, kann nie von einem massentauglichen Tool für jedermann sprechen", hält Hartmut Scheffler dagegen. "Do-it-yourself in der Marktforschung führt häufig zu nicht validen, nicht richtigen Daten", erinnert der ADM-Vorsitzende. Eine konkrete Gefahr sieht er bislang jedoch nicht: "Der Google-Ansatz gefährdet das klassische Geschäft trotzdem nur dann, wenn dort die Regeln des Datenschutzes nicht eingehalten werden und/oder Qualitätsprobleme in Richtung Stichprobe, Gewichtung, Auswertung bestehen." Einen Verdrängungseffekt sieht Scheffler ebenfalls nicht: "Der Google-Ansatz ersetzt nicht bisherige Marktforschungsansätze, er ergänzt um eine – einen Nischenbedarf abdeckende – Option. Die Anzahl der operativen und strategischen Fragestellungen, die mit der Grundgesamtheit von Google Surveys, mit ein bis zwei Fragen und mit max. 125 Zeichen/Frage zu lösen sind, ist und bleibt übersichtlich."

Ein Problem für die Expansionspläne des Konzerns könnten in der Tat Datenschutzrichtlinien der einzelnen Länder darstellen. Denn Google greift für seine vollautomatisierte Panelmethodik auf Daten unterschiedlichster Quellen zu, so etwa auch auf Cookies seines Werbevermarkters DoubleClick. Es gebe "Regulierungsangelegenheiten, die wir lösen müssen", deutete McDonald bereits an. Auch Hartmut Scheffler sähe ein stärkeres Engagement von Google in der deutschen Marktforschung grundsätzlich positiv, wie er sagt. "Wünschenswert wäre allerdings, dass sich alle Unternehmen, die marktforscherisch aktiv werden, nicht nur an die Gesetze, sondern auch an die Richtlinien und Codizes der Marktforschung halten und im Idealfall Mitglieder der entsprechenden Verbände sind", macht der ADM-Chef klar. "Insofern der Wunsch, Google als Marktforschungsanbieter auch als Mitglied im ADM willkommen heißen zu dürfen!"

Google hat weitere Pläne

Wenn es nach Entwickler McDonald geht, soll es nicht bloß bei dem viergliedrigen Ansatz bleiben: "Wir haben noch mehr Informationen über unsere Nutzer: Wir kennen ihre Interessen basierend auf den Seiten, die sie besuchen. Wir aggregieren, wonach die Menschen suchen." Diese Zussatzinformationen seien das eigentlich Wertvolle neben den Fragebogen-Antworten. Man respektiere zwar die Wichtigkeit der herkömmlichen Primärforschung, sagt auch Sadow. Doch man könne diese Forschung mit weiteren Daten aus anderen Quellen anreichern. "Wir wollen einen neuen Ansatz in der Forschung auf Mikroebene erschaffen", so Sadow. Als Beispiel, wohin die Reise gehen könnte, nennt der Entwickler die Datenbrille "Google Glass": "Die Zukunft ist schon da."

Ganz ohne fremde Hilfe der etablierten Marktforschung kommt aber auch Google nicht aus, und dies lässt aufhorchen. So war im Februar 2012 in Fachmedien äußerst knapp zu lesen, Google habe in den USA ein neues Panel namens "Screenwise" gestartet. Partner des Projekts, bei dem Nutzer per Google-Konto und Opt-In an einem umfassenden Tracking ihres Surfverhaltens teilnehmen, ist ausgerechnet ein Unternehmen der US-Sparte der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK): Knowledge Networks assistiert bei dem Großprojekt, bei dem die Panelisten entweder auf ihrem Computer ein Plugin in den Google-Browser Chrome integrieren oder einen speziellen Hardware-Router im Heimnetzwerk installieren. Auf diesem Weg soll das gesamte Surfverhalten analysiert werden. Als Incentivierung stellt Google den Panelisten ganz altmodisch Shopping-Gutscheine in Aussicht. Man wolle so seine Produkte optimieren und "mehr über das Medienverhalten der Menschen erfahren, im Web und anderswo", ließ das Unternehmen mitteilen. Das Ganze sei aber "ein sehr kleines Projekt". Neben Auskünften über Mediennutzung, Geräte, Wohnort und demografische Struktur der befragten Haushalte erwartet Google von seinen Tracking-Panelisten die Teilnahme an Befragungen bezüglich Marken und Werbung.

"Screenwise" hat den Anschein von Marktforschung für interne Zwecke , ein möglicher Zusammenhang mit den "Consumer Surveys" ist unklar. Auf Anfrage von marktforschung.de sagte ein Google-Sprecher, es bestehe keine Verbindung. Google betont auf seinen Websites, das Panel diene nur den konzerneigenen Produktverbesserungen. Eindeutig ist dagegen, dass in die neuen Panels Investitionen in Millionenhöhe fließen. Denn auch in Großbritannien hat Google ein ähnliches Projekt gestartet: Partner des dortigen "Screenwise"-Ablegers ist das deutsche GfK-Unternehmen Nurago.

Ein drittes Medien-Panel namens "Screenwise Select" entsteht seit Mitte 2011 auf der Insel in Zusammenarbeit mit Kantar – der Umfang des Projekts, das sich auf Crossmedia-Effekte von TV- und Internet-Nutzung konzentriert, wird von Fachmedien auf 3.000 Teilnehmer beziffert. Besonderen Wert legen die Macher hier auf eine bevölkerungsrepräsentative Stichprobe, weswegen nur ausgewählte Konsumenten teilnehmen dürfen. Die globale Panel-Offensive ist Ausdruck von Googles Interesse, seine Online-Werbeangebote zu verbessern und der Industrie zudem den Bereich Internetmarketing schmackhaft zu machen. Auch das Portal "Google Think Insights" bietet der Werbewirtschaft Studien und Tools an, die neue Einblicke in die Customer Journey im Internetzeitalter versprechen.  

So steht vor allem die Mobile-Forschung im Zentrum des Interesses - und das gilt auch für das Survey-Projekt. Ziel sei es, "bessere und smartere Insights über Nutzer zu bekommen", führt Sadow aus. Spöttisch äußert er sich über den neuen Trend in der Branche: Man könne nicht einfach nur sagen "mobile wird wichtiger". Man müsse stattdessen grundlegend etwas ändern – so wie Google es getan habe. Denn mit dem eigenen Betriebssystem Android und einem weit verzweigten Netzwerk aus Werbepartnern spielt der Konzern auch auf den Handys dieser Welt eine führende Rolle. Die gesamte Customer Journey möchte der Konzern mit Hilfe seiner Daten-Expertise neu analysieren. "Es passt sehr gut zu dem, was wir sonst so machen", begründet Sadow die großen Ambitionen.

"Je nach Forschungsfragestellung und Zielgruppe benötigen Sie aber einen bestimmten Forschungrahmen, um verlässliche Ergebnisse produzieren zu können“, hält Knapp vom BVM den Plänen von Google entgegen. „Und das kostet eben in vielen Fällen Geld. Und erfordert Expertise, was eine Kernkompetenz von uns Markt- und Sozialforschern darstellt." Auch Hartmut Scheffler hält der Innovations-PR aus dem Silicon Valley die Erfahrung der hiesigen Branche entgegen. Angesichts neuer Marktteilnehmer müsse sich die Branche keine Sorgen um die eigenen Vorzüge machen: "Das ganzheitliche Verständnis von Marken, von Methoden - und dies branchenübergreifend und themenübergreifend – Innovationsforschung, Kommunikationsforschung etc. – ist und bleibt weiterhin unique bei der Marktforschung." Ein allzu radikaler Wandel in wechselhaften Zeiten könne er nicht empfehlen: "Das dümmste, was die Markt- und Sozialforschung tun könnte, wäre aus populistischen und opportunistischen Gründen auf die bereits erwähnten Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale zu verzichten", gibt er zu bedenken. "Nämlich den Anspruch auf angewandte wissenschaftliche Forschung – unterstrichen alleine schon durch die Interdisziplinarität der Mitarbeiter: Von Soziologie und Psychologie über BWL und Informatik bis hin zu Neurologie."

Mit Interdisziplinarität freilich kennt sich Google ebenfalls aus. Das rund 25-köpfige Entwicklerteam um Paul McDonald besteht laut eigenen Angaben neben Programmierern aus Marketingexperten, Fragebogen-Fachkräften, Spezialkräften aus den Bereichen Nutzer- und Werbeforschung sowie Statistikern von der Stanford-Universität. Auf sonderlich große Anteile am Kuchen der Marktforschungsbranche hat es der Konzern aber angeblich nicht abgesehen: "Wir haben kein Team, das sich dezidiert in der professionellen Marktforschung engagiert. Wir haben weder die Expertise noch die Zeit dafür. Google ist eine Technologiefirma und wir denken wir haben eine Plattform gebaut, die das genaueste Sample der US-Bevölkerung liefert, außerdem Tools, um Befragungen zu erstellen und auszuwerten", so der Chefentwickler. Man plane lediglich ein erstklassiges Tool zur Auswertung von Marktforschungsdaten und Umfrage-Ergebnissen. "Ganz ehrlich: Wir wollen keine professionelle Marktforschung betreiben."

Es bleibt abzuwarten, welche Nachhaltigkeit diese Aussage vor dem Hintergrund der Akqusition von Survey Monkey haben wird.

Quellen zum Weiter- und Nachlesen:

Nate Silvers Analyse in seinem Datenblog:
http://fivethirtyeight.blogs.nytimes.com/2012/11/10/which-polls-fared-best-and-worst-in-the-2012-presidential-race/

Interview mit Nate Silver von Reuters:
http://www.reuters.com/article/2012/11/09/us-usa-campaign-silver-idUSBRE8A81I620121109

Die Wahlprognose von Google Customer Surveys:
http://www.google.com/insights/consumersurveys/view?survey=6iwb56wuu5vc6&question=2&filter=&rw=1

Whitepaper von Google zur Qualität von "Consumer Surveys": http://www.google.com/insights/consumersurveys/static/consumer_surveys_whitepaper_v2.pdf

Interview des „Research Business Daily Report“ mit Paul McDonald auf YouTube (ca. 52 Minuten):
http://www.youtube.com/watch?v=7duXvbfozyc

Interview von Esomar (Research World) mit McDonald:
http://rwconnect.esomar.org/2012/10/11/google-consumer-surveys/

Präsentation von Jon Sadow auf YouTube (ca. 52 Minuten, startet ab Minute 19):
http://www.youtube.com/watch?v=G7XkhaKN64Q&feature=plcp

Charts  des Vortrags von Jon Sadow:
http://www.papor.org/files/2012/Presentations/Web - Respondent-First Online Research - Sadow.pdf

Hintergründe zum US-Panel:
http://www.screenwisepanel.com/

http://mrqc.knowledgenetworks.com/knimages/s15742/privacy.htm

http://mrqc.knowledgenetworks.com/knimages/s15742/FAQ.htm#2

Screenwise Select:
http://screenwiseselect.co.uk/

Screenwise-Panel in Großbritannien:
https://www.screenwisetrendspanel.co.uk/ 

 

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