Applied Science Extrem laut & unglaublich nah - Wenn Unternehmen zum Zeitgeist twittern

Den Namen zu dieser Kolumne gab der wundervolle Roman von Jonathan Safran Foer, der einen neunjährigen Jungen bei der Verarbeitung eines traumatischen Schocks durch ein krasses externes Ereignis begleitet. Markenunternehmen müssen sich heute einer Umwelt stellen, in der gesellschaftliche Anlässe und News starken Einfluss auf die kommunikativen Handlungsspielräume der Protagonisten nehmen. Doch wie sollten Unternehmen auf gesellschaftsrelevante Ereignisse reagieren? Sollten sie stumm bleiben, sich gar bewusst zurücknehmen und Kommunikation auf den eigenen Handlungskreis beziehen? Oder sollten sie sich laut und unmittelbar über Social Media einmischen, wie wir es hierzulande zum Beispiel aus der klassischen Werbung vom Mobilitätsdienstleister SIXT kennen?
Diesen Fragen geht ein europäisches Forschungsteam um Abhishek Borah in der spannenden Studie “Improvised Marketing Interventions in Social Media” nach, die kürzlich im Journal of Marketing erschienen ist.
Merkmale von improvisierten Markeninterventionen in Social Media
Als “improvisierte Markeninterventionen” (IMI) bezeichnen die Autoren alle spontanen Reaktionen auf gegenwärtige Ereignisse. Die Keksmarke Oreo twitterte während eines Stromausfalls beim Superbowl: “Power out? No Problem! You can still dunk in the dark” mit passendem Bild vom Keks in der Milch. Das Unternehmen erreichte damit quasi kostenfrei innerhalb weniger Stunden über 15.000 Retweets und enorme mediale Aufmerksamkeit weit über Twitter hinaus - und das im Rahmen genau des Sportevents, was eigentlich für seine Monate im Voraus geplanten Spots und wahnwitzigen Werbekosten bekannt ist.
Das Beispiel zeigt, wie eine starke IMI wirkt: Sie ist humorvoll und geschieht entweder unerwartet oder nahezu in Echtzeit. Dabei nimmt sie direkten Bezug zu einem aufmerksamkeitsstarken Ereignis und hebelt dessen Reichweite. Social Media ist der Katalysator für die Verbreitung der Nachrichten, denn nur durch die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen von Followern und Fans gehen Interventionen viral und werden damit erfolgreich.
Aber wir wissen auch: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und jedes schöne Beispiel sollte auf einem soliden empirischen Fundament stehen.
Das empirische Setting der Studie
Die Autoren untersuchen die Wirkung von vier unabhängigen Variablen auf die Viralität und den damit verbundenen Erfolg der Kommunikationsmaßnahme: Handelt es sich um eine improvisierte Markenintervention? Ist sie humorvoll? Ist sie unerwartet oder geschieht sie unmittelbar? Dabei betreibt das Forschungsteam erstaunlichen Aufwand und kombiniert in dem Beitrag gleich fünf eigenständige empirische Untersuchungen.
Zunächst zeigt das Team anhand von Tweets der Marke Oreo den Zusammenhang von Interventionscharakter und Viralität in Form von Retweets - die Ergebnisse sind eindeutig: IMIs verbreiten sich tatsächlich sehr viel viraler. Dieses Ergebnis wird dann in einer zweiten experimentellen Studie gefestigt. Außerdem bestätigen die Autoren, dass deutlicher Humor in Interaktion mit einer sehr zeitnahen oder sehr unerwarteten Reaktion die Viralität der IMIs befeuert. Mit der dritten Studie folgt der erneute Sprung ins Feld. Das Team analysiert die Verbreitung von IMI-Tweets, deren Humor und Unerwartetheit vorab durch Experten bestimmt wurden. Wieder zeigt sich: Humorvolle IMIs wirken, wenn sie unerwartet oder umgehend geteilt werden und das über Branchen hinweg und bei Berücksichtigung von zahlreichen Kontrollvariablen zu Marken und Unternehmen.
Doch was können Marketer über die virale Verbreitung hinaus erwarten? Dieser Frage gehen die Forscher besonders in ihrer vierten und fünften Studie nach. Sie beantworten anhand von Stichproben aus Fluglinien und Unternehmen des S&P 500, welche Wirkung die Verwendung von IMIs auf die Veränderung des Unternehmenswerts hat. Hierfür berücksichtigt das Team jeweils zusätzlich auch “normale” Tweets. Die Autoren zeigen, dass die Verwendung von IMIs im Gegensatz zu normalen Tweets signifikant den Unternehmenswert steigern kann. Das Fazit der Autoren ist eindrucksvoll: IMIs, die gleichzeitig humorvoll und unmittelbar sind, steigern die Marktkapitalisierung der tweetenden Unternehmen um durchschnittlich 5,1 Mio. Dollar, während humorvolle und unerwartete IMIs den Marktwert der Unternehmen im Mittel immer noch um 3,1 Mio. Dollar erhöhen.
Was sagt der Praxisprofi?
Und was sagen Marketingprofis zur Wirkung von IMIs? Wir haben mit einem gesprochen, der es wissen muss. Matthias Stock ist heute freier Marketingstratege und hat bis 2020 das Social-Media Marketing bei SIXT geleitet. Er sagt, dass erfahrungsgemäß etwa 20% der Posts mindestens 80% der gesamten Reichweite erzielen und bestätigt, dass IMI-Posts nahezu immer unter diesen 20% vertreten sind. “Die Ergebnisse der Studie bestätigen die Kommunikationsstrategie von Sixt”, so Stock. Was aus seiner Erfahrung noch wichtig ist, um mit IMIs erfolgreich zu sein: 1. die Reputation des absendenden Accounts, denn für besondere Viralität müsse man sich erst den entsprechenden Ruf erarbeiten; und 2. die Geschwindigkeit der Reaktion. Er ist zudem überzeugt, dass die grundlegenden Prinzipien der IMI in dieser auf Twitter-bezogenen Studie auch auf andere Plattformen übertragbar sind.
Wrap-up & Take-Aways
Die Ergebnisse der Studie sind provokant und eindeutig. Für Unternehmen macht sich Schlagfertigkeit in sozialen Netzwerken belohnt, wenn sie dadurch spontan oder unerwartet mit einer gesunden Portion Humor auf aktuelles Zeitgeschehen reagieren. Die Ergebnisse sind Sichtbarkeit der Kommunikation durch virale Verbreitung und sogar steigende Unternehmenswerte. Zur Vorsicht sei dennoch erwähnt, dass die Autoren nicht die Reaktion von Unternehmen auf Events mit negativer öffentlicher Wahrnehmung wie Naturkatastrophen untersucht haben. Wir überlegen in jedem Fall schon jetzt, wie wir unseren Firmen-Account bei LinkedIn während der Fußball-EM mit passenden IMIs befeuern können. In diesem Sinne, frohes twittern!
Über die Autoren


/jj
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