Kommentar von Holger Geißler, DCORE Fragen zum taz-Artikel "Repräsentativ daneben?"

Eine Allianz aus Marktforschern beschwert sich beim Presserat über eine Umfrage von FOCUS ONLINE, die vom Berliner Start-up Unternehmen Civey durchgeführt wurde. Dass man sich über Umfragen & Methoden trefflich streiten kann, ist bekannt. Dieser Vorgang ist aus meiner Sicht aber dennoch außergewöhnlich und wirft einige Fragen auf.

Holger Geißler

Holger Geißler

 

Warum gerade jetzt?

Civey ist zwar noch ein junges Startup, aber dennoch schon seit 2016 am Markt aktiv. So veröffentlichte das Unternehmen bereits vor über zwei Jahren einen Blogbeitrag zum Thema "Zweitbeste Wahlprognose für Berlin". Darin vergleicht Civey die eigene Wahlvorhersage für den Tagesspiegel mit den Vorhersagen anderer Institute wie Forsa und der Forschungsgruppe Wahlen. Ein ähnlicher Beitrag findet sich zur NRW-Wahl 2017. Da diese Blogbeiträge noch immer online zu finden sind, lässt vermuten, dass die aktuellen Gegner bisher keinen Weg gefunden haben, mit rechtlichen Mitteln dagegen vorzugehen. Von daher muss man sich schon fragen, warum diese Beschwerde gerade jetzt eingereicht wurde. Wenn die Methode "Bullshit und Scharlatanerie" und Civey ein "gefährlicher Gaunerhaufen" ist, warum warten die "etablierten" Forscher über zwei Jahre bis sie sich beim Presserat beschweren? Warum beschwert man sich jetzt über die journalistische Sorgfalt von Focus Online, nicht aber vor zwei Jahren über den Tagesspiegel oder kontinuierlich über Spiegel Online, die seit Jahren intensiv mit Civey-Umfragen arbeiten?

Warum verbünden sich Forsa, die Forschungsgruppe und Infas gegen Civey?

Es gibt wahrscheinlich wenige Meinungs- und Wahlforscher in Deutschland, die im Laufe der Jahre noch keinen Brief von einem der zahlreichen Anwälte von Forsa- bekommen haben. Aus meiner Zeit als YouGov-Vorstand kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass Forsa streitbar ist. Von daher hätte es mich überhaupt nicht überrascht, wenn Forsa sich über Civey beschwert hätte. Dass sich diesmal aber eine Allianz aus drei Instituten beschwert, ist überraschend. Rechnet man sich gemeinsam bessere Chancen aus? Warum ist die Allianz dann aber nicht noch viel größer? Wenn die Civey-Methode so unseriös ist, warum beschweren sich dann z.B. nicht gleich alle ADM- oder ASI-Institute gemeinsam?

Warum beschwert man sich beim Presserat und nicht beim Rat der deutschen Markt- und Sozialforschung?

Mit dem Rat der deutschen Markt- und Sozialforschung gibt es seit 2001 ein Äquivalent der Marktforschungsbranche zum Presserat oder Werberat. "Der Rat regelt eigenverantwortlich die Belange der Profession und unterstützt damit gute und verantwortungsvolle Markt- und Sozialforschung", kann auf der Website des Rates nachgelesen werden. Forsa und Infas sind Mitglieder beim ADM, der den Rat gemeinsam mit den anderen Marktforschungsverbänden ins Leben gerufen hat. Es ist davon auszugehen, dass ihnen der brancheneigene Rat bekannt ist. Von daher finde ich es überraschend, dass sich in diesem Fall beim Presserat beschwert wird. Warum beschwert man sich nicht beim Rat der Marktforscher gegen Civey? Ist das passiert und wir wissen nur nichts davon? Geht es darum, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Beschwerde beim Presserat auch außerhalb der Marktforschungsbranche medial aufgenommen wird, größer ist? Ich kenne die Beschwerde leider nicht im Wortlaut. Die taz schreibt dazu "Von der versprochenen "Repräsentativität" könne keine Rede sein, die Civey-Methode widerspreche wissenschaftlichen Grundsätzen und wer so etwas veröffentliche, der verletze journalistische Sorgfalt." Das wäre doch eigentlich auch ein Fall für den brancheneigenen Rat der Marktforscher, wenn gegen wissenschaftliche Grundsätze unserer Profession verstoßen wird, oder?

Warum beschwert sich Civey eigentlich nicht auch über Forsa, die Forschungsgruppe oder Infas?

Die taz schreibt über Civey: "Weil das zur Manipulation geradezu einlädt, werden die Daten nachgewichtet und sollen dann "repräsentativ" sein. Wie genau dieser Prozess abläuft, ist Geschäftsgeheimnis. Die Resultate kann man nur glauben oder eben nicht." Dieser Vorwurf der Intransparenz trifft doch auf alle anderen Meinungsforscher fast genauso zu. Welches Institut ist bzgl. der Gewichtung transparenter als Civey? Kann man bei irgendeinem Institut in Deutschland die genaue Gewichtung erfahren, mit der Stichproben-Verzerrungen korrigiert werden? Und zwar am Tag der Veröffentlichung und nicht erst Monate später, wenn die Daten im Datenbestandskatalog der Gesis exklusiv für Wissenschaftler - und nicht für jedermann - zur Verfügung gestellt werden. Wie hoch ist denn überhaupt noch die Teilnahmequote an telefonischen Umfragen? Höher als 2 Prozent? Höher als 5 Prozent? Ist das noch repräsentativ zu nennen, wenn von 100 zufällig angerufenen Deutschen nur wenige Personen mitmachen? Und wo genau finden sich detaillierte Informationen über die Özil-Umfragen der Beschwerdeführer?

Wie befragen wir eigentlich zukünftig?

Ich würde mich freuen, wenn bei dieser Diskussion am Ende auch die Frage gestellt wird, die ich für zentral für die Zukunft unserer Profession halte: Wie befragen wir eigentlich zukünftig repräsentativ? Die etablierten Methoden haben zunehmend große Probleme mit der Ausschöpfung. Das wird keiner leugnen, auch wenn es kaum öffentlich diskutiert wird. Sicherlich ist der methodische Weg für den Civey als Stellvertreter steht und über den sich jetzt beschwert wird, auch noch nicht perfekt. Aber wie gehen wir als Branche in die Zukunft? Es wäre doch hilfreicher, wenn sich Instituts-Vertreter "etablierter" Methoden mit "jungen Wilden" zusammensetzen, um gemeinsam einen Weg zu entwickeln, wie man heute und zukünftig repräsentativ in Deutschland befragen kann.

Holger Geißler
Mitglied der Geschäftsführung DCORE GmbH
Chief Marketing Officer bei DataLion GmbH

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Winfried H am 04.10.2018
    Eine sachliche Diskussion wird so angestoßen wie Holger Geissler das hier tut, danke. Eine Beschwerde beim Presserat oder beim Rat der dt. Marktforschung sind mMn völlig ungeeignet, die Profession in der Frage der künftigen Ableitung repräsentativer Ergebnisse weiter zu entwickeln. Den einen Königsweg wird es nicht mehr geben. Methoden- und Quellen-Kombination, Diskurs über Methoden und Ergebnisse, Offenheit für neue Ansätze sind die vielversprechenderen Wege, den Trend der MaFo Richtung Bedeutungsverlust bei gelegentlich beobachtbarer Inkaufnahme kostengetriebener Qualitätsdefizite umzukehren.
  2. Michael Bertram am 05.10.2018
    Dass Herr Geissler als ehemaliger YouGov-Vorstand und DCORE-Mitarbeiter eine Lanze für die Online-Marktforschung bricht, verwundert nicht.
    Aber ganz pragmatisch gefragt:
    Sind Leser bestimmter Online-Medien, egal wie man sie gewichtet, repräsentativ für die Bevölkerung?

    Ist die Ausschöpfung telefonischer Befragungen tatsächlich soviel schlechter, wenn man telefonisch nur eine Frage stellt?
    Man muss sich auch online die Frage gefallen lassen, wer denn bei welchen Themen teilnimmt.
    Ist es nicht der Trend, immer günstiger immer mehr Ergebnisse zu liefern, der hier Zwänge setzt?
    Ist das Argument, dass in der Vergangenheit nicht geklagt wurde, stichhaltig?
    Was spricht denn dagegen, Gewichtungsfaktoren offen zu legen? Jeder Kunde hat das Recht dazu.

    Aber in der Tat, die Beschwerde kommt zu spät, das Kind ist schon in den Brunnen gefallen und die Branche spricht nicht mehr. aus einem Sprachrohr.
    Warum nicht einen offenen Methodenvergleich?
  3. Konrad am 05.10.2018
    Im vorletzten Absatz offenbart sich der Artikel dann doch als PR-Stück – oder fehlen hier wie so oft beim leitenden Management die echten Fachkenntnisse?

    Da wird suggeriert, dass es hier um Online- vs. Telefonbefragung geht, dabei arbeiten auch die "etablierten" Meinungsforschungsinstitute zunehmend mit Online-Panels, bei forsa ist es "forsa.omnipanel". Das hat natürlich auch sein Für und Wider, aber die PC-gestützte Befragung ist dann doch weniger archaisch als das "Haben Sie kurz Zeit" auf den aussterbenden Festnetz-Telefonen.

    Und bevölkerungsrepräsentativ ist natürlich auch eine Teilnahmequote von 2 Prozent, wenn man die soziodemographischen Faktoren entsprechend beachtet, am Ende also nicht nur 70-jährige befragt wurden, und man die z. B. für eine Fehlertoleranz von nur noch +/-3 Prozentpunkte nötige Befragtenzahl von 1.000 zusammenhat.
  4. Max T. am 05.10.2018
    Methodendiskurs finde ich richtig, aber wer wie Civey und der Autor dieses Beitrags die Umfragen vor den Wahlen als "Wahlvorhersagen" bezeichnet, kann zu einem solchen Diskurs nicht wirklich einen qualifizierten Beitrag leisten...

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