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- Game Change, Evolution oder Diversifizierung? Nachhaltigkeitsstrategien für Marken-Klassiker
Ralf Weinen, A&B One Kommunikationsagentur GmbH Game Change, Evolution oder Diversifizierung? Nachhaltigkeitsstrategien für Marken-Klassiker

Wie steht es um die Moral am Regal? Nachhaltigkeit ist offensichtlich im Trend, die Konsumenten verhalten sich aber widersprüchlich und selektiv. In 20 Tiefeninterviews haben wir genauer hingeschaut, wie sich das alltägliche Einkaufsverhalten bei jungen Erwachsenen (bis 35 Jahre) entwickelt, und wie nachhaltigere Produkte von etablierten Food-Marken ankommen.
Neue Standards und ein "neues OK" im Konsum
Im Gespräch mit (jungen) Verbrauchern merkt man schnell: Der Konsum hat seine Unschuld verloren, und die quälenden Bilder von Klimawandel, Plastikmüll oder Massentierhaltung lassen sich auch im LEH nicht mehr ausblenden. Ihr Alltagsverhalten ändern sie durch gute Vorsätze: mehr Bio, lieber plastikfrei, weniger Fleisch. Allerdings gibt es endlos viele Ansatzpunkte dafür, letztlich alle umstritten: "Wenn ich Bio, regional, saisonal und plastikfrei einkaufen will, hab' ich am Ende nur einen Beutel Zwiebeln im Wagen" (Studentin, 26). Die Menschen nehmen deshalb individuelle Setzungen vor und folgen pragmatischen Prioritäten. Mit den Widersprüchen in ihrem Verhalten können sie ganz gut leben. Es etabliert sich ein "neues OK" im Konsum, und Toleranz für die Unzulänglichkeit aller Bemühungen. "Schlussendlich fängt jeder da an, wo er kann" (Ingenieur, 29).
Innovationen im Handel - und viel Stagnation bei den Marken?
Der Markt ist in Bewegung, und aus Sicht der Verbraucher ist vor allem der Handel aktiv. Bezahlbare Bioprodukte, nachhaltige Eigenmarken oder Unverpackt-Initiativen unter-stützen die neuen Konsumstandards. Das wirkt agiler als viele Marken, pragmatisch und undogmatisch. Auf Markenebene beeindrucken Food Start-ups, nicht nur durch neue moralische Ansprüche, sondern oft auch durch neuen Look.
Bei den etablierten Marken im LEH haben junge Erwachsene oft einen klischeehaften Eindruck: Die Klassiker bleiben sich treu - und damit auch Teil der alten Konsumwelt. Die Markenentwicklung beschränkt sich auf neue Sorten, Packungsgrößen oder Gebinde. Im Alltag werden die "alten" Marken weiter begehrt und verzehrt: mit Genuss, aber stärker als früher mit schlechtem Gewissen und dem Gefühl eines Rückfalls in alte Zeiten. Den Aufbruch in eine neue Nachhaltigkeit gestaltet man lieber mit neuen Produkten und Marken. Shifting Baselines verändern die Positionierungen: Was früher Mitte/normal war, wirkt nun regressiv/sündig.
Nachhaltige Potenziale: Disruption, Evolution, Diversifizierung
Start-ups und Handel haben also einen (Image-)Vorsprung beim Thema Nachhaltigkeit, etablierte Marken ein Glaubwürdigkeitsproblem. Viele treiben ihre Nachhaltigkeitsstrategien nur "undercover" voran. Wie also können Marken glaubhaft nachhaltiger werden und ihre Kundschaft mitnehmen? Gute (und schlechte) Markenbeispiele aus unseren Interviews zeigen verschiedene Strategien - und ein durchgehendes Prinzip: Die guten Taten wirken oft erst dann, wenn sich Marken auch sonst weiterentwickeln und Anschluss finden an die neuen, modernen Lebenswelten.
Einigen Marken gelingt der große Coup: Sie haben sich und den Markt nachhaltig neu erfunden. Beim Fleischersatz hat Rügenwalder den Game Change geschafft, und dazu auch die Markenwelt aktualisiert. Die Marke zeigt, dass am großen Tisch unter der Mühle alle ihren Platz finden und in modernen Patchwork-Familien "jedes Tierchen sein Pläsierchen" haben kann. Auch Katjes hat sich im Produkt ("Alles Veggie") und als Marke neu positioniert: mit einer "girl power", die den entschiedenen vegetarischen Anspruch junger Mädchen und Frauen aufgreift. Das erzeugt viel Aufmerksamkeit, verjüngt das Fruchtgummi und erschließt neue Verwender(innen).

Andere Marken setzen eher auf Evolution. Ritter Sport ist im Schokoladenmarkt eine ohnehin aktivierende Marke: immer aktiv, mit frischen Farben und vielen neuen, auch hochwertigen Sorten. Der progressive Charakter bereitet den Boden auch für nachhaltige Entwicklungen: vegane Sorten, neue Verpackungen (im Test aus Papier) bis hin zu Corporate-Themen (Lieferkette). Frosta hat sich mit dem Reinheitsgebot früh neuen Produktionsstandards verpflichtet, dabei auch das Design weiterentwickelt: weg von der Kochschule, hin zu einer modernen Reduktion, die eine bunte und selbstbestimmte Convenience-Küche verspricht.
Das Gros der Marken versucht es beim Thema Nachhaltigkeit mit Diversifizierung. Dann kommt es allerdings darauf an, wie die nachhaltigen Line Extender ins bisherige Portfolio passen. Corny entwickelt viele neue, auch nachhaltige Sorten. Wenn in der Wahrnehmung weiterhin die süßen Klassiker dominieren (Schoko-Banane), entwickeln die neuen Haferlinge und Haferkraft-Riegel aber kein eigenes Profil, und das Sortiment wirkt beliebig. Im Kaffeemarkt führt Tchibo Bio-Qualität (nur) als Line Extender ein. Das Produkt wirkt nicht nur nachhaltig, sondern auch stylisch und edel. Es kann Bio-affine Nicht-Kundschaft aber schlecht überzeugen, wenn das Sortiment am POS unaufgeräumt und (mit Gala) etwas altbacken rüberkommt. Vielleicht geht Nestlé mit Garden Gourmet auch deshalb einen anderen Weg. Die Neueinführung wirkt jung, innovativ, fast wie ein Start-up, und pflanzlicher als Rügenwalder. Die Frage des Markenfits stellt sich nicht, weil Nestlé als Absender meist unerkannt bleibt. Der Einsatz für eine nachhaltige vegetarische Vielfalt zahlt damit aber nicht auf die Dachmarke ein.

Eine besondere Herausforderung besteht darin, bestehende Produkte einfach in Teilen nachhaltiger zu gestalten (Nudging): Das arbeitet nur, wenn es ohnehin ins Markenbild passt. Arla kann Bio-Milch gut auf 100 % ungebleichten Karton umstellen, der Karton muss das Versprechen allerdings einlösen. Der Klassiker Kitkat hat es hingegen schwerer mit nachhaltigem Kakao. Der Störer ("100 % sustainably sourced cocao") kann zum Störfaktor werden, weil der neue moralische Anspruch wenig zum Markenversprechen passt: "Have a Break" und mach mal Pause von den vielen erwachsenen Alltagsanforderungen! Für Hohes C Bio wird der umgekehrte Fall zum Problem: Das höchste Gut (Gesundheit) wird ohnehin vorausgesetzt, und am Regal fragt man sich, ob man das wirklich "noch höher hängen" muss.
Mehr Nachhaltigkeit braucht oft einen "sustainable relaunch"
Nachhaltigkeit wird zur Notwendigkeit, ist aber selbst kein Markenversprechen, eher ein Qualitätsstandard. Die Marke verspricht mehr, und etwas Anderes: Sie steht für die Profilierung von Lifestyles und Stimmungen. Marken sind nie nur moralisch, sondern vermitteln Konflikte des Alltags: zwischen kindlicher Gier und Gesundheitsidealen, zwischen Kochkunst und Convenience, zwischen alter Konsumlust und neuer Moral.
Daher kann Nachhaltigkeit auch in Konkurrenz zu den bestehenden Markenversprechen treten - und zur "Konsumstörung" werden. Dann muss sich mit Inhalts- oder Verpackungsstoffen auch das Markenbild ändern. Klassiker werden so auch den neuen Design-Codes gerecht, die Start-ups und Handel derzeit setzen.
Zur Studie
Es wurden 20 Tiefeninterviews mit jungen Erwachsenen zwischen 20 und 35 Jahren geführt: Singles, Paare und junge Familien. Als Thema wurde der alltägliche Einkauf gesetzt. Der offene Zugang zeigt jenseits sozialer Erwünschtheit, welche Bedeutung Nachhaltigkeit hat, und was aus Verbrauchersicht gute Markenbeispiele sind.
Key Results der Studie erhalten Sie hier zum Download.
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