Applied Science F***ing Awesome: Wie vulgäres Word-of-Mouth Konsumentscheidungen beeinflusst

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, welche Effekte vulgäre Sprache auf Wahrnehmung und Wirkung von Lob oder Kritik an Produkten hat? Flüche und Schimpfwörter sind bei Konsumentscheidungen allgegenwärtig, und doch war die Erkenntnis zu ihrer Wirkung bisher rar. Das hat sich nun geändert und ist daher Thema der aktuellen Ausgabe von Applied Science der Marketing-Professoren Fretschner und Lüdtke.

Sprache hat einen großen Einfluss auf Konsumentscheidungen. Vulgäre Ausdrücke wirken dabei nicht notwendigerweise abschreckend, sondern haben unter bestimmten Umständen sogar positive Effekte, wie eine Untersuchung zeigt. (Bild: picture alliance / ZB | Matthias Tödt)

“Diggi, kennst Du diese bodenlose Applied-Kolumne? Scheiße, ist die geil!” So oder so ähnlich könnte ein vulgäres Word-of-Mouth aussehen. Wie wirkt das auf Sie? Wahrscheinlich im ersten Moment verstörend, da Ihnen eine derartige Sprache auf Deutschlands führendem und angesehensten Portal für Marktforschung seltener über den Weg läuft.  

Doch die Marketingforschung ist uneins, ob schimpfen und vulgäre Sprache positive oder negative Wirkung entfaltet, wenn sie von Kunden im Rahmen von Empfehlungen und Rezensionen verwendet wird.  

Auf der einen Seite bedeuten sie Tabubrüche und Verstöße gegen gesellschaftliche Normen und werden aus diesen Gründen auch oft in den AGBs von Portalen und Plattformen untersagt, die entsprechende Kundenmeinungen nutzen und publizieren. Auf der anderen Seite beobachten Kommunikationswissenschaftler, dass Schimpfwörter eine Delexikalisierung durchlaufen, sie also ihre ursprüngliche, tabuisierte Bedeutung verlieren. Schließlich ist im Marketingkontext unbeantwortet, welche Meinungen und Bedeutung Schimpfwörter denn folglich tatsächlich vermitteln.  

Genau dieser Frage geht die Gruppe um Katherine C. Lafreniere in einer aktuellen Forschungsarbeit nach. Die Untersuchung ist Grundlage dieser Kolumne und im vergangenen Jahr im renommierten Journal of Marketing Research erschienen.  

Das konzeptionelle Setting der Studie 

Die Studie nutzt einen sogenannten Mixed-Method Ansatz, kombiniert also unterschiedliche wissenschaftliche Methoden, um der Forschungsfrage nachzugehen. Zunächst nutzt das Team Felddaten der großen Plattformen Amazon und Yelp und untersucht, ob es anhand echter Kundeninteraktionen tatsächlich Anzeichen dafür gibt, dass Schimpfwörter die Wirkung von Word-of-Mouth beeinflussen und wie sie dies tun. Anschließend entwickeln sie auf Basis der Ergebnisse aus dem Feld geeignete Laborexperimente, um kausale Zusammenhänge zwischen vulgärer Sprache und Word-of-Mouth zu prüfen.  

Die Forschungsgruppe stellt dabei vier grundlegende Annahmen auf: 

  1. In Kundenrezensionen vorhandene Schimpfwörter beeinflussen, wie das bewertete Produkt und wie der emotionale Zustand des Reviewers von Lesern wahrgenommen wird. Beides wirkt sich auf die Produkteinstellung aus.  

  2. Adverbiale Schimpfwörter (“die verdammt leise Waschmaschine”) beeinflussen die Wahrnehmung stärker als Nicht-Schimpfwörter (“die extrem leise Waschmaschine”) oder negative Adverbien (“die irre leise Waschmaschine”). 

  3. Die Wirkung von Schimpfwörtern folgt einer invertierten U-Verteilung. Es gibt also sowohl ein "zu wenig" als auch ein "zu viel" an Schimpfwörtern.  

  4. Unzensierte Schimpfwörter (“fucking”) wirken stärker als zensierte oder euphemistische Schimpfwörter (“f***ing”, “fricking”) 

Feldstudie mit Review-Daten von Yelp und Amazon 

Die Felddaten stammen aus öffentlichen Datensätzen der beiden Unternehmen und beinhalten Kundenbewertungen. Zu den Kundenbewertungen liegen neben Variablen wie Bewertungspunkte, Bewertungstext, Datum der Veröffentlichung auch eine Angabe vor, wie viele Personen die Bewertung hilfreich (Yelp, Amazon) oder nicht hilfreich fanden (Amazon). Letztere Variablen dienten auch zur Operationalisierung der abhängigen Variable, entweder als Anzahl hilfreicher Bewertungen (Yelp) oder als Anteil der “Hilfreich”-Stimmen an allen Stimmen, die eine Bewertung erhielt (Amazon).  

Die beiden Datensätze ergänzen sich insofern zusätzlich, als dass bei Yelp Schimpfwörter in den Rezensionen erlaubt waren, bei Amazon sie jedoch zu einer Löschung führen konnten und dass bei Yelp eher Services bewertet werden (Restaurants, Friseure, et cetera) und bei Amazon Produkte. Die Ausprägungen der Schimpfwörter-Variablen (Anzahl, Art) wurden für die etwa 300.000 Rezensionen mit Hilfe der linguistischen Spezialsoftware LIWC ermittelt. Die Ergebnisse finden Sie in der folgenden Tabelle 1. 

Tabelle 1) Wirkung von Schimpfwörtern auf die Wahrnehmung einer Rezension als “hilfreich” bei Amazon und Yelp (in Anlehnung an Lafreniere et. al. 2022) 

In der Tabelle werden die Ergebnisse von zwei Regressionsrechnungen visualisiert. Wir erkennen zunächst, dass grundsätzlich Schimpfwörter positiv beeinflussen, ob eine Bewertung als hilfreich wahrgenommen wird.  

Gleichzeitig macht die erste Felduntersuchung deutlich, dass die Konsequenz auch nicht ist, möglichst viele Schimpfwörter in Rezensionen unterzubringen.  

Um genauer zu verstehen, wie Schimpfwörter auf die Wahrnehmung von Rezensionen wirken, schließt das Forschungsteam nun drei Experimente an.  

Laborexperimente: Anzahl, Gestaltung und Art der Schimpfwörter 

Die drei Experimente wurden alle mit Hilfe des Amazon Mechanical Turk durchgeführt, über das Subjekte für Experimente kostengünstig und verlässlich rekrutiert werden können. Den Probanden wurde gesagt, dass sie je nach Experiment auf der Suche nach einer Geschirrspülmaschine (1) oder nach einer Powerbank zum Laden ihres Smartphones (2 & 3) sind. Dann wurde ihnen eine Produktdetailseite inklusive einer Kundenrezension mit vier Sternen gezeigt. Je nach experimentellem Setting wurde dann der Rezensionstext manipuliert.  

Abschließend wurde von den Subjekten anhand eines semantischen Differentials mit sechs Items die Produkteinstellung erfasst (zum Beispiel negativ [1] - positiv [7]), anhand von sechs Items von “not at all” bis “very much” die wahrgenommene Attributstärke zur Lautstärke des Geschirrspülers oder der Ladegeschwindigkeit der Powerbank ermittelt (zum Beispiel quiet, silent oder rapid, turbo) und anhand von drei Items die wahrgenommene Gefühlslage des Reviewers hinsichtlich des Produkts gemessen (stark, intensiv, selbstsicher).  

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Experiment 1: Art der Schimpfwörter 

Im ersten Experiment manipulierte das Team das Adverb, um die Ruhe des Geräts zu beschreiben (“The dishwasher is [damn/super/insanely] quiet!”). Der Rest des Rezensionstextes wurde nicht verändert. In Tabelle 2 sind die deskriptiven Ergebnisse dargestellt.  

Tabelle 2) Die Wirkung von unterschiedlichen adverbialen Schimpfwörtern auf die Wahrnehmung von Rezensionen (in Anlehnung an Lafreniere et. al. 2022) 

Varianzanalysen bestätigen die dargestellten Befunde. Schimpfwörter sorgen bei den Lesenden für die positivste Einstellung zum Produkt und diese Einstellung wird durch eine verstärkt wahrgenommene Attributstärke des Produkts und Gefühlsstärke des Rezensenten getrieben. 

Experiment 2: Anzahl der Schimpfwörter 

Im zweiten Experiment wurde nun die Powerbank als Produkt gewählt und die Anzahl der Schimpfwörter manipuliert. Die drei Varianten der Produktrezensionen keinem, zwei oder fünf Schimpfwörtern haben wir folglich aufgeführt: 

Kein Schimpfwort: “It charged my phone fast. But, it feels heavy. Still, it’s handy and portable. It holds a charge fine and its size is okay.”  

Zwei Schimpfwörter: “Holy shit, it charged my phone fucking fast. But, it feels heavy. Still, it’s handy and portable. It holds a charge fine and its size is okay.” 

Fünf Schimpfwörter: “Holy shit, it charged my phone fucking fast. But, it feels heavy. Still, the fucker is fucking handy and portable. It holds a charge damn fine and its size is okay.” 

In der folgenden Tabelle drei sind die Ergebnisse zur Anzahl der Schimpfwörter dargestellt. Es bestätigt sich, was die Forschungsgruppe angenommen hatte:  

Bei der Produkteinstellung und der Attributstärke geben die Subjekte bei zwei Schimpfwörtern die höchsten Scores an.  

Lediglich die Gefühlsstärke der Rezensenten wird bei fünf Schimpfwörtern nachvollziehbar höher eingeschätzt. Zudem zeigt eine Varianzanalyse wieder, dass die Produkteinstellung deutlich von der wahrgenommenen Attributstärke getrieben wird, also wieder ein sogenannter Mediationseffekt vorliegt.  

Tabelle 3) Die Abhängigkeit der Wahrnehmung von Rezension von der Anzahl verwendeter Schimpfwörter (in Anlehnung an Lafreniere et. al. 2022) 

Experiment 3: Zensierung der Schimpfwörter 

Im letzten Experiment wurde die Art der Moderation oder Modulation des Schimpfworts manipuliert, also ob es direkt und unmittelbar, zensiert oder euphemistisch dargestellt wird. Hierfür wurde wieder die Powerbank als fokales Produkt gewählt (“It charged my phone damn/d@mn/darn fast”). Die deskriptiven Ergebnisse in Tabelle 4 unten zeigen, dass das unzensierte Schimpfwort in allen drei Dimensionen die höchsten Scores unter den Subjekten erzeugt.

Dabei ist die Produkteinstellung gegenüber der zensierten Rezension signifikant positiver, ein Unterschied zur euphemistischen Schreibweise lässt sich jedoch nicht feststellen.  

Ein Mediationseffekt zeigt sich für unzensierte Rezensionen gegenüber den beiden weiteren Manipulationen nur hinsichtlich der wahrgenommenen Attributstärke. Die Ergebnisse deuten also darauf hin, dass nicht unbedingt ein “hartes” Schimpfwort nötig ist, um die Einstellung der Lesenden zu beeinflussen, sondern bereits ein hinreichend starkes, assoziiertes Adverb (“darn”) insgesamt eine ähnliche Wirkung entfaltet. 

Tabelle 4) Die Abhängigkeit der Wahrnehmung von Rezension von der Anzahl verwendeter Schimpfwörter (in Anlehnung an Lafreniere et. al. 2022) 

Wrap-Up: Fluchen und Segen zugleich 

Die Studie zeigt eindeutig, dass Schimpfwörter wichtige Funktionen im Rahmen des effektiven Word-of-Mouth erfüllen. Sie transportieren erfolgreich die emotionale Einstellung der Senderinnen und Sender, beeinflussen die Wahrnehmung von Produkteigenschaften und deren Bewertung, und können so positiv auf die Kaufabsicht der Empfängerinnen und Empfänger wirken. Was ist also die Konsequenz für Onlinehändler, Plattformen und alle, die Kundenrezensionen einsammeln, publizieren und auch moderieren?  

Schmutzige Sprache, die positive Erfahrungen mit Produkten oder Dienstleistungen transportiert, schadet nicht, sie hilft sogar dabei, Kaufabsicht bei den Lesenden zu stärken. Allerdings sollten Anbieter auf ein gesundes Maß achten.  

Wir möchten zudem zwei Dinge ergänzen.  

  • Erstens hat die Studie ausschließlich untersucht, wie sich Schimpfwörter auf die Wahrnehmung von Rezensionen auswirken, wenn diese eine positive Verstärkung erzielen sollen. Es bleibt unbeantwortet, was vulgäre Sprache im Sinne von “Trolling” oder "Hate-Speech" bei der Wahrnehmung von Produkten und Dienstleistung und auch auf Plattformen selbst bewirken kann. Negative Spill-over Effekte, also ein Abfärben fäkaler Sprache auf die Wertschätzung der Plattformmarke, sind wohl kaum im Interesse der Anbietenden.  
     

  • Zweitens ist es je nach Sprach- und Kulturkreis unterschiedlich üblich, Schimpfwörter als adverbiale Verstärker einzusetzen. In unserer Wahrnehmung sollten sich Anbieter also sehr genau mit dem typischen Sprachgebrauch Ihrer Zielgruppe auseinandersetzen, bevor sie entscheiden, wie sie den Gebrauch vulgärer Sprache sanktionieren oder gar motivieren wollen.  

In diesem Sinne: Fuck it, aber übertreiben Sie es verdammt nochmal nicht.  

 

Über die Personen

Prof. Dr. Michael Fretschner ist Co-Gründer der smart impact GmbH und Professor für Marketing & E-Commerce an der NORDAKADEMIE Hochschule der Wirtschaft.

Prof. Dr. Jan-Paul Lüdtke ist Co-Gründer der smart impact GmbH sowie Professor und Studiengangsleiter für E-Commerce an der Fachhochschule Wedel.

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