Frauen in der Marktforschung: Jutta Rothmund, rothmund insights ‚Gleichbehandlung‘ ist das Ziel, nicht der Weg

Jutta Rothmund, selbstständige Forscherin von rothmund insights schätzt an ihrer Selbstständigkeit die Freiheit und Flexibilität. Für sie gehört zur Gleichbehandlung auch das Bewusstsein, dass Frauen eine andere Lebenswelt und andere gesellschaftliche Anforderungen haben: Frauen brauchen an manchen Stellen vielleicht eine andere Förderung als Männer.

Jutta Rothmund

Jutta Rothmund  ist überzeugt, dass Austausch zu einer besseren Forschungs- und Erkenntnisqualität führt. An ihrem Netzwerk schätzt sie interdisziplinäre Expertise und Diversity.

Frau Rothmund, Sie sind studierte Psychologin. Wann und wie ist Ihr Berufswunsch entstanden, in der Marktforschung tätig zu werden?

Jutta Rothmund: Meine Forschungsleidenschaft war schon immer stark. Ich erinnere mich noch an meine jugendliche Faszination für Science-Fiction Filme. Dort gewannen Forschende (durchaus auch weibliche) wichtige Erkenntnisse – nachts, wenn alle schlafen. Das wollte ich auch. Heute noch bin ich tatsächlich eher Eule als Lerche, auch wenn sich das verschoben hat. Der Gewinn spannender Erkenntnisse ist mitnichten tageszeitabhängig.

Zur Marktforschung kam ich klassisch über ein Praktikum während meines Studiums. Aus dem Praktikum wurde eine studentische Mitarbeit in Marktforschungsinstituten, parallel zu meiner studentischen Tätigkeit am Lehrstuhl und in einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt. Nach dem Studium ging es wissenschaftlich weiter, nach zwei Jahren habe ich mich dann aber für die Marktforschung entschieden. Das ist mir nicht leichtgefallen, war aber absolut richtig. Der direkte Anwendungsbezug, die kürzeren, dynamischen Projekte und die Dienstleistungsorientierung passen für mich perfekt.

Gab es wichtige Vorbilder oder Mentorinnen, die Ihre berufliche Entwicklung beeinflusst und gefördert haben?

Jutta Rothmund: Es gab an vielen Stellen Menschen, die mich gefördert und mir mit ihrem Vertrauen Spielräume für meine Entwicklung gegeben haben. Es gab auch immer wieder Menschen, die eine gewisse Modellfunktion für mich hatten. Mit Vorbildern im klassischen Sinne tue ich mich persönlich aber etwas schwer. Ich denke, jede muss ihren eigenen Weg finden. Dennoch sind Rollenmodelle (weibliche und männliche) wichtig, weil sie die Möglichkeiten in den Lebens- und Berufsentwürfen aufzeigen.

Sie haben nach Ihrem Studium insgesamt 14 Jahre bei YouGov als Senior Consultant gearbeitet. Was nehmen Sie aus dieser Zeit mit?

Jutta Rothmund: In der langen Zeit konnte ich ein außerordentlich breites Spektrum an Themen betreuen, an Methoden kennenlernen, anwenden und entwickeln. Dabei habe ich fast jede marktforscherische Fragestellung entlang der Customer Journey bearbeitet, in verschiedenen Strukturen und verschiedenen Teams gearbeitet, viele tolle Menschen kennengelernt – im Unternehmen, auf Seiten der Beauftragenden und der Dienstleistenden. Da sind fruchtbare Netzwerke entstanden, die ebenso wie die langjährige Expertise wichtig für den Aufbau einer Selbstständigkeit im Bereich kundenzentrierter Marktforschung sind.

14 Jahre in einem Unternehmen mag vordergründig monoton erscheinen.

Die Marktforschungswelt ist aber hoch dynamisch. Gefühlt war ich in mehreren Unternehmen beschäftigt.

Bei meinem Eintritt war das damalige Unternehmen psychonomics zwar bereits etabliert, dennoch herrschte weiterhin ein starker Start-up Geist mit viel Selbstverantwortung und Freiheiten, auch was die Weiterentwicklung von Forschungsansätzen, Themen und Kundenbeziehungen anging. Bei meinem Austritt war es ein Data & Analytics Konzern mit definierten Strukturen und stärkerer Arbeitsteilung, was für die Beschäftigten je nach Rolle und Ebene entlastend sein kann. Beide Organisationsformen haben ihre Vor- und Nachteile. Da muss jede schauen, was besser für sie passt. Und das kann sich je nach Berufs- und Lebensphase auch ändern.

Zwischenzeitlich sind Sie seit fast fünf Jahren als selbstständige Forscherin tätig. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen und wo sehen Sie Ihre Vorteile im Vergleich zum Angestelltenstatus?

Jutta Rothmund: Freiheit und Flexibilität. Ich kann mit genau den Forschungsansätzen und Methoden arbeiten, die mir für die Beantwortung einer Forschungsfrage zielführend erscheinen. Ich kann hochgradig kundenindividuell arbeiten und Unternehmen genau an der Stelle unterstützen, an der sie Unterstützung brauchen. Das kann im Rahmen eines Projekts sein oder in Form einer direkten Unterstützung der betrieblichen Marktforschung.

Ich kann selbst Themen setzen, beispielsweise im Rahmen von Eigenstudien – hier gehören Zielgruppenanalysen, Innovationsforschung und das Thema Nachhaltigkeit zu meinen Schwerpunkten, für die ich auch brenne.

Und ich habe die Freiheit fruchtbare Kooperationen einzugehen und professionelle Leistungen zuzubuchen, ohne an Vorgaben gebunden zu sein. Diese Freiheit genieße ich.

Was haben Sie für Erfahrungen als Forscherin in der Selbstständigkeit gemacht, vielleicht auch welche, die Sie als frauenspezifisch beschreiben würden?

Jutta Rothmund: Selbstständigkeit bedeutet nicht Einzelkämpfertum. Ich bin überzeugt, dass der Austausch zu einer besseren Forschungs- und Erkenntnisqualität führt. Ich brauche diesen Austausch und es kommt auch heute vor, dass ich beispielsweise zu einer konzeptionellen oder methodischen Frage quasi informelle Speed-Sparrings mache. Was dabei früher die Kolleginnen und Kollegen im Team waren, ist heute mein Netzwerk. Da braucht es vielleicht mehr Proaktivität als beim kollegialen Team. Aber es funktioniert. Und ich kann mein Netzwerk um Expertise in verschiedenen Bereichen, um Interdisziplinarität und Diversity erweitern.

Gibt es bei Ihrer Arbeit als Markt-, Kommunikations- und UX-Forschende einen typischen Arbeitsalltag und welche Schwerpunkte machen Ihre Tätigkeiten aus?

Jutta Rothmund: Mein Schwerpunkt liegt klar auf der marktforscherischen Tätigkeit, also genau bei meiner Leidenschaft. Das sind häufig Ad hoc Projekte, aber auch Eigenstudien und die kontinuierliche Unterstützung betrieblicher DIY-Forschung. Marketing, Akquise und Verwaltung laufen meist nebenbei mit phasenweise höheren Anteilen, wobei ich hier auch professionelle Unterstützung habe.

Für die Projektarbeit ist es schwer, einen typischen Arbeitsalltag zu beschreiben. Sicherlich gibt es erfahrungsbasierte Routinen, dennoch ist kein Projekt wie das andere – und das muss es auch nicht sein.

Aus Ihrer Sicht einer ehemals angestellten Marktforscherin und Selbstständige: Wie können Männer und Frauen in der Marktforschungsbranche dazu beitragen, eine positive Arbeitsumgebung zu schaffen, die gleiche Chancen und Gleichbehandlung fördert?

Jutta Rothmund: Zuallererst braucht es das Bewusstsein, dass es Gender-Equality noch nicht gibt, auch wenn sich da in den letzten Jahren viel getan hat. Aussagen wie „In unserem Unternehmen spielt das Geschlecht keine Rolle“ machen mich immer hellhörig. Das ist in Unternehmen, die reflektiert mit dem Thema umgehen, entsprechende Strukturen geschaffen haben und Werte leben sicherlich der Fall. Oft lässt das aber auch vergessen, dass weiterhin Rollensterotype bestehen, dass Frauen noch eine andere Lebenswelt und andere gesellschaftliche Anforderungen haben.

Will man zur Gender-Equality kommen, muss man sich diese Stereotype und die strukturellen Unterschiede bewusst manchen, dagegen andenken, Alternativen entwickeln.

Dabei braucht es auch die Bereitschaft, die jeweils andere Perspektive kennenzulernen und voneinander zu lernen – in jeder Beziehung und in jeder Richtung.

Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen für berufstätige Frauen noch suboptimal sind, was ja fraglos zutrifft, muss darauf eingegangen und Kompensation geschaffen werden. Und dabei können durchaus kreative Wege beschritten werden. Auch das gehört zu einer Unternehmenskultur, die sich als employee-centred versteht. „Gleichbehandlung“ ist ja das Ziel, nicht der Weg. Frauen brauchen an manchen Stellen vielleicht eine andere Förderung als Männer.

Stichwort Work-Life-Balance: Würden Sie Ihr gelebtes Verhältnis als ausgewogen bezeichnen und wodurch gewinnen Sie neue Inspirationen für Ihre Arbeit?

Jutta Rothmund: In Projektgeschäft und Selbstständigkeit ist das natürlich ein Thema. Auch wenn es immer wieder hoch arbeitsintensive Phasen gibt, sehe ich Arbeit und Leben für mich insgesamt im Einklang. Dabei arbeite und lebe ich eher nach dem Prinzip des Work-Life-Blending, das passt gut zu mir, meiner Arbeitsweise und meinem Lebensumfeld – funktioniert aber sicherlich nicht für jede. Was mir dabei außerordentlich hilft, sind Digitalisierung und „Remote-isierung“, die Arbeit im Homeoffice und der deutliche Rückgang an Reisenotwendigkeiten. Und ich bin neugierig auf den Effizienzfortschritt, den KI und Machine Learning gerade für die aufwändigere qualitative Forschung bringen kann.

Was ist der wichtigste Ratschlag, den Sie Neueinsteigerinnen in der Marktforschungsbranche geben können?

Jutta Rothmund: Spaß an der Arbeit und das Gefühl, einen guten Job zu machen, sind essentiell. Prüfe nicht nur die möglichen Benefits einer Stelle, sondern höre auch auf dein Bauchgefühl. Gib Dich nicht zu früh zufrieden (in Deinen Forschungsprojekten, Deiner beruflichen Entwicklung und Deinem Leben). Und sei im Zweifel lieber zu laut als zu leise.

Wie sehen Ihre Zukunftsvisionen für Frauen in der Marktforschungsbranche aus und welche Schritte müssen unternommen werden, um diese Visionen zu erreichen?

Jutta Rothmund: Meine Vision ist kurz gesagt Genderunabhängigkeit bei Chancen und Entlohnung. Dazu muss es aber erst einmal die Gleichheit geben.

Ziel ist, dass Frauen in sämtlichen Bereichen und auf allen Ebenen in mindestens dem Maß zu finden sind, wie es ihrem Verhältnis in der Gesellschaft entspricht.

Warum nicht mal über vorrübergehende freiwillige Geschlechterquoten in größeren Unternehmen und Verbänden nachdenken? Die Argumente gegen Geschlechterquoten basieren ja auf der Annahme, dass Positionen allein nach Kompetenz besetzt werden und es im Falle eines männlichen Übergewichts zu wenig kompetente Frauen gäbe. Dafür gibt es m.W. keine empirischen Belege.

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Über die Person

Jutta Rothmund (Diplom-Psychologin) berät seit rund 25 Jahren Unternehmen marktforscherisch, seit 2020 mit ihrem Marktforschungsinstitut rothmund insights. Zuvor war sie u.a. 14 Jahre Senior Research Consultant bei psychonomics und YouGov sowie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln im Bereich Medienpsychologie und Psycholinguistik. Kernfelder ihrer aktuellen Forschungs- und Beratungstätigkeit sind Consumer Insights und Trendstudien, Produkt- und Innovationsforschung, Marken-... mehr

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