Prof. Dr. Anna Schneider Freundschaft – kein Auslaufmodell! Wieso das urmenschliche Bedürfnis nach sozialer Nähe zum profitablen Geschäftsmodell werden könnte

Enge Freundschaften sind heutzutage rar. Studien zeigen, dass die Anzahl an engen Freundschaften seit einigen Jahren sinkt. Verschiedene Start Ups versuchen mit digitalen Lösung dieser Änderung entgegenzusteuern und Menschen nachhaltig miteinander zu vernetzen. Vor allem junge Menschen sollen mit diesen Lösungen angesprochen werden, da diese sehr unter den Kontaktbeschränkungen in den letzten Jahren gelitten haben.

Enge Freundschaften werden immer rarer. (Bild: picture alliance / Zoonar | Erik Reis - IKOstudio)

Lassen Sie mich mit einer Aussage frei nach Aristoteles beginnen: „Ohne Freunde kann man nicht glücklich sein“. Mit dieser Aussage bezog er sich auf „Tugendfreundschaften“, die man heute als enge Freundschaften bezeichnen würde. Diese, aus seiner Sicht, höchste Form der Freundschaft, zeichnet sich durch gegenseitige Wertschätzung und Empathie aus und hält ein Leben lang. Diese Form der Freundschaft sei allerdings auch die seltenste Form der Freundschaft.

Viel häufiger, so Aristoteles, seien zeitlich begrenzte „Nutzenfreundschaften“, wie wir sie zum Beispiel im Rahmen von geschäftlichen Beziehungen erleben können, oder aber auch die „Lustfreundschaft“. Bei der Lustfreundschaft handelt es sich nicht, wie man nun meinen könnte um „friends-with-benefits“, sondern um vor allem junge Menschen, die dieselben Interessen teilen und Spaß miteinander haben. Wechselt die Interessenlage, dann wechseln aber auch die Freundschaften.

Im Durchschnitt haben wir etwa vier enge FreundInnen

Es wird also spätestens jetzt völlig klar, dass die von sozialen Netzwerken, insbesondere Facebook genutzte Formulierung „Freunde“ nichts mit der Auffassung davon, was FreundInnen eigentlich sind zu tun haben. Weder nach Aristoteles, noch nach Sicht der NutzerInnen. Oder kämen Sie auf die Idee all Ihre Facebook Kontakte als FreundInnen zu bezeichnen? Wohl kaum. Der Frage danach, ob und wenn ja, wie viele echte FreundInnen unter den Facebook Kontakten sind, hat sich Professor Dunbar von der Universität Oxford in einer Studie gewidmet. Interessant und eher wenig überraschend: In seiner Studie waren unter den Facebook-Kontakten durchschnittlich etwa 4  Menschen, die tatsächlich auch als enge FreundInnen im „echten Leben“ bezeichnet werden würden.

Die hier ermittelte Zahl scheint insofern recht belastbar, als das diese auch in aktuelleren Befragungen repliziert wurde. Laut einer Umfrage des SINUS-Instituts und von YouGov im Juli 2021 haben die Deutschen durchschnittlich 3,7 enge FreundInnen und zählen 11 Personen zu ihrem erweiterten Freundeskreis. Allerdings zeigt die Umfrage auch, dass nur 66% der Befragten überhaupt eine beste Freundin, oder einen besten Freund haben.

Laut einer Umfrage des Survey Center on American Life aus dem Jahr 2021 können immer mehr Menschen keine einzige Person als "enge/n FreundIn" bezeichnen.

Im Jahr 1990 gaben nur drei Prozent der AmerikanerInnen an, keine engen Freunde oder Freundinnen zu haben, während dieser Prozentsatz im Jahr 2021 auf 12 Prozent gestiegen ist.

In dieser Studie wird dieser Umstand auch darauf zurückgeführt, dass alltägliche Kontakte pandemiebedingt stark eingeschränkt waren. Orte, an denen sich Menschen begegnen, kennenlernen und Freundschaften schließen können, waren schlichtweg geschlossen oder leergefegt. Denn Büros haben häufig auf Remote-Work umgestellt, Schulen und Universitäten auf die digitale Lehre. Die Auswirkungen dieser fehlenden Räume für zwischenmenschliche Begegnungen spiegeln sich auch in den Ergebnissen der Studie von YouGov und dem SINUS-Institut wider: Die Zahl der Freundschaften hat sich bei 33% der Befragten in den letzten 5 Jahren reduziert, besonders betroffen waren Befragte der jüngsten Altersgruppe.

Warum also nicht den realen sozialen Raum durch digitale Lösungen kultivieren?

An dieser Fragestellung haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Startups und Global Player versucht. Facebook hat Gruppenfunktionen für Menschen mit ähnlichen Interessen etabliert und breit beworben und auch Bumble hat mit einer Community-Funktion experimentiert, die es Nutzenden ermöglichen sollte, sich auf der Grundlage von Themen und Interessen miteinander zu verbinden. Ähnlich wie bei Tinder, allerdings ohne Flirtnachrichten, wollte Patook dabei unterstützen, NutzerInnen zu verbinden.

Nun gibt es eine weitere Anwendung, mit der es ermöglicht werden soll, Raum für das Entwickeln von Freundschaften zu finden. 222, so der Name soll, so das Nutzenversprechen, „sinnvolle und authentische Verbindungen“ ermöglichen. 222 wurde Ende 2021 zunächst im Rahmen eines Uni-Projekts entwickelt, das zum Ziel hatte, die soziale Kompatibilität einer Gruppe von Fremden vorherzusagen. Mithilfe eines psychologischen Fragebogens und unter Einsatz maschinellen Lernens wurden dann Gästelisten erstellt, um sich zu intimen Hinterhof-Dinnern im Garten einer der Entwickler zu treffen. Die hieraus entstandene Anwendung versteht sich laut dem Entwicklerteam nicht als „friend-making-service“ und erst recht nicht als Dating-App. Zudem richtet sich das Angebot nur an Menschen zwischen 18-27 Jahren (Generation Z), an diejenigen also, die nach o.g. Zahlen besonders von der sozialen Isolation während der Pandemie betroffen waren. Allerdings wäre es wünschenswert, das Angebot in die breitere Masse zu tragen, liegt doch nach einer Studie im Auftrag des Bundesseniorenministeriums der Anteil von sehr einsamen Menschen im Alter von 46-90 Jahren bei fast 14% und damit 1,5-mal höher als in den Vorjahren. Aber zurück zur Anwendung…

Nach der Beantwortung von eher harmloseren Fragen zu Film und Musikvorlieben, werden auch solche nach dem Einkommensniveau, sexueller Orientierung und politischen Ansichten gestellt. Das ist insofern spannend, wie befremdlich zugleich, da diese Art von Informationen sonst eigentlich nur mit den engsten Vertrauten geteilt werden. Wenn überhaupt. Selbstverständlich – so die Entwickler – würden diese nur verwendet, „um die soziale Erfahrung jedes 222-Mitglieds zu verbessern". (Laut einem Bericht von Techchrunch werden diese Daten übrigens auch weiterhin im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Universitätsprojekts analysiert.) Eine Analyse des Persönlichkeitstyps später, wird man dann zu Veranstaltungen eingeladen und kann dort andere NutzerInnen treffen. Anders als bei Dating-Apps, finden diese Veranstaltungen öffentlich statt und in der Gruppe, zudem gibt es Notfallkontakte, die im Zweifelsfall alarmiert werden können. Vor dem Hintergrund von Berichten zur Zunahme von sogenannten „Date-Rapes“, ist dieses Sicherheitsnetz überaus bedeutsam.  

Echte Freundschaften leben von Begegnungen.

Wird es also 222 oder ähnlichen Start-Ups gelingen, das urmenschliche Bedürfnis nach sozialen Kontakten in ein profitables Geschäftsmodell zu überführen? Zumindest die Finanzierung für die Expansion ist gesichert, denn das junge Unternehmen hat kürzlich mehr als 1,45 Mio. Dollar eingeworben. Und gerade das zentrale Nutzenversprechen, Online-Kontakte in die echte Welt zu überführen, ist äußerst vielversprechend.

Denn: Echte Freundschaften – und deren Anbahnung - leben von Begegnungen.

Auch die Befragungsergebnisse von YouGov und dem SINUS-Institut weisen in diese Richtung; 75% der Befragten sind der Meinung, dass man Freundschaften nur im „richtigen Leben“ führen kann. Und die Anwendung verspricht genau das: Sie möchte NutzerInnen an die Hand nehmen und ihnen die Gelegenheit bieten, sich im echten Leben zu vernetzen. Stellt sich zuletzt die Frage, bei wie vielen der so ermöglichten Begegnungen aus Lustfreundschaften tatsächlich auch Tugendfreundschaften werden. Ich bin sicher, die Daten des Forschungsprojekts werden es uns in einigen Jahren zeigen.

 

Über die Person

Prof. Dr. Anna Schneider ist Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Trier. Ihr zentrales Forschungsinteresse gilt den Auswirkungen der Digitalisierung auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Sie ist Mitglied in verschiedenen Forschungsverbänden und sitzt im wissenschaftlichen Beirat des Wissenschaftlichen Instituts für Infrastruktur und Kommunikationsdienste, einem renommierten Think Tank für Kommunikations- und Internetpolitik.

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