Globalisierung 2.0 - Wie Offshoring die Arbeitswelt verändert

Von Eva Hammächer

Die Automobilindustrie tut es schon lange. IT-Unternehmen tun es seit Mitte der 90er Jahre im großen Stil. Und US-amerikanische Firmen tun es länger und häufiger als deutsche Unternehmen. Die Rede ist vom Offshoring, der Verlagerung von Unternehmensprozessen in Niedriglohnländer. Ausgelöst durch die zunehmende Internationalisierung und Digitalisierung von Arbeit sorgt das Phänomen Offshoring für einen tiefgreifenden strukturellen Wandel der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen. Betraf Offshoring in den 90er Jahren in erster Linie geringqualifizierte Tätigkeiten in der Industrie, so hat der Trend längst die Büros der Angestellten und Hochqualifizierten erreicht. „Auf die Internationalisierung der Handarbeit folgt die Internationalisierung der Kopfarbeit“, so die überspitzte These von Andreas Boes, Arbeits- und Industriesoziologe am ISF München. „Globalisierung 2.0“ nennt er diese neue Phase der Globalisierung, in die mittlerweile auch die Marktforschung eingetreten ist.

US-amerikanische IT-Firmen waren die ersten, die Anfang der neunziger Jahre vor allem nach Indien gingen, um dort spezialisiertes Personal zu niedrigen Kosten zu finden. Der Boom der IT-Branche und der damit verbundene Fachkräftemangel brachten den Trend zum Offshoring von IT-Dienstleistungen hervor, der um die Jahrtausendwende einen ersten Höhepunkt fand. Daraus erwuchs eine öffentliche Debatte, die im Jahr 2002 durch Prognosen von Marktforschungs- und Beratungsfirmen wie Forrester Research befeuert wurde, wonach alleine aus den USA bis 2015 3,3 Millionen Dienstleistungsjobs in Billiglohnländer verlagert werden könnten.

Offshoring als globaler Trend

Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema erlebte in Deutschland ein Jahr später einen Höhepunkt, nachdem Studien von Unternehmensberatungen die Verlagerung von Dienstleistungsarbeitsplätzen im großen Stil prognostizierten: „Die deutsche IT-Landschaft steht unmittelbar vor einer tiefgreifenden strukturellen Veränderung: Offshore-Outsourcing wird elementarer Bestandteil der IT-Strategie von Großunternehmen werden“, heißt es in der Einleitung einer Studie von Deloitte & Touche. Eine Studie von A.T. Kearney bestätigt im gleichen Jahr den globalen Trend zum Offshoring, von dem insbesondere europäische Finanzdienstleister mit Einsparpotenzialen von 30 Prozent und mehr profitieren könnten. Der Trend zum Offshoring habe nun auch Europa erreicht, allerdings würden die Vorzüge des Offshoring bislang nur zögerlich genutzt. Während in den USA 2005 bereits 800.000 Dienstleistungsjobs wie Programmierer, Buchhalter und Telefon-Makler nach Indien verlagert wurden, herrschte in Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch eine regelrechte Offshore-Lethargie. Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit wurde die zunehmende Verlagerung von Unternehmensprozessen ins Ausland in der Öffentlichkeit mit Skepsis betrachtet. Meldungen von Branchenriesen wie IBM oder Siemens, in den kommenden Jahren Tausende von Jobs nach Indien, China oder Osteuropa zu verlagern, heizten die öffentliche Debatte an und brachten Offshoring-Kritiker mit protektionistischen Forderungen auf den Plan.

Die deutsche Offshoring-Lethargie

Der von Deutsche Bank Research und dem IT-Branchenverband BITKOM veröffentlichte „Offshoring Report 2005“ ist um eine Versachlichung der Debatte bemüht und bilanziert, dass sich öffentliche Wahrnehmung und faktische Bedeutung von Offshoring ganz erheblich unterscheiden. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Arbeitsplatzwirkungen von Prozess-Verlagerungen ins Ausland in Grenzen halten. In Deutschland würden daher die Risiken des Offshoring überschätzt und die Chancen sollten stärker genutzt werden. Es herrsche Nachholbedarf in deutschen Firmen, gleichzeitig jedoch auch ein breiter Konsens unter den Studienteilnehmern, dass die Umsätze mit  Offshoring in Zukunft deutlich steigen werden.

Offshoring oder Nearshoring? – Warum in die Ferne schweifen?

Doch worin liegen die Chancen und wo lauern Fallstricke? Und welche Unternehmensprozesse eignen sich überhaupt zur Auslagerung, ohne dass Qualität und Effizienz darunter leiden und Kostenvorteile verloren gehen? „Grundsätzlich eignen sich alle standardisierbaren und personalintensiven Geschäftsprozesse für eine Offshore-Verlagerung“, so Andreas Pratz, Autor der A.T. Kearney Studie. Ausgelagert werden daher vor allem Backoffice-Aufgaben, die branchenunabhängig und einfach zu handhaben sind. Komplexe Sachverhalte, die häufige Rückfragen erfordern oder sehr vertraulich sind, eignen sich weniger – auch aufgrund unterschiedlicher Zeitzonen sowie sprachlicher und kultureller Unterschiede. Als wichtiger Erfolgsfaktor erweist sich für Anbieter und Nachfrager der Aufbau eines partnerschaftlichen Verhältnisses zum Offshorer. Hierin liegt vermutlich auch der Grund, warum zentral- und osteuropäische Länder wie Ungarn, Rumänien oder die Slowakei für Deutsche beziehungsweise Europäer attraktiver sind als der asiatische Raum. Denn neben rechtlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen entscheiden auch weiche Faktoren wie Mentalität, Kultur und Sprache maßgeblich mit über den Erfolg von Offshoring-Projekten.

Offshoring in der Marktforschung

Prof. Erich Bauer hebt in seinem Aufsatz „Offshoring in der Marktforschungsbranche“ (2008) die Bedeutung der kulturellen Nähe besonders hervor. Was die Kostenvorteile betrifft, bleibt Indien zwar attraktivster Offshoring-Standort, insbesondere für angloamerikanische Marktforschungsinstitute. Kontinentaleuropäische Marktforschungsinstitute interessieren sich jedoch verstärkt für Nearshoring-Destinationen wie Polen, Rumänien, die Slowakei, Russland und die Ukraine. So vermeldete beispielsweise auch die GfK Anfang Oktober die für 2014 geplante Verlagerung von Coding-Aufgaben nach Bulgarien. In den letzten Jahren sind auch immer mehr Marktforschungsinstitute dazu übergegangen, zunächst IT-basierte Dienstleistungen und dann immer mehr auch Unternehmensprozesse und -funktionen auszulagern. Auslöser hierfür sieht Bauer in dem gestiegenen Wettbewerbsdruck sowie den gestiegenen Anforderungen der Nachfrager an die Anbieter von Marktforschungsdienstleistungen. Ausgelagert werden mittlerweile nicht mehr nur IT-basierte Dienstleistungen und allgemeine Back-Office-Prozesse, sondern zunehmend auch marktforscherische Kernprozesse und Kernfunktionen wie die Koordination von globalen Marktforschungsstudien, die Datenerhebung unter Einsatz von CATI-Systemen, die Datenaufbereitung und Datenanalyse, die Panelakquisition oder gar die Erstellung von Präsentationen. Die Auslagerung von Kernprozessen und -funktionen, die das Wettbewerbsprofil des Institutes prägen, ist nach Bauers Ansicht jedoch mit Vorsicht zu genießen. Zumindest dann, wenn man dies in Form von Offshore Outsourcing betreibt, sie also an fremde Firmen im Ausland vergibt. Anders sieht dies beim Captive Offshoring aus, der Vergabe an ein im Ausland tätiges Tochterunternehmen oder Joint-Venture. Bauer sieht im Captive Offshoring die prinzipiell vorteilhaftere Offshoring-Variante, da hier Gewinnmargen und Transaktionskosten wegfallen und die Auslagerung von Kernfunktionen eher möglich ist. Aufgrund der hierzu erforderlichen Tochterunternehmen oder finanziellen Mittel ist diese Form des Offshorings jedoch in erster Linie von den größeren Marktforschungsinstituten zu realisieren.

Logistikunternehmen als Meister des Auslagerns

Die Bereitschaft zum Auslagern unterscheidet sich sehr von Branche zu Branche. „Logistikunternehmen sind Meister des Auslagerns“, titelt die Unternehmensberatung Steria Mummert in einer Pressemitteilung. Sie kommen in ihrer Studie „Erfolgsmodell Outsourcing 2013“ zu dem Ergebnis, dass Logistik- und Transportunternehmen dem Outsourcing von IT-Leistungen generell offener gegenüberstehen als andere Wirtschaftszweige, wie beispielsweise Finanzdienstleister. Sie sind meist Teil internationaler Lieferketten und damit gewohnt, mit einer Vielzahl von Partnern zusammenzuarbeiten. Auch das Überwinden von Fremdsprachenhürden gehört für die Branche zum Tagesgeschäft, ebenso der Umgang mit unterschiedlichen Zeitzonen. „Die Erfahrungen der Logistikunternehmen zeigen, dass sich viele vermeintliche Outsourcing-Hindernisse wie kulturelle und sprachliche Unterschiede überwinden lassen. Unternehmen anderer Branchen werden dies mit zunehmender globaler Vernetzung ebenfalls erkennen und ihre Skepsis gegenüber dem Auslagern von Tätigkeiten ins Ausland ablegen", so Daniel Just, Experte für Sourcing-Fragestellungen von Steria Mummert Consulting. Ein zentraler Hinderungsgrund für mehr Offshoring ist in vielen Branchen die Sorge um die Datensicherheit, die in der Assekuranz am stärksten ausgeprägt ist. „Die Versicherungswirtschaft wird ihre vielfältigen Besorgnisse gegenüber Offshoring über kurz oder lang neu überdenken. Denn der Effizienzdruck, der auf der Branche lastet, ist zu groß“, prognostiziert Just. Fazit der Studie: „Outsourcing wird weiter an Bedeutung gewinnen“, so Dr. Fritz Moser, CEO von Steria Mummert Consulting. „Denn erst jedes zehnte Unternehmen hat die Möglichkeiten zur Auslagerung voll ausgeschöpft. Immer noch fast die Hälfte der Entscheider geht davon aus, dass Offshoring im eigenen Unternehmen zunehmen wird.“ Waren zu Beginn der Offshoring-Welle vor allem Kostensenkung sowie der Zugriff auf spezialisiertes Personal die dominierenden Motive, so zeigt die Studie, dass seit der letzten Befragung 2011 häufiger die Konzentration auf das Kerngeschäft durch eine Entlastung des Managements als Offshoring-Motiv genannt wird.

Grenzen der Entgrenzung

Es gibt jedoch auch skeptische Stimmen: So soll sich einer Gartner-Analyse zufolge das Offshoring in Europa bis zum Jahr 2016 um 20 Prozent reduzieren. Die Ursache hierfür sieht Frank Ridder, Research Vice President IT-Services und Sourcing bei Gartner, in der hohen Arbeitslosenquote unter jungen Menschen in einigen europäischen Ländern. „Das kann sich keine Volkswirtschaft auf Dauer leisten, deswegen erwarten wir, dass die EU politisch gegensteuern wird“, so Ridder in einem Interview mit der Computerwoche. Dazu kommt, dass Gehälter und Wohlstand in den entwickelten Offshore-Ländern schneller steigen als erwartet. Der Wettbewerbsvorteil durch günstige Lohnkosten schwindet, so dass die indischen Provider künftig statt Arbeitskraft Lösungen verkaufen müssen.

Weitere negative Erfahrungen liegen z.B. in Problemen mit der Infrastruktur oder hoher Mitarbeiterfluktuation, so dass manches ambitioniert gestartete Offshoring-Projekte mittlerweilen wieder stillschweigend geschrumpft oder ganz abgewickelt wurde.

Die Grenzen für ein Offshoring von Mafo-Dienstleistungen umreißt Tony Cowling, President and Special Advisor von TNS (GB) folgendermaßen: „Data processing is currently outsourced to India, Eastern Europe and Africa on a big scale, but outsourcing has its limits. Market research always did and always will depend on cultural understanding. Telephone interviews, for instance often have to be sourced locally because people far away fail to understand the context of a question or maybe the accent of the interviewer is too strong. Simple information can be outsourced, but culture is often impossible to translate.” (ESOMAR Industry Report 2006). Auch wenn die wirtschaftliche Entgrenzung fortschreitet, so scheint es doch inhaltliche Grenzen zu geben, die sich nicht ohne Weiteres überwinden lassen.

Klar scheint, dass meist nur kundenferne Prozesse für ein Offshoring in Frage kommen, so dass Offshoring in der Regel mit einer höheren Arbeitsteilung und Standardisierung von Prozessen einhergeht. Hier liegt aber auch eine Hauptkonkurrenz für die angestrebten Kosteneffekte. Denn Prozessoptimierung in Verbindung mit Automatisierung erlaubt auch an den angestammten Standorten erhebliche Einspareffekte, so dass sich dadurch eine Verlagerung unter Umständen gar nicht mehr lohnt.

 

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