Anne-Sophie Lenoir, Branding Science Gesundheitskompetenz: Relevanz und Tipps für die Marktforschung

Warum sollten sich Marktforscher Gedanken um die Gesundheitskompetenz von Patienten machen? Branding Science erteilt Ratschläge für inklusivere Patientenforschung.

Der Begriff „Gesundheitskompetenz“ bezieht sich auf das Ausmaß, zu dem Personen das Vermögen aufweisen, grundlegende Gesundheitsinformationen zu erhalten, zu verarbeiten, zu verstehen und danach zu handeln, um die richtigen Entscheidungen bezüglich ihrer Gesundheit zu treffen. Eine schwache Gesundheitskompetenz wird mit geringerer Adhärenz, Medikationsfehlern, Missbrauch von Geräten und schlechten Ergebnissen assoziiert. Dennoch wird sie bei Marktforschungsstudien selten berücksichtigt. Mit diesem Artikel möchte Dr. Anne-Sophie Lenoir das Bewusstsein über dieses Problem steigern und die Marktforscher im Gesundheitswesen ermutigen, das Thema Gesundheitskompetenz in den Bereichen Rekrutierung, Forschungsdesign und Analyse zu berücksichtigen. 

Warum Gesundheitskompetenz wichtig ist 

Die Gesundheitskompetenz umfasst eine breite Palette von Fertigkeiten einschließlich Lesen, Schreiben, Zuhören, Sprechen, Rechnen, kritischer Analyse und Kommunikation, um mit gesundheitsbezogenen Informationen zu arbeiten [1]. Schätzungsweise kämpfen 64,2 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland damit, gesundheits- und krankheitsbezogene Informationen zu verarbeiten [2]. Eine schwache Gesundheitskompetenz ist ein starker Prädiktor für die Gesundheit einer Person – stärker als Alter, Einkommen, Beschäftigungsstatus, Schulbildung oder ethnischer Hintergrund [3]. Im Durchschnitt tendieren Menschen mit geringerer Gesundheitskompetenz zu einem schlechteren Gesundheitszustand, treiben weniger Sport und essen ungesünder als Menschen mit hoher Gesundheitskompetenz. Auch nehmen sie das Gesundheitssystem häufiger in Anspruch. Da sie Terminologie und Risiko-Nutzen-Beurteilungen aller Wahrscheinlichkeit nach weniger verstehen, haben sie ggf. Schwierigkeiten, ihre diagnostizierte Erkrankung (z. B. Diabetes, Bluthochdruck) sowie das kurz- und langfristige Nutzen ihrer Behandlung nachzuvollziehen. Dies kann zu einer geringeren Adhärenz und langfristig zu negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit führen.  

Eine schwache Adhärenz gegenüber der Therapie stellt sowohl für Gesundheitsdienstleister als auch die Branche eine große Herausforderung dar. Aus der Literatur geht hervor, dass etwa 30 Prozent der Medikamentverschreibungen in Deutschland nicht eingelöst [4] und über 50 Prozent der Medikamente nicht eingenommen werden. Dies ist nicht nur kostenaufwendig für das Gesundheitssystem, sondern hat auch erhebliche Folgen für die Behandlungsergebnisse des Patienten. Zwar sind die Gründe, die eine geringe Adhärenz fördern, vielfältig und komplex, jedoch wird die schwache Gesundheitskompetenz als eine der Hauptbarrieren erachtet, die die Compliance verhindern.  

Gesundheitskompetenz und Rekrutierung 

Die Repräsentation bleibt in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung eine Herausforderung, und die Rekrutierung von Patienten mit schwacher Gesundheitskompetenz bildet keine Ausnahme. Diese Patienten sind ggf. nicht leicht über traditionelle Rekrutierungskanäle (z. B. Panels, Patientenvertretungen, Vermittlungen durch Ärzte) zu erreichen und werden ggf. aussortiert, da sie Schwierigkeiten haben, die bereitgestellten Informationen zu verstehen oder ihr Feedback klar mitzuteilen. Dies führt dazu, dass Patienten an Marktforschungsstudien teilnehmen, die für gewöhnlich wortgewandter und gebildeter sind als der Durchschnittspatient. Dies ist ein erhebliches Defizit, insbesondere, wenn sich die Studie auf die Kommunikation gegenüber Patienten oder die Brauchbarkeit auswirkt – wie beispielsweise, wenn das Testen von Patientenschulungsmaterialien oder Geräteprototypen betroffen ist. Dies bedeutet, dass ein großes Segment der Zielpopulation nicht repräsentiert wird und deren Bedürfnisse infolgedessen weniger wahrscheinlich erfüllt werden.  

Das Fördern innovativer Zugangsmöglichkeiten (z. B. Empfehlungen von Pflegepersonal und Sozialarbeitern) kann bei der Identifizierung von Patienten helfen. Die Vermittlungen von Ärzten können auch beeinflusst werden, indem Ärzte verstehen, dass das Ziel nicht nur darin besteht, mit ihren wortgewandten Patienten zu sprechen. Für häufigere Erkrankungen wie Diabetes können Online-Panels der Allgemeinbevölkerung eine gute Quelle für Befragte sein, die in der Regel ein niedrigeres Bildungsniveau haben. Eine gute Qualitätskontrolle ist hier wichtig, da der Schwerpunkt bei diesen Panels üblicherweise eher auf dem finanziellen Nutzen liegt. Um das Aussortieren von Personen mit schwächerer Gesundheitskompetenz zu vermeiden, sollten die Forscher die Fragen einschränken, die erfordern, dass die Befragten besonders wortgewandt oder kreativ sind. Sie sollten die Rekrutierer ebenfalls belehren, die Objektivität beim Aussortieren zu fördern und angemessene Anreize anzubieten, da Patienten mit schwacher Gesundheitskompetenz in der Regel weniger bereit sind, aus reinem persönlichem Interesse an der Forschung teilzunehmen. 

Inklusives Forschungsdesign und Analyse 

Nicht alle Methodologien werden gleich ausgelegt, wenn es darum geht, die Teilnahme von Befragten mit schwächerer Gesundheitskompetenz zu fördern. Beispielsweise könnten Teilnehmer, die weniger zuversichtlich in Bezug auf ihr Verständnis für gesundheitsbezogene Informationen und weniger mit der medizinischen Terminologie vertraut sind, der Äußerung ihrer Meinung während Gruppendiskussionen widerwillig gegenüberstehen. Sie mühen sich ggf. auch damit ab, ihre Meinung schriftlich zu äußern. 

Marktforscher, die eine inklusivere Forschung durchführen – und repräsentativere Daten erheben möchten, sollten die Forschungstätigkeit bewusst so auslegen, dass diese Hindernisse angesprochen werden. Dies könnte bedeuten, eine breitere Palette von Aktivitäten und Antwortformaten anzubieten (z. B. Video oder Collage sowie Text), um den Befragten zu ermöglichen, ihre Erfahrung mithilfe des Mediums mitzuteilen, mit dem sie sich am wohlsten fühlen, oder aber, um eine gewisse „Zeit zum Warmwerden“ zu erlauben, damit die Befragten zu Beginn der Umfrage Vertrauen aufbauen. Die Einverständniserklärungen sollten in verständlicher Sprache verfasst sein, um sicherzustellen, dass die Personen voll und ganz verstehen, wofür sie sich anmelden. Hierzu gehören auch der Zweck der Forschung und der Wert ihres Beitrags.   

Sämtliche gezeigten Stimuli sollten den festgelegten bewährten Praktiken entsprechen, wenn es um Gesundheitskompetenz und klare Kommunikation geht: Diese umfassen z. B. die Verwendung von einfacher Sprache, das Vermeiden von Jargon, das Setzen des Schwerpunkts auf handlungsorientierten Inhalt einschließlich relevanter Grafiken und Bildmaterial sowie das Vermeiden großer Textblöcke, indem Informationen in kleinere, logische Teile gruppiert werden [6]. Auch kleine Änderungen zur Optimierung der Gesundheitskompetenz können sich positiv auf das Verständnisniveau auswirken [5]. 

Zuletzt sollten die Forscher Gesundheitskompetenz-Skalen integrieren, die für jede Art von Forschung sowie für alle einbezogenen geografischen Gebiete und Sprachen geeignet sind. Die Analyse sollte die Antworten von Teilnehmern mit schwacher Gesundheitskompetenz separat von denen der Personen betrachten, die über eine angemessene Kompetenz verfügen, damit beurteilt werden kann, ob sich die Aussagen erheblich voneinander unterscheiden.  

Folgen für Gesundheitsunternehmen 

Zusätzlich dazu, dass wir sicherstellen, die bewährten Verfahren im Rahmen unserer eigenen Arbeit zu befolgen, sind wir als Marktforscher ebenfalls dafür verantwortlich, das Bewusstsein unserer Kunden zu stärken und ihnen Lösungen zu präsentieren. Das Ausschließen von Patienten mit eingeschränkter Gesundheitskompetenz führt zu unvollständigen Patienteneinsichten, was wiederum eine unangemessene Kommunikation bewirkt. Hieraus ergeben sich eine uninformierte Entscheidungsfindung, eine geringe Adhärenz und schlechte Ergebnisse. Das Rekrutieren aus einem größeren Patienten-Pool als demjenigen, der über Standardkanäle erreichbar ist, kann finanzielle Folgen nach sich ziehen. Wenn wir die Bedeutung der inklusiven Forschung gegenüber Kunden betonen, sollten wir nachweisen, wie sie trotz der Kosten einen Wert schafft – und dass das Streben nach mehr inklusiven Proben nicht nur der richtige Schritt ist, sondern auch dem Kunden zugutekommt. Das wachsende Interesse an der Gesundheitskompetenz ist Teil einer größeren Bewegung in Richtung mehr Vielfalt in den Marktforschungsproben, und da sich die Repräsentation zu einem zunehmend dringlicheren Problem im Gesundheitswesen entwickelt, wird sie zunehmend zu etwas, das Kunden nicht einfach außer Acht lassen können. 

Den betrieblichen Marktforschern stehen ebenfalls Instrumente zur Verfügung. Beispielsweise können sie fordern, dass Marktforschungsanbieter Informationen über ihre Bemühungen bereitstellen, Patientenforschung zu betreiben, die so inklusiv wie möglich ist. Sie sollten ebenfalls darauf hinarbeiten, Stimuli zu entwickeln, die den bewährten Verfahren für verständliche Sprache und klare Kommunikation folgen – und in Erwägung ziehen, bei Bedarf Experten hinzuzuziehen. Abschließend können sie die Kommunikation mit Kunden über Gesundheitskompetenz und Adhärenz fördern, indem sie Material bereitstellen, um ihre Gespräche mit Patienten jeglichen Hintergrunds zu untermauern. 

Schlussfolgerung 

Ein gesteigertes Bewusstsein für die Gesundheitskompetenz in der Marktforschung kann ein Weg sein, die Patientenergebnisse zu verbessern. Wenn die Kommunikation oder das Produktdesign nicht für die Gesundheitskompetenz optimiert wird, werden Ärzte wahrscheinlich weniger verstanden und Behandlungspläne wahrscheinlich weniger befolgt – was zu schlechteren Ergebnissen für die Patienten führt. Um diese Fallstricke zu vermeiden, sollten Marktforscher das Ziel verfolgen, aus einem vielfältigeren Patienten-Pool zu rekrutieren, und dazu streben, inklusivere Studien zu designen. Während bestimmte Populationen einem höheren Risiko für eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz ausgesetzt sind, kann jeder in neuen, stressigen Kontexten wie beispielsweise in medizinischen Notfällen oder einer Fremdsprache Schwierigkeiten haben, Gesundheitsinformationen zu verarbeiten. Inklusive Forschung und einfachere, verständliche Informationen kommen wirklich jedem zugute. 

Referenzen 

[1] Coleman, C, Kurtz-Rossi, S, McKinney, J. (2009) Calgary Charter on Health Literacy. Abrufbar unter: http://www.centreforliteracy.qc.ca/sites/default/files/CFL_Calgary_Charter_2011.pdf 

[2] Hurrelmann, K., Klinger, J., & Schaeffer, D. (2020). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland: Vergleich der Erhebungen 2014 und 2020.  

[3] Parker, R., & Kreps, G. L. (2005). Library outreach: overcoming health literacy challenges. Journal of the Medical Library Association, 93(4 Suppl), S81. 

[4] Laven, A. (2019). Adhärenz - Verstehen, messen, verbessern. Pharmazeutische Zeitung. Abrufbar unter: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/verstehen-messen-verbessern 

[5] PMRG Health Literacy Initiative Committee (2017). Health literacy initiative: A key lever in improving health. Quirk’s Marketing Research Review, 11 (10): 28-33. 

[6] Center for Disease Control and prevention. Health Literacy Guidance & Tools. Zugriff am 25. Mai 2021. Abrufbar unter: https://www.cdc.gov/healthliteracy/developmaterials/guidancestandards.html 

Über die Autorin 

Anne Sophie Lenior (Bild:Lenior)
Dr. Anne-Sophie Lenoir leitet als Director DACH das Berliner Büro von Branding Science. Seit mehreren Jahren unterstützt Sie durch marktforschungsbasierte Beratung führende Pharma- und Medizintechnik-Unternehmen. Davor war Sie bei Exevia und ZS Associates tätig. Die belgische Wirtschaftsingenieurin hat im Bereich Marketing promoviert. 

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