Interview mit Zukunftswissenschaftler Prof. Horst Opaschowski "Für die Deutschen ist Sicherheit wichtiger als Freiheit geworden."

marktforschung.dossier: Herr Prof. Opaschowski, das Thema unseres aktuellen marktforschung.dossiers ist "Sozialforschung: Die Gesellschaft im Fokus". Sie gelten wie wohl kaum ein anderer als Kenner der deutschen Gesellschaft. Wie wird man eigentlich zum Gesellschaftsforscher?
Horst Opaschowski: Seit über dreißig Jahren stehen "Die Welt im Wandel" und "Der Mensch im Mittelpunkt" im Zentrum meiner Forschungsarbeit auf empirischer Basis. Mal bin ich Verhaltens- und mal Gesellschaftsforscher, in der Regel beides. Auch meine universitäre Tätigkeit bewegte sich zwischen Erziehungs- und Sozialwissenschaft. Das habe ich nicht systematisch geplant, das bin ich im Laufe der Zeit geworden. Ich verfüge über jahrzehntelange Zeitreihen, also über Ergebnisse von Repräsentativerhebungen im Zeitvergleich der achtziger und neunziger Jahre bis zur Jetztzeit. Das erlaubt mir überprüfbare Aussagen zum Wertewandel genauso wie zum sozialen und demografischen Wandel.
marktforschung.dossier: In Ihrem gerade erschienenen Buch „So wollen wir leben! Die 10 Zukunftshoffnungen der Deutschen“ schreiben Sie, dass eine Ära der Unsicherheit begonnen habe. Woran machen Sie dies fest?
Horst Opaschowski: Eigentlich müsste man die Nationalhymne derzeit umdichten: "Einigkeit und Recht und Sicherheit..." Für die Deutschen ist Sicherheit wichtiger als Freiheit geworden. Die Angst vor unsicheren Zeiten bestimmt das Leben der Bevölkerung. Um die "3G" machen sich die Bundesbürger am meisten Sorgen: Geld, Gesundheit und Geborgenheit. Nichts ist mehr sicher, das Einkommen nicht, die Gesundheitsvorsorge nicht und die soziale Absicherung bis ins hohe Alter auch nicht. Zusätzlich ängstigt die Menschen die Gleichzeitigkeit globaler Krisen - vom IS-Terrorismus über Finanzkrisen bis zur Ebola-Epidemie. Kurz: Ein Gefühl globaler Instabilität lässt die Menschen glauben, in einer Ära der Unsicherheit zu leben.
marktforschung.dossier: Und welches sind die wichtigsten Hoffnungen der Deutschen für die Zukunft?
Horst Opaschowski: In diesen unsicheren Zeiten konzentrieren sich die Zukunftshoffnungen der Deutschen einerseits auf Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität sowie auf Arbeit, Technik und Fortschritt, aber auch auf mitmenschliche Tugenden des Vertrauens und der Verlässlichkeit, weshalb Familie und Freundeskreis immer bedeutsamer werden. Die Gesellschaft wandelt sich zu einer Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit nach dem Prinzip: Ich helfe dir, damit auch du mir hilfst. In den Wohlstandszeiten der siebziger bis neunziger Jahre schoben viele ihre Kugel allein. Jetzt wird aus dem Bowling alone immer öfter ein Bowling together.
marktforschung.dossier: Gemeinsam mit Ihrer Tochter Irina Pilawa-Opaschowski, die auch an dem aktuellen Buch mitgearbeitet hat, haben Sie in diesem Jahr das OIZ, das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung, gegründet. Was sind Ihre Ziele?
Horst Opaschowski: Meine Tochter Irina Pilawa hatte vor Jahren die erste private Montessori-Schule in Hamburg gegründet. Jetzt will sie den Bogen im Rahmen der Mitarbeit am neugegründeten Institut weiter spannen und den Gedanken der Bildungspolitik und des Generationendialogs und der Generationengerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen. Zukunftsforschung heißt für sie vor allem, an die nächsten Generationen denken. Das wird auch die zukunftspolitische Leitlinie unserer gemeinsamen Forschungsarbeit sein.
marktforschung.dossier: Mit Ipsos führen Sie seit 2013 den Nationalen WohlstandsIndex für Deutschland durch. Dabei konstatieren Sie eine neue Sichtweise von Wohlstand. Was ist darunter zu verstehen?
Horst Opaschowski: Kreativ im Kollektiv: So arbeite ich seit Jahren erfolgreich mit den Experten Hans-Peter Drews und Sigrid Möller vom Ipsos-Institut zusammen. Gemeinsam haben wir den ersten Nationalen WohlstandsIndex für Deutschland (NAWI-D) entwickelt, der mittlerweile weltweit auf Interesse stößt - von der Schweiz bis nach China. Über 16.000 Personen wurden nach ihrem ökonomischen und ökologischen, gesellschaftlichen und individuellen Wohlstandsverständnis gefragt. Kurz: "Wohlstand" ist zu einer Frage des persönlichen und sozialen Wohlergehens geworden. Ludwig Erhards Bestseller "Wohlstand für alle" müsste heute neu geschrieben werden unter dem Titel: "Wohlergehen für alle".
marktforschung.dossier: Bereits 1973 haben Sie eine „freizeitpolitische Konzeption für die Bundesregierung“ erarbeitet. Was waren damals die wichtigsten Themen? Und welche Themen würden Sie der heutigen Politikergeneration besonders ans Herz legen?
Horst Opaschowski: Es ging seinerzeit in erster Linie um die sozialen Folgen von Arbeitszeitverkürzungen unter besonderer Berücksichtigung freizeitbenachteiligter Bevölkerungsgruppen wie z.B. von Alleinerziehenden und berufstätigen Müttern mit Kindern. Die Probleme dieser beiden Gruppen sind bis heute noch nicht zufriedenstellend gelöst. Denken Sie nur an die aktuelle Diskussion um den "Feierabend-Stress" der Beschäftigten, für die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nur ein Wunschtraum geblieben ist.
marktforschung.dossier: Als Gründer und langjähriger wissenschaftlicher Leiter des BAT Freizeit- Forschungsinstituts galten Sie lange als „Freizeitforscher“, heute bezeichnen Sie sich als Zukunftswissenschaftler. Wie kam es zu diesem Wandel und was ist heute Ihr größtes persönliches Interesse?
Horst Opaschowski: Sie haben Recht. Ich war lange Zeit Freizeit- und Tourismusforscher, bis es mir langweilig wurde. Jedes Jahr die gleiche Meldung: "Die Reiselust der Deutschen ist ungebrochen" - trotz Golfkrieg, Robbensterben, Algenblühen oder Wirtschafts- und Umweltkrisen. Ich konnte daher das Unternehmen BAT 2007 davon überzeugen, das Institut in die "Stiftung für Zukunftsfragen" umzuwandeln. Das Forschungsfeld wurde breiter, globaler und politischer. Dies fasziniert mich noch heute. Der Themenbereich Zukunft ist grenzenlos. Salopp formuliert: Wer nicht an die Zukunft denkt, wird bald keine mehr haben. Es ist daher kein Zufall, dass derzeit meine zentralen Forschungsinteressen auf Wohlstand und Lebensqualität gerichtet sind - ganz im biblischen Sinne: "Auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden..."
marktforschung.dossier: Nachdem wir uns bisher mit den Ergebnissen der Forschung beschäftigt haben, nun noch eine Frage zu Ihren methodischen Erfahrungen: Welche Erhebungsmethode sehen Sie derzeit als Königsweg repräsentativer empirischer Sozialforschung? Und werden die Daten für Studien wie der Nationale WohlstandsIndex in Zukunft eher online oder mobil erhoben?
Horst Opaschowski: Für mich gibt es keinen Königsweg in der Sozialforschung: Qualitativ und quantitativ, online und mobil, telefonisch und face-to-face - alles muss möglich sein. Zu viel ist medial und methodisch in Bewegung. Forschung ist für mich Kommunikation, die ankommt und verstanden wird - auf welchem Weg auch immer. Schon als Student bin ich in ersten Forschungsprojekten ungewöhnliche Wege gegangen und war als "teilnehmender Beobachter" unterwegs. Das bin ich bis heute geblieben: Ich beobachte, was war und was geschieht, und wäge mögliche Folgen für die Zukunft ab. Ich bin Beobachter, Analyst und Weichensteller - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
marktforschung.dossier: Herr Prof. Opaschowski, herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch!
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