Repräsentativität regionaler Telefonstichproben Frau Merkel, beeilen Sie sich! - Warum den Marktforschern die Hutschnur hochgeht

Der ADM äußert in einem öffentlichen Schreiben seinen Unmut an Kanzlerin und die zuständigen Ministerien bzgl. der Fertigstellung der E-Privacy-Verordnung. Warum gerade jetzt? Und warum ist das für viele Marktforscher, die Kanzlerin selbst und alle Ministerpräsidenten wichtig?

Frau Merkel, beeilen Sie sich (Fotograf Laurence Chaperon)

Frau Merkel, beeilen Sie sich (Fotograf Laurence Chaperon)

 

von Holger Geißler

Vergangene Woche veröffentlichte der Arbeitskreis deutscher Marktforscher e.V. einen Brief an die Kanzlerin und die fachlich zuständigen Ministerien, in der Fortschritte bzgl. des Gesetzgebungsverfahren zur E-Privacy-Verordnung eingefordert werden.

Dieser Vorgang ist aus zwei Gründen erstaunlich:

Zum einen hat der Brief auf den ersten Blick nichts mit der Corona-Krise zu tun. Als Außenstehender könnte man sich fragen, ob der Zeitpunkt gut gewählt ist, da Angela Merkel offensichtlich mit ganz anderen Problemen beschäftigt ist als einem Gesetzgebungsverfahren, dass – so der Verband – seit fast drei Jahren „faktisch zum Stillstand“ gekommen ist. Wäre es da nicht geschickter gewesen, den Brief dann zu schreiben, wenn die Kanzlerin den Kopf wieder frei von COVID-19 hat?

Zum anderen ist man solche öffentlichen Forderungen an die Politik zwar von anderen Lobby-Verbänden gewohnt. Der ADM aber war in dieser Hinsicht bislang unauffällig. Die politische Arbeit zur Aufrechterhaltung der Privilegien der Marktforscher fand im Verborgenen statt. Die Ergebnisse von Gesprächen mit Politikern wurden in der Regel nicht öffentlich kommuniziert.

Warum geht dem Verband gerade jetzt die Hutschnur hoch?

Die E-Privacy-Verordnung ist nicht nur für wissenschaftliche Untersuchungen der Markt-, Meinungs- und Sozialforschung mittels Internet relevant, sondern auch für die Durchführung telefonischer Umfragen. Wie z.B. im Interview mit ADM-Mitglied Menno Smid, Geschäftsführer des infas-Instituts und CEO der infas Holding, zu lesen, „decken reine Festnetzstichproben die Bevölkerung nicht mehr komplett ab. Es stellt sich lediglich die Frage, wie groß der Anteil mobiler Interviews an der Gesamtstichprobe sein soll.“ Reine Festnetzstichproben schließen mittlerweile Teile der Bevölkerung systematisch aus und haben damit das gleiche Problem wie Online-Stichproben. Für bundesweite telefonische Repräsentativ-Erhebungen wurde dieses Problem mit dem Dual-Frame-Verfahren gelöst. Nicht aber für regionale Telefonstichproben.

Der ADM schreibt dazu: „Die notwendige Verortung der ausgewählten Mobilfunknummern ist jedoch aktuell nicht möglich, ohne die potenziellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer vorab zu kontaktieren.“ Würde man dennoch mobile Anschlüsse anrufen, würde man viele Menschen belästigen, die nicht zur regionalen Zielgruppe der Studie gehören. Damit ist eine repräsentative telefonische Stichprobe von Saarländern, Bremern, Berlinern oder Hamburgern aktuell faktisch unmöglich, da man der Mobilfunknummer – im Unterschied zur Festnetznummer mit Ortsvorwahl– nicht ansieht, wo sie regional lokalisiert ist. Diese Daten zu bekommen, ist bislang aber kaum möglich. Das zeigt auch die Diskussion um die Corona-Tracing-App. Smartphone-Apps zur Nachverfolgung von Infektionsketten, die in Ländern wie China, Indien oder Südkorea bereits zum Einsatz kommen, scheitern in Deutschland am Datenschutz.

Wie könnte die E-Privacy-Verordnung helfen, um repräsentative regionale Telefon-Stichproben zu erheben?

Hier kommt die E-Privacy-Verordnung ins Spiel. Diese könnte die Rechtsgrundlage dafür schaffen, um Standortdaten von Mobilfunkgeräten für wissenschaftliche Forschungszwecke zu nutzen. Beschrieben ist diese Möglichkeit im Artikel 6 der E-Privacy-Verordnung.

Darauf spekuliert der ADM. Mit einer solchen Rechtsgrundlage könnten die Marktforscher bei den Netzbetreibern vorstellig werden, um Standortdaten für Mobilfunknummern zu erstehen. Wie genau der Datenaustausch zwischen Marktforschern und Netzbetreibern aussehen könnte und was das kostet, ist noch unklar. Für die regionale Zuordnung wären aber weder Vertragsdaten noch Bewegungsprofile notwendig, so der Verband. Verortet wäre der Austausch in der sogenannten ARGE (Arbeitsgemeinschaft Stichproben) des ADM, der aktuell 29 deutsche Marktforschungsinstitute angehören (z.B. aproxima, Foerster & Thelen, Infas, Forsa, GfK oder Omniquest). Dieser Arbeitskreis kümmert sich bislang um die Ziehung von Stichproben von Face-to-Face und Telefon-Erhebungen, indem sie den beteiligten Instituten einen Auswahlrahmen zur Verfügung stellt, der es ermöglicht, repräsentative Bevölkerungsstichproben in Privathaushalten zu erheben.

Es braucht repräsentative Stichproben ohne F2F-Kontakt – Jetzt!

Und damit wird auch klar, warum der ADM gerade jetzt seinen Forderungen öffentlich Nachdruck verleihen möchte – und muss: Durch Corona war die Durchführung repräsentativer Face-to-Face-Stichproben nicht möglich. Damit entfiel auch die Möglichkeit repräsentative F2F-Regionalstichproben zu erheben. Eine Alternative wären telefonische Interviews gewesen, wenn es denn eine repräsentative Auswahlgrundlage dafür gegeben hätte. Die Erreichbarkeit war in den letzten zwei Monaten so gut wie nie, viele Menschen hatten Zeit an Umfragen teilzunehmen.

Die Notwendigkeit repräsentativer Stichproben wird immer größer. Das macht die Diskussion um die nach wie vor unklare Datenlage bzgl. der Prävalenz von COVID-19 überdeutlich. Hochrechenbare Daten sind unabdingbar, wenn Politiker über Lockerungen oder Lock-Down entscheiden müssen. Da viele Entscheidungen in den Bundesländern getroffen werden, muss es eine Möglichkeit geben, repräsentative Stichproben ohne F2F-Kontakt in den Bundesländern und kleineren Regionen zu erheben.

Von daher ist der Zeitpunkt des Briefs an die Kanzlerin perfekt gewählt. Die Kanzlerin gilt seit langem als Fan der Markt- und Meinungsforschung. Es ist zu hoffen, dass sie der Brief des ADM erreicht. Die Kollegen des Bundespresseamtes, die die zahlreichen Umfragen für die Kanzlerin organisieren, sollten ihr die Dringlichkeit der E-Privacy-Verordnung für die Repräsentativität regionaler Stichproben in Pandemie-Zeiten erläutern. Und den Brief an die Ministerpräsidenten direkt weiterleiten.

 

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