Wiedervorlage der Akte Marktforschung Ganze Branchen in Geiselhaft zu nehmen, wäre auch gegenüber dem Spiegel unfair

Christian Thunig (Bild: Innofact AG)
Vor rund einem Jahr legte der Spiegel seine große Geschichte vor und nannte sie die "Die Akte Marktforschung". Aufhänger war ein ehemaliger Marktforscher, der sich selbst anzeigte und zu Protokoll gab, dass er mit den Betrügereien nicht mehr leben könne. Es ging um gefakte Interviews mit Probanden. Insbesondere das Telefon, also die gute alte CATI-Umfrage, stand wieder unter Beschuss. Dass es übrigens mit computergestützten Telefoninterviews, bei der eine Software protokolliert, sehr schwer ist zu täuschen, wurde leider schon damals nicht erwähnt.
Man merkte aber schon im ersten Lauf des Spiegels, dass die Aufregung nicht den Pegel erreichte, den sich das Nachrichtenmagazin davon versprach. Dafür gibt es zwei Interpretationsmöglichkeiten: die Branche hat gemauert oder es entspricht einfach in der Breite nicht den Tatsachen. Vielleicht unbefriedigt vom Ausmaß des Aufschreis hat der Spiegel jetzt noch einmal nachgelegt. Botschaft ist: wir bleiben dran. Das ist absolut richtig und legitim. Aber man könnte in dem neuen Aufguss, den der Spiegel angerührt hat, dennoch anerkennen, dass sich die Branchenverbände namentlich ADM und BVM bewegt haben - in ihrer typischen sachlichen und ruhigen Attitüde (Marktforscher sind ruhige Vertreter!).
Aber diese Bemühungen werden im aktuellen Spiegel-Stück ironisch untergepflügt und abgetan ("gleichzeitig erwecken die Verbände wenigstens den Anschein, etwas zu tun"). Das ist nicht fair. Zumal man konstatieren muss, dass hinter dem Vorgehen einzelner Akteure, die im Namen der Marktforschung geschummelt haben, am Ende kriminelle Energie steckt, die zunächst nichts mit dieser Branche zu tun hat - aber natürlich die Disziplin trifft. Ganz im Gegenteil: Diese Herausforderungen hat jede Branche: von A wie Arbeitnehmerüberlassung bis Z wie Zeitungsverlage. Das heißt nicht, dass man es hinnehmen sollte. Jede Branche muss sich immer neu der eigenen Qualität versichern. Aber Betrüger gibt es tatsächlich überall.
Zum Beispiel auch bei M wie Medien und Magazine. Und wer wüsste das nicht besser, als der Spiegel. Offensichtlich kommen jetzt einige Autoren zum Vorschein, die sogar mit Journalistenpreisen wie dem renommierten Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet wurden, aber Fakten oder Akteure frei erfunden haben - zuerst ausgerechnet beim Spiegel und jetzt später auch beim SZ Magazin oder der ZEIT. Dieses erstgenannte Medium steht geradezu mit seinem Fall des eigenen Redakteurs Claas Relotius für eine entsetzliche Entdeckung: Er erfand munter Fakten, wenn er in der Recherche nicht weiterkam. Der Spiegel selber musste eingestehen, dass bewusste Fälschungen, Übertreibungen oder willkürliche Ergänzungen der eigenen Qualitätskontrolle nicht auffielen. Dabei war es möglich, selbst einfachste Fakten zu vertauschen. Die Dokumentation des Spiegels hätte das im Vorfeld entdecken können, wie das Medienhaus selber zugibt.
Sind Journalisten alle Betrüger oder weite Teile der Branche infiziert? Nein. Aber es gibt einige im System, die sich haben hinreißen lassen, vor lauter elaborierter Schreiberei die Schönheit einer Story vor die Wahrheit zu stellen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir guten Journalismus in Deutschland nach wie vor haben (und mehr denn je brauchen), und dass es Redakteure gibt, die sich jeden Tag quälen, um zu berichten was ist und zu reflektieren, damit sich Demokratie und Wirtschaften national und international weiterentwickeln.
Dasselbe gilt für die Marktforschung auch. Sie hat zugegebenermaßen eine große Verantwortung, denn die Menschen sind zahlen- und faktengläubig. Deshalb sind jeden Tag viele Marktforschungs-Institute bemüht, mit guter und natürlich fälschungsfreier Arbeit der Realität im Leben der Menschen ein Stück näher zu kommen, damit Wirtschaft und Politik bestmögliche Entscheidungen treffen können.
Liebe Spiegel-Redakteure: bemüht Euch bitte zu sehen, was wirklich ist. Egal in welcher Branche. Es ist wichtig.
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