Fetisch Repräsentativität

Von Stephan Grünewald, Geschäftsführer rheingold institut
Statistische Repräsentativität hat immer noch den Charakter eines Forschungs-Fetischs. Sie wird unhinterfragt hochgehalten. Die Magie der hohen Fallzahl und der Anspruch in einer Studie die Gesamt-Bevölkerung oder die Gesamt-Zielgruppe zu repräsentieren vermitteln ein Gefühl von Größe, Sicherheit und Reputation. Allerdings können die meisten – auch breit angelegten Studien – statistische Repräsentativität gar nicht gewährleisten. Sollten die Befragten wirklich die Grundgesamtheit der relevanten Bevölkerung tatsächlich repräsentieren, müssten in der Regel mehrere Tausend Verbraucher befragt werden, was meist weder technisch noch ökonomisch umsetzbar ist. Wer statistische Repräsentativität von einer Studie erwartet, gibt sich von daher meist einer Illusion hin.
Statistische Repräsentativität ist überdiese nur in den allerwenigsten Fällen wirklich erforderlich: Wenn man z. B. die TV-Quoten berechnen will oder eine valide Wahl-Prognose abgeben will, ist es sinnig, dass die untersuchte Stichprobe ein verkleinertes, möglichst wirklichkeitsgetreues Abbild der relevanten Grundgesamtheit repräsentiert. Aber selbst bei den Wahlprognosen kamen in den letzten Jahren immer wieder Zweifel an ihrem Aussage- und Vorhersage-Wert auf. Denn spätestens wenn dann am Wahl-Sonntag wirklich die Grundgesamtheit zur Abstimmung geht, korrigiert die Ergebnis-Realität die noch kurz vor der Wahl getroffenen Vorhersagen. Vor allem bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 hatten die Demoskopen auf Basis ihrer repräsentativen Befragungen noch kurz vor der Wahl die CDU als klaren Sieger ausgemacht. 2002 siegte dann aber doch überraschend Schröder mit der SPD und 2005 kam es wider erwartend zu einer großen Koalition. In beiden Jahren hatte rheingold eine vollkommen unrepräsentative Studie durchgeführt und zwei Wochen vor der Wahl jeweils 50 Wähler zwei Stunden auf die Couch gelegt. Wir kamen 2002 zu dem Ergebnis, dass Schröder die Wahl gewinnen wird. 2005 antizipierten wir die drohende Patt-Situation.
Das Marketing ist heute mehr denn je gefordert, Maßnahmen zu entwickeln, die wirksam in das oft komplizierte Getriebe des Konsumenten-Verhaltens eingreifen. Aufgabe der Marktforschung ist es daher dieses komplizierte Getriebe zu verstehen und all die Faktoren, Wirkungsrädchen und Motivations-Züge zu veranschaulichen, die das Verhalten letztendlich bestimmen. Die Erfüllung dieser Aufgabe gewährleistet, nicht die statistische, sondern die psychologische Repräsentativität: Psychologische Repräsentativität fordert daher die vollständige Repräsentierung aller für die Produktverwendung, die Imagewahrnehmung oder die Werbewirkung relevanten Faktoren und Bedeutungszusammenhänge.
Psychologische Repräsentativität drängt darauf strategische Karten oder Baupläne zu entwickeln, die dem Marketing die Funktionsweisen von Märkten und Marken veranschaulichen. Denn wer versteht, kann handeln. Der Unterschied zwischen statistischer und psychologischer Repräsentativität wurde mir während meines Studiums anhand des Marsmenschen-Gleichnis erläutert: Stellen Sie Sich vor Marsmenschen kämen auf die Erde und würden sehen, dass es hier Millionen von Autos gibt. Sie haben aber gar kein Verständnis davon, was Autos sind und wie sie funktionieren. Für sie gibt es jetzt zwei Forschungs-Wege. Gehen sie statistisch vor, ziehen sie eine repräsentative Auswahl von einigen Tausend Autos und beginnen bestimmte wahrnehmbare Parameter von Autos zu messen: Deren Größe, den Motorumfang, die Zahl der Zylinder, das Gewicht des Getriebes, usw. Bei der statistischen Bearbeitung dieser Daten stellen sie Korrelationen her zwischen Autofarbe und Motorumfang, oder zwischen Zylinder-Zahl und Anzahl der Auto-Sitze. Auf diese Weise könnten Sie vielleicht Dutzende von Auto-Typen differenzieren. Das Funktionsprinzip eines Autos bliebe ihnen aber verborgen. Gehen sie psychologisch-analytisch vor, nehmen sie 30 Autos, die möglichst unterschiedlich sind. Dann bauen sie diese Autos geflissentlich auseinander und setzen sie wieder sorgfältig zusammen. Dadurch entwickeln sie ein systematisches Verständnis für das komplizierte Getriebe und den Aufbau eines Autos. Sie sehen, wie ein Rädchen in das andere greift. Sie merken auch, was passiert, wenn man Teile weglässt oder sie anders kombiniert. Auf Basis dieses Funktions-Verständnis sind sie dann in der Lage Motoren oder komplette Modelle zu optimieren oder anders zu konfigurieren.
30 Fälle reichten beispielsweise aus, um gemeinsam mit unserem Kunden Haus Rabenhorst eine überaus erfolgreiche Markendehnungs-Strategie für die Marke Rotbäckchen zu entwickeln. Ausgangspunkt war das Funktionsprinzip der Marke aus der Sicht der Verbraucher zu verstehen: Die psychologischen Tiefeninterviews zeigten dabei: Die Marke wurde von den Menschen wie ein Heiligtum verehrt, aber nur selten konsumiert. Mit der Marke war der Zauber eines magischen Allheilmittels verbunden. Mit einem kleinen Gläschen kann man körperliche Mangelzustände beheben. Aber die Marke war in ihrer eigenen Tradition und in ihrem unantastbaren Nimbus als Zaubertrank hermetisch abgeriegelt. Sie hatte an Alltags-Relevanz verloren. Durch die Einsicht in das innere Getriebe der Marke konnten wir eine Öffnungs-Strategie der Marke auf zwei Dimensionen empfehlen. Die Marke kann sich einerseits veralltäglichen. Neu entwickelte Getränken wie Winterpunsch oder Schorlen sind so auch in größeren Mengen ungezwungen konsumierbar. Anderseits kann sie eine gezielte funktionale Ausdifferenzierung vornehmen. In Produkten wie Lernstark oder Immunstark positioniert sie sich als probates Naturmittel für spezifische Indikationen. Auf einer zweiten Ebene kann die Marke ihren Focus erweitern. Sie ist heute nicht mehr nur für den Körper, sondern auch für die Seele und den Geist zuständig. Auf Basis dieser zweidimensionalen Markenöffnungs-Strategie Matrix wurden in den letzten Jahren insgesamt sieben neue Produkte eingeführt. Der Umsatz konnte versechsfacht werden.
Die Forderung nach psychologischer Repräsentativität klingt selbstverständlich, sie wird allerdings in der Praxis nur selten erfüllt. Psychologische Repräsentativität lässt sich nur durch größtmögliche Offenheit im Forschungsprozess erfüllen. Man muss sich auf die Lebens-Wirklichkeit des Verbrauchers einlassen, um an die wirklich wichtigen und kaufrelevanten Motivationen und Faktoren herankommen zu können. Vorgefertigte Fragen oder Antwortkategorien sind dafür nicht geeignet. Sie tun so, als wüssten sie bereits, was in einem Markt fragwürdig und was für die Verbraucher wirklich wichtig und relevant ist. Das wirklich Bedeutsame erschließt sich aber erst im Verlauf eines Forschungs-Prozesses, der durch Überraschungen, unerwartete und manchmal peinliche Einblicke in den Alltag des Verbrauchers geprägt ist.
Wenn man z. B. die Menschen beschreiben lässt, wie ihre Stimmung vor der Wahl ist, wie sich in ihren Augen die Befindlichkeit in Deutschland verändert, dann beginnt man zu verstehen, dass z. B. die Flutkatastrophe kurz vor der Wahl 2002 die Sehnsüchte der Wähler verändert hatte. Während in der Not Stoiber eher wie ein bürokratischer Oberlehrer wirkte, hatte es der Egomane Schröder geschafft, sich durch seine demonstrative Fürsorglichkeit in eine väterliche Noah-Position zu bringen und so viele Wähler wieder für sich zu gewinnen. Allerdings haben die Wähler das bei der einfachen Sonntagsfrage nicht zugegeben. Die Sonntagsfrage war zwar repräsentativ, aber sie repräsentierte nicht den eigentlichen Wählerwillen, denn der ist oft von unbewussten Motiven bestimmt. Denn häufig reagieren die Wähler auf die Sonntagsfrage mit einer Sonntagspredigt. Sie wollen ihre Politiker abstrafen, aufschrecken oder motivieren und entziehen ihnen daher demonstrativ und demoskopisch die Sympathie. Die Wähler reagieren ähnlich wie ein Fußball-Publikum, das die Heim-Mannschaft auspfeift, um sie gerade dadurch aufzuwecken und anzustacheln. Die chronisch desaströsen Umfragewerte von Schröder waren daher nie allein Ausdruck, einer schwindenden Bereitschaft die SPD zu wählen. Sie waren oft der geheimen Intelligenz der Wähler geschuldet, dass ihr Kanzler erst zu Hochform aufläuft, wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht.
Psychologische Repräsentativität leistet also zweierlei. Sie ermöglicht erstens, sich ein umfassendes Bild über die Wahrnehmung und Funktion eines Produktes oder einer Marke zu machen. Sie bietet zweitens die beste Basis für eine an der Lebenswirklichkeit der Verbraucher orientierte Markt-Strategie. Qualität in der Marktforschung steht und fällt nicht mit der Zahl der explorierten Fälle, sondern mit der Güte und Tiefe der Exploration und ihrer analytischen Durchdringung. Erst wenn es gelingt, die wirklichen Beweggründe der Verbraucher zu erfassen, bieten sich die richtigen und wichtigen Ansatzpunkte für erfolgreiche Marketing-Maßnahmen.
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