Hartmut Scheffler, Geschäftsführer Kantar TNS "Es ist wichtig, dass intensiv über Dumpingpreise und unzureichende Interviewerhonorare gesprochen wird"

Kantar TNS Geschäftsführer Hartmut Scheffler sprach mit uns über das Missverhältnis von Qualität in Theorie und Praxis, über die Konsequenzen der "Akte Marktforschung" und über die Pflichten der Auftraggeber.

Hartmut Scheffler ©Kantar TNS

Hartmut Scheffler ©Kantar TNS

marktforschung.de: Woran ist gute Qualität in der Marktforschung festzumachen?

Hartmut Scheffler: Auch in der Marktforschung ist gute Qualität ein "Total Quality-Thema". Natürlich steht im Mittelpunkt, dass der gesamte Prozess der Datenerhebung oder Datennutzung (bei Sekundärdaten) den wissenschaftlichen Ansprüchen, die in Normen und Richtlinien exakt festgelegt sind, entspricht. Hier geht es darum, diese längst festgelegten Kriterien auch in der Praxis und gerade auch in den Ausschreibungen und bei den Entscheidungen der Auftraggeber anzuwenden. Marktforschungsqualität geht aber natürlich deutlich darüber hinaus. Für Auftraggeber macht sich Qualität richtigerweise in einem Verstehen ihres Businessproblems und ihres Marktes, in der Lieferung relevanter Erkenntnisse und handlungsorientierter Empfehlungen, letztlich in einem Marktforschungs-ROI fest. Hat Marktforschung Informationen als Entscheidungsgrundlage oder sogar ganz konkret in Richtung von Markenstärke, Abverkauf et cetera geliefert oder hätte man auf die Marktforschungsuntersuchung letztlich verzichten können. Diese berechtigten Erwartungen auf Kundenseite sollten in keiner Qualitätsdiskussion fehlen. Und dann heißt Qualität in der Marktforschung auch, Interviewer (soweit sie noch in den jeweiligen Verfahren eingesetzt werden) und Befragte ernst zu nehmen. Also gute und möglichst kurze Fragebögen, umfassende Interviewerschulung sowie angemessene und pünktliche Bezahlung. Wenn all dies, also Erstellung des Untersuchungskonzeptes, der Datenerhebung und –analyse, Qualität in Richtung der Impact-Kundenerwartungen, Qualität in Richtung Interviewer und Befragter ganzheitlich gesehen und umgesetzt wird, dann wird Marktforschung nach wie vor relevante Informationen für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft liefern. Diese Diskussion und diese Betrachtungsweise hat es natürlich auch schon vor der SPIEGEL-Akte Marktforschung gegeben. Was dort geschehen ist – wo sind eigentlich schriftliche Belege? – steht auf einem anderen Blatt: Das ist nichts anderes als vorsätzlicher, strafbarer Betrug.

marktforschung.de:  Hat sich das Qualitätsbewusstsein nach dem Skandal um die "Akte Marktforschung" in der Branche verändert?

Hartmut Scheffler:  Natürlich hat die "Akte Marktforschung" das Thema wieder ganz oben auf die Agenda gesetzt. Natürlich ist es wichtig, dass in diesem Zusammenhang intensiv über Dumpingpreise und unzureichende Interviewerhonorare gesprochen wird. Was die Qualitätskriterien und die Messlatte für gute Qualität betrifft, so hatte die Branche schon längst vorher ihre Hausaufgaben gemacht. Was sich hoffentlich durch die "Akte Marktforschung" verändert hat, ist zweierlei: Zum einen das Bewusstsein gerade auch in Einkaufsabteilungen, dass vernünftige Qualität ihren richtigen, angemessenen und fairen Preis hat. Extrem günstige und aus dem Vergleichsrahmen fallende Angebote sind nun einmal normalerweise nicht ohne Qualitätseinbußen (das muss nicht immer gleich Betrug sein) zu realisieren. Ich hoffe nur, dass sich diese – ja nun eigentlich wirklich nicht neue Erkenntnis – nun auch über den Tag hinaus in Angebots- und Preis-Diskussionen und bei Vergabeentscheidungen durchsetzt und den Markt bereinigt. Eine zweite Veränderung in Folge der "Akte Marktforschung" ist die, dass wieder intensiver über Qualitätskontrollen gesprochen wird. Welche Qualitätskontrollen sind möglich? Welche Qualitätskontrollen zum Beispiel in Richtung Stichprobenziehung, Interviewerkontrolle, Datenplausibilitätschecks et cetera sind standardmäßig im Angebot enthalten, welche nicht? Sollte nicht jedes Angebot die Liste der durchgeführten Qualitätskontrollen beinhalten und sollte nicht auch eine solche Liste von Auftraggebern angefordert werden? Auch hier ist zu hoffen, dass das Bewusstsein für mögliche Qualitätskontrollen, die aber natürlich ebenfalls Geld kosten, geschärft wurde und geschärft bleibt.

marktforschung.de: Qualität in Theorie und Praxis – Wie stark unterscheiden sich die Kriterien und wo sehen Sie den größten Optimierungsbedarf?

Hartmut Scheffler: Die existierenden Normen und Richtlinien, zu denen sich zumindest alle in den Verbänden organisierten Institute und betrieblichen (Markt-)Forscher verpflichtet haben, gibt es längst. Natürlich müssen ähnliche Qualitätskriterien für neue Methoden, für den Bereich der schnell wachsenden Data Analysis bis hin zu Marktforschungsansätzen via künstliche Intelligenz weiter- oder neu entwickelt werden. Es hat in der Branche aber nie daran gemangelt, dass die Theorie mit Augenmaß und Sachverstand entwickelt, verschriftlicht und in entsprechenden Normen beziehungsweise Richtlinien gegossen wurde. In der Praxis entscheidet dann oft allerdings - in der Ausschreibung, im Angebot, in der Vergabe durch Einkaufsabteilungen - etwas anderes: Ganz häufig einfach der günstigste Preis, manchmal eine scheinbar innovative und pfiffige Methode (aber vielleicht nicht valide?), manchmal einfach auch Gewöhnung oder Ignoranz – nicht ganz zu Unrecht, denn in der absoluten Mehrzahl der Untersuchungen wird ohne Wenn und Aber Qualität geliefert! Wenn sich in der Praxis durchsetzen würde, Qualitätskriterien in den Angeboten zu benennen und die Qualitätschecks einzufordern, wenn Auftragnehmer/ Institute nur dann von Auftraggebern berücksichtigt werden, wenn sie wenigstens Mitglied in einem der Verbände sind und sich damit zur Einhaltung der Richtlinien und Normen verpflichten, auch wenn dies - wie im aktuellen Fall bei Betrug - nicht immer hilft: Dann wäre ein mehr als guter weiterer Schritt gemacht, die existierende und detaillierte Theorie zur guten Praxis werden zu lassen.

marktforschung.de: Was wäre Ihrer Meinung nach eine zwingend notwendige Maßnahme, um die Qualität in der Marktforschung langfristig zu sichern und Betrug weitestgehend einzudämmen?

Hartmut Scheffler: Zunächst eine Anmerkung: Ich denke, wir sind uns einig, dass "intelligenter" Betrug niemals völlig auszuschließen ist: Deshalb wird ja auch richtigerweise nach dem Eindämmen von Betrugsfällen gefragt. Eine zweite Vorbemerkung: Es sollte nicht der Eindruck entstehen, als wäre in der Marktforschung betrügerisches Verhalten die Norm – es ist das Gegenteil und da bin ich als ziemlich guter Kenner der Branche ganz sicher nach wie vor die – natürlich unschöne und unbedingt zu verhindernde Ausnahme. Eindämmung wie? Seitens der Anbieter Mitglied in einem der Verbände (ADM, BVM, DGOF) werden und sich damit auf Normen und Richtlinien verpflichten. In Angeboten die Liste der Qualitätschecks verbindlich und damit vergleichbar machen. Auftragsvergabe an Dritte (Feldinstitute et cetera) transparent machen und diese Auftragnehmer vertraglich auf Qualitätskriterien verpflichten und vertraglich abgesichert Qualitätschecks dort durchzuführen. Den gesamten Forschungsprozess verpflichtend in Angebot und Ergebnisbericht transparent darstellen- an diesem Thema arbeiten aktuell die Verbände. Mitarbeiter und Interviewer gut schulen und ständig kontrollieren wie auch weiterbilden. Dies alles wird nicht helfen, wenn es nicht auf Auftraggeberseite vergleichbare Notwendigkeiten gibt: Vergabe an Institute, die sich per Mitgliedschaft zu Normen und Richtlinien verpflichten. Einfordern der Qualitätsmaßnahmen bis hin zur Protokollierung der Ergebnisse. Nichts Unmögliches verlangen: Zum Beispiel keine unendlich langen und kaum durchführbaren Fragebögen oder nicht realisierbare Quotenvorgaben oder Inzidenzien. Und immer wieder: Bei extrem günstigen Angeboten skeptisch sein, nicht auf Dumpingangebote hereinfallen, die Einkaufsabteilungen auf Qualität und den Preis-Leistungszusammenhang hin schulen. Dies sind sicherlich durchweg keine neuen Punkte und es ist sicherlich keine vollständige und abschließende Liste. Wenn diese – eigentlich – Selbstverständlichkeiten jetzt zur guten Praxis würden und werden, dann hätte die "Akte Marktforschung" ein Gutes gehabt.

marktforschung.de: Vielen Dank!

 

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