Interview mit Dr. Linda Dahm (Stuttgarter Lebensversicherung) "Es gibt so etwas wie den Darwinismus der positiven Zahl"

marktforschung.dossier: Frau Dahm, Sie waren Projektleiterin bei der GIM und sind auf die Seite der Auftraggeber gewechselt. Wie haben Sie damals den Übergang von der Institutsseite auf die betriebliche Seite erlebt?
Linda Dahm: Zwei Aspekte möchte ich besonders hervorheben. Erstens habe ich festgestellt, dass Marktforschungsinstitute Ergebnisberichte formulieren, die tauglich sind für die Marktforscher im Unternehmen, nicht aber für deren unternehmensinternen Kunden. Die Berichte sind zu umfänglich, wissenschaftlich, z.T. widersprüchlich und es fehlt die 'Story'. Institutsmarktforscher sind hoch qualifiziert, verrennen sich jedoch häufig in Details und vergessen, scheinbare Widersprüche aufzuklären. Das machen die großen Beratungsunternehmen besser. Deren Mitarbeiter sind bestens darin geschult, einfache Geschichten perfekt zu präsentieren. Ein weniger qualifizierter Unternehmensberater kann deutlich höhere Tagessätze abrufen als ein Marktforscher. Und das liegt an der Fähigkeit, sich resp. die Beratungsleistung besser zu verkaufen. Zweitens habe ich gelernt, dass dem Unternehmensmarktforscher in diesem Zusammenhang die Rolle des Übersetzers und internen Beraters zukommt. Die Anerkennung, die er bekommt oder nicht, hängt von der Fähigkeit ab, Marktforschungsergebnisse zu übersetzen und Empfehlungen auszusprechen. Das erfordert zuweilen auch Mut, denn nicht selten gibt es so etwas wie den „Darwinismus der positiven Zahl“ - gute Ergebnisse werden akzeptiert, schlechte Ergebnisse hinterfragt oder gar ignoriert – es könnte sich ja um einen methodischen Fehler handeln.
marktforschung.dossier: Sie sind nach der Institutszeit – über alle beruflichen Stationen hinweg – der Finanzbranche treu geblieben. War das opportunitätsgetrieben oder reizt Sie das Geschäft mit Geld, Kredit, Vorsorge und Sicherheit besonders?
Linda Dahm: Vorsorge und finanzielle Sicherheit sind wichtige Themen, weil gesellschaftlich relevant. Jeder fünfte Erwerbstätige wird im Laufe seines Lebens berufsunfähig. Viele Menschen laufen sehenden Auges in die Altersarmut. Hierfür bietet die Versicherungsbranche geeignete Lösungen. Die Produkte und deren Vermarktung sind anspruchsvoll. Das ist mir wichtig. Dann wurden mir vor dem Hintergrund dessen, was ich in den jeweiligen beruflichen Stationen gelernt und geleistet habe, neue, herausfordernde Positionen angeboten, die ich gerne angenommen habe. Die Qualität der jeweiligen Marken hat ebenso eine Rolle gespielt.
marktforschung.dossier: Als Soziologin, Marktforscherin und Frau haben Sie es in einer zahlenorientierten und nach wie vor männerdominierten Branche weit gebracht. Gibt es dafür ein Erfolgsrezept?
Linda Dahm: Mein Credo lautet: Wer keine Ziele hat, wird auch keine erreichen. Ich wusste Anfang 30, wo ich hin möchte und habe kontinuierlich daran gearbeitet. Um meine Ziele zu erreichen, habe ich mir für meine Arbeit hohe Qualitätsstandards gesetzt. Fleiß, Disziplin und Weiterbildung waren unerlässlich. Chancen, die sich mir geboten haben, habe ich ergriffen. Damit einhergehende Veränderungen meiner persönlichen Lebenssituation waren für mich selbstverständlich. Ich bin sehr oft umgezogen. Schließlich hat es mir geholfen, mutig zu sein - gegen den Strom zu schwimmen oder Abstand zu nehmen von der (immer noch) typisch weiblichen Bescheidenheit. Die Managementtrainerin Sabine Asgodom bringt das so auf den Punkt: „Eigenlob stinkt nicht, es stimmt!“ Selbstvermarktung ist nicht gerade eine der großen Stärken vieler Frauen. Und Selbstmarketing von Frauen wird immer noch nicht gerne gesehen. Bei Männern ist ein solches Verhalten deutlich akzeptierter. Frauen gelten hier schnell als arrogant.
marktforschung.dossier: Hilft Ihnen als Marketingleiterin die Forschervergangenheit, die Märkte besser zu verstehen, oder steht Ihnen manchmal die den Forschern nachgesagte Gründlichkeit und Methodenverliebtheit im Weg, wenn es um schnelle und klare Entscheidungen geht? Was können Marketingleiter evtl. von Marktforschern lernen? Und was umgekehrt?
Linda Dahm: Ich weiß, dass ich zuweilen als sehr wissenschaftlich wahrgenommen werde. Und es ist richtig: eine nur oberflächliche Auseinandersetzung mit den Themen, die an mich heran getragen werden, kommt für mich nicht in Frage. Sechs Jahre an der Universität als wissenschaftliche Mitarbeiterin haben ihre Spuren hinterlassen. Gleichzeitig glaube ich, mittlerweile ein gutes Gefühl dafür entwickelt zu haben, was Entscheider brauchen. Und hier sollten Marktforscher lernen, Geschichten zu transportieren, statt sich im letzten Detail zu verlieren. Umgekehrt möchte ich jedem Entscheider raten, Ergebnisse zu hinterfragen und nicht alles zu glauben. Stichproben, Frageformulierungen, Methoden müssen hinterfragt werden. Dafür benötigen Marketingleiter ohne differenzierte Methodenkompetenz loyale und integere Mitarbeiter oder Kollegen, auf deren Beratung sie sich verlassen können. Vereinfachung ist wichtig, aber nicht jede Präsentation, die glänzt, trifft des Pudels Kern.
marktforschung.dossier: Welche Rolle sehen Sie aus Marketingsicht für die Marktforschung in den nächsten zehn Jahren?
Linda Dahm: Grundsätzlich wird Marktforschung auch zukünftig einen wichtigen Beitrag in der Entscheidungsfindung leisten. Ein Entscheider, der nicht fragt, sitzt an der falschen Stelle. Viele Fragen lassen sich nur durch Marktforschung beantworten. Hier werden bewährte Methoden weiterhin Bestand haben. Gleichzeitig führen die sozialen Medien zu einer weiteren Ausdifferenzierung und völlig neuen Konzepten. Ungeachtet der Erhebungsmethoden müssen die Anbieter von Marktforschung die tatsächlichen Bedarfe in den Unternehmen identifizieren. Vielfach werden umfängliche Eigenstudien angeboten, die Informationen liefern, die den Unternehmen aus eigenen Quellen bereits bekannt oder gar belanglos sind. Das ist „wasted time and money“. Anbieter sollten sich zunächst darauf konzentrieren, den Bedarf zu erheben und erst dann in die Umsetzung gehen. In der Auftragsforschung ist auf Qualität zu achten. Der Kostendruck der Branche ist deutlich spürbar. Selbst renommierte Institute betrauen jüngere und damit weniger erfahrene Mitarbeiter mit schwierigen Fragestellungen. Damit werden sie auf Dauer nicht erfolgreich sein.
marktforschung.dossier: Was muss ein neues Marktforschungsinstitut vor allem bieten, um Sie zu begeistern?
Linda Dahm: Ich wünsche mir vor allen Dingen Berichte, die ohne weitere Bearbeitung Entscheidern vorgelegt werden können und trotzdem allen Ansprüchen wissenschaftlichen Arbeitens genügen. Leider sind Institutsberichte, die an Mäusekino erinnern, noch an der Tagesordnung.
marktforschung.dossier: Welche Rolle spielt Big Data?
Linda Dahm: Der Hype um Big Data zeigt mir, dass nach wie vor quantitative Methoden als Allheilmittel gesehen werden. Richtig ist, dass quantitative Methoden - und hier insbesondere auch auf Basis immer komplexerer und umfänglicherer Daten - zum Verständnis des Konsumverhaltens und damit auch zum Abverkauf beitragen. Keine Frage: Big Data eröffnet große Chancen - bei gleichzeitig hohen Risiken, Stichwort Datensicherheit. Ohne ergänzende qualitative Methoden werden Marketingentscheider aber auch in Zukunft nicht zu einem umfänglichen Konsumentenverständnis gelangen.
marktforschung.dossier: Und wie sehen Sie das Thema nicht-anonymes Kundenfeedback?
Linda Dahm: Jedes nicht-anonyme Kunden-Feedback ist ein Geschenk. Positiv wie negativ. Es trägt zum Verständnis des Kundenbedarfs und der Kundenwünsche bei. Kritische Rückmeldungen sind eine Chance. Wer sich offen artikuliert, ist in der Regel auch gesprächsbereit. So besteht die Möglichkeit, sich für Fehler zu entschuldigen, sie ggf. wieder gut zu machen oder ganze Prozesse zu optimieren. Und auch neue Ideen können auf dem Feedback von Kunden gründen.
marktforschung.dossier: Frau Dahm, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
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