Interview mit Menno Smid & Rainer Schnell "Es gibt zurzeit keine Studie, die das Infektionsgeschehen insgesamt abbildet."

Die Zahlen über die bisherige Verbreitung von SARS-CoV-2 divergieren erheblich. Wie kann das sein? Warum gibt es immer noch keine verlässlichen Zahlen über Infektionen, Genesene und die Todesfallrate in Deutschland? Wir sprachen darüber mit Menno Smid, CEO von Infas, und Dr. Rainer Schnell, Inhaber des Lehrstuhls für empirische Sozialforschung im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.

Menno Smid & Rainer Schnell

 

Menno Smid & Rainer Schnell

marktforschung.de: Die Zahlen über die bisherige Verbreitung von SARS-CoV-2 divergieren erheblich. Eine Hochrechnung der Heinsberg-Studie ergab 1,8 Millionen Fälle, das RKI hat am 27.5. nur 179.364 Fälle reportet. Warum gibt es immer noch keine verlässlichen Zahlen über Infektionen, Genesene und die Todesfallrate in Deutschland?

Rainer Schnell: Weil es bislang keine Zufallsstichproben aus der Bevölkerung gibt. Lokale Stichproben lassen sich nicht hochrechnen.

Menno Smid: Insbesondere am Anfang stand die Seuchenbekämpfung im Vordergrund. Da waren vor allem die Virologen gefragt, weil niemand das Virus kannte und einschätzen konnte wie es sich verhält. Wenn es hingegen darum geht, zu wissen, wie verbreitet es eigentlich ist, und zu diskutieren welche Maßnahmen darauf aufbauend sinnvoll sind, sollten auch Methodiker und Statistiker ein Wörtchen mitreden.

Es gibt doch bereits zahlreiche Studien zu COVID 19. Was läuft falsch in der bisherigen Forschung?

Menno Smid: Was heißt falsch? Es läuft in diesem Sinne gar nichts falsch. Maßgeblich ist die Fragestellung, die Leitidee der Forschung. Wenn das Forschungsinteresse ist, das Infektionsgeschehen in einem Land zum Beispiel Deutschland valide abzubilden, muss man anders vorgehen, als wenn man ein Fallbeispiel näher analysiert, wie in Heinsberg. In einem Punkt haben Sie Recht: Es gibt zurzeit keine Studie, die das Infektionsgeschehen insgesamt abbildet. Die insbesondere Aufschluss darüber gibt, wie verbreitet das Virus in der Bevölkerung eigentlich ist. Sachlich falsch ist es, die Ergebnisse von Heinsberg wie auch immer auf Deutschland hochrechnen zu wollen. Das ist statistisch nicht möglich.

Wie verlässlich sind Trendaussagen aktuell? Man hat den Eindruck, dass selbst minimale Veränderungen in den Zahlen bereits als Trend ausgelegt werden. Wie zuverlässig sind solche Aussagen?

Rainer Schnell: Trendaussagen gelten nur bei konstanten Bedingungen. Ändern Menschen ihr Verhalten, ändern sich die Infektionsraten. Daher kann man immer nur für einen Zeitpunkt eine Aussage über das Geschehen machen.

Menno Smid: Die Zahlen sind zudem eine Funktion der Testkapazitäten. Die sind in Deutschland vergleichsweise hoch, erfolgen aber statistisch gesehen willkürlich. Die Übertragungswege sind zwar einigermaßen bekannt, aber in ihrer Wirkung sehr komplex. Durch die Komplexität ergibt sich auch die Notwendigkeit in erhöhtem Maße die Dunkelziffer laufend zu untersuchen. Angesichts der Komplexität der Übertragungswege können jederzeit Ansteckungen stattfinden. Das ist ja genau das Problem.

München hat 4.500 Personen aus 3.000 zufällig ausgewählten Haushalten auf Antikörper getestet, Düsseldorf plant eine Untersuchung mit 1.000 Teilnehmern. Reicht das?

Rainer Schnell: Das hängt immer von der gewünschten Genauigkeit ab. Eine Zufallsstichprobe mit 1.000 Personen reicht, wenn man ein Konfidenzintervall von zwei Prozent bis 4,3 Prozent akzeptiert, falls der wahre Wert bei drei Prozent liegt. Bundesweit wäre das ein Unterschied zwischen gleichberechtigten Schätzungen von 1.9 Millionen Personen.

Menno Smid: Um verlässliche Aussagen zu treffen, die mit einer genügenden Sicherheit das Infektionsgeschehen schätzen, sind zwei Voraussetzungen zu erfüllen:

  1. Es muss sich um eine echte Zufallsstichprobe handeln und
  2. Die Fallzahl muss groß genug sein, damit der Standardfehler klein ist.

Im Fall München ist eine Zufallsauswahl angestrebt, aber die Fallzahl ist zu klein. Die Planungen von Düsseldorf sind uns nicht bekannt.

Sieht es international besser aus? Es gab doch kürzlich eine große Studie in New York, bei der 15.000 Einwohner beim Besuch von Grocery Stores getestet wurden.

Menno Smid: Hier stimmt die Fallzahl. Bei der Zufallsauswahl muss man wiederum skeptisch sein.

Rainer Schnell: Ein Besuch von Läden erbringt keine Zufallsstichprobe. Das ist ein Lehrbuchbeispiel für eine selektive Stichprobe: Ernsthaft Kranke werden die Wohnung weniger häufig verlassen.

Sie haben beide gemeinsam mit Horst und Anke Müller-Peters einen Vorschlag für eine repräsentative Erhebung veröffentlicht. Was ist ihr Vorschlag?

Rainer Schnell: Wir schlagen eine große bundesweite Zufallsstichprobe aus den Einwohnermeldeämtern in 300 Gemeinden vor.

Lassen sich Menschen denn einfach so für Blutabnahmen und Arztbesuche gewinnen?

Menno Smid: Wir wissen aus anderen Studien, die auch Gesundheitstests durchführen: Es kommt auf die Kommunikation an. Zum (eigenen) Arzt zu gehen ist eingeübtes Sozialverhalten. Der Arzt wiederum verschickt täglich Blut in Labore, in diesem Fall zu einem Zentrallabor. Auch das ist tägliche, eingeübte Praxis. Natürlich muss der Arzt auch in die Erhebung einbezogen werden. Ebenfalls nur ein Problem der Kommunikation, das durch die Projektleitung zu realisieren ist.

Wie genau wären die Ergebnisse, und welche Rolle spielt dabei die Genauigkeit der medizinischen Tests?

Rainer Schnell: Bei einer Stichprobe von 30.000 Personen in 100 Gemeinden sollte ein Genauigkeit von ca. ±0.2 Prozent erreichbar sein. Zudem wären (natürlich ungenauere) Vergleiche von Bundesländern möglich. Jeder Test hat Messfehler, entsprechend lassen sich die Schätzwerte korrigieren, falls man das Ausmaß der Messfehler kennt. Aufschlussreich ist aber vor allem ein Vergleich mehrerer Stichproben über die Zeit.

Erreichen Sie mit der Studie auch Bewohner von Heimen, die ja besonders gefährdet sind?

Rainer Schnell: Ja. Sobald ein Heimbewohner gezogen wird, sollen in diesem Heim insgesamt zehn Personen untersucht werden. Daher wären auch Aussagen über Heime möglich

Ließen sich die Teilnehmer nicht einfacher und billiger telefonisch, online oder im Mixed-Mode rekrutieren?

Rainer Schnell: Keinesfalls.

Menno Smid: Weder einfacher noch billiger. Die Kommunikation kann in diesem Fall nicht am Telefon erfolgen, weil es zu wenig glaubwürdig ist. Mixed Mode geht in diesem Fall auch nicht, weil kaum ein Online Panel über eine Zufallsstichprobe gewonnen wird.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Holger Geißler.

Menno Smid ist CEO der Infas Holding AG. Prof. Dr. Rainer Schnell ist seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für empirische Sozialforschung im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Heiko Rechenberger am 03.06.2020
    Vielen Dank für die aufschlußreichen Infos zur möglichen Methodik einer repräsentativen Erhebung und aktuellen Grenzen des Testens. Ich hoffe, Sie finden Gehör in der Politik.
  2. Thomas Eigner am 03.06.2020
    Ich halte es geradezu für einen Skandal, dass nach wie vor keine Repräsentativdaten verfügbar sind und Wirtschaft und Gesellschaft einer der wichtigsten Industrienationen nach Befunden gesteuert werden, die dafür nicht geeignet sind. Die Daten zielen auf das Tracing und haben eine ungewisse Aussagekraft für das Monitoring (Dunkelziffer, variierende Teststrategien etc.) Nachdem man erkannt hat, dass die Heinsberg-Studie keine Verallgemeinerung zulässt, plant das RKI weitere raum-zeitlich begrenzte Studien ohne repräsentativen Gehalt ...
  3. Wolfgang Neuber am 04.06.2020
    Natürlich kann mit viel Geld und Zeit (!) das Ergebnis einer Umfrage sehr verbessert werden. Hier aber auf die Umfrage aus Heinsberg einzuschlagen, die zu der Zeit die einzige in Europa war, die valide Daten geliefert hat, ist durch nichts gerechtfertigt. Streek hat hier eine Pioniertat geleistet zu einem Zeitpunkt, als genau diese Fragen relevant waren. Er hat immer betont, dass die Daten nicht auf Deutschland oder gar die EU anzuwenden seien, und tut es immer wieder! Aber ein bißchen Neid und Werbung für das eigene Institut geht schon in Ordnung

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