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Interview mit Boris von Heesen "Es geht nicht darum, dass Männer grundsätzlich schlechter sind als Frauen"

Nicht nur am Vatertag fröhnen Männer gerne ihren Süchten. In allen Drogenstatistiken liegen Männern vorne. Was kostet das letztlich die Gesellschaft? (Bild: picture alliance/dpa | Matthias Bein)
In vielen Lebensbereichen sind die Belastungen der öffentlichen Haushalte stark durch geschlechterspezifische Unterschiede im Verhalten geprägt. So finden sich z. B. deutlich mehr Männer in Gefängnissen oder Verursacher von Verkehrsunfällen. Die meisten Kosten entstehen aber im Bereich Süchte, wo Männer sowohl bei illegalen und legalen Drogen die Statistiken beherrschen.
63,5 Milliarden kostet Deutschland jährlich die Folgen des Patriarchats. Zu diesem Ergebnis kommen die Berechnungen von Boris von Heesen anhand von öffentlich frei zugänglichen Statistiken. Bei den ermittelten volkswirtschaftlichen Schäden handelt es sich um Mindestkosten, die lediglich als Orientierung dienen, wie viel ungesundes männliches Verhalten in den untersuchten Bereichen der Gesellschaft kostet.
Wäre die Welt eine Bessere, wenn wir Männer uns anders verhalten würden?
Boris von Heesen: Ja, definitiv! Die Frage geht schon deshalb in die richtige Richtung, weil es um die Verhaltensweisen von Männern geht. Es geht nicht darum, dass Männer grundsätzlich schlechter sind als Frauen. Sondern sie verhalten sich einfach ungesunder, ausgelöst durch Rollenstereotype, die schon ganz früh auf sie abgefeuert werden.
Viele Menschen wissen das gar nicht: Es gibt Studien darüber, dass mit männlichen Babys schon vor der Geburt weniger gesprochen wird und der Bauch weniger berührt wird. Auch wenn die männlichen Säuglinge dann auf der Welt sind, werden sie weniger berührt und es wird weniger mit ihnen gesprochen. Es geht dann weiter in der Erziehung – und ich habe diesen Fehler selbst gemacht –, dass Männer von ihren Söhnen besondere Härte erwarten und Durchsetzungsfähigkeit im Sport. Das habe ich mit meiner Tochter nicht gemacht.
Danach geht es in der Schule weiter, wenn sie auf dem Schulhof in die ersten Peergroups kommen. In der Ausbildung sieht man auch, welche Studiengänge junge Männer und Frauen wählen. Rollenstereotype sind die Quelle von all dem was da kommt. Diese führen, wenn du keinen Reflexionsraum oder keine positive Orientierungsfigur hast, mit der du diese Männlichkeit reflektieren kannst, manchmal zu diesen ungesunden Verhaltensweisen die in Süchten, Gewalttaten und Sexismus münden.
Wie bist Du auf die Idee für das Buch gekommen?
Boris von Heesen: Eigentlich sind es mehrere Schritte gewesen. Ich war, bevor ich in die Marktforschung eingestiegen bin, Geschäftsführer von einem Drogenhilfeträger in Frankfurt am Main. Wir haben dort Konsumräume betrieben, wo Süchtige ihren Stoff mitbringen und dort unter sicheren Umständen konsumieren können. Ich wollte einen Tag vor Ort mitarbeiten, um kennenzulernen wie die Arbeit abläuft. Damals war ich überrascht, dass dorthin fast nur Männer kamen und nur wenige Frauen. Das war die erste Spur. Dann habe ich recherchiert und habe festgestellt, dass die Frankfurter Suchthilfestatistik zeigt, dass die Besucher in allen Konsumräumen zu 85 Prozent Männer sind.

2019 habe ich eine Einladung bekommen für einen Vortrag an der TU-Darmstadt zum Thema Männerrollen und Frauenrollen. Ich hatte den Part der Männerrollen. Da habe ich gedacht: „Jetzt experimentierst du einfach mal mit dem Thema“, und habe dem Ungleichgewicht der Geschlechter in den Statistiken, die unsere Gesellschaft belasten, Kostenpositionen zugeordnet. Das waren frei zugängliche Daten. Ich bin rein in den Vortrag und hab gedacht „das ist ein heißes Eisen, mal sehen, wie die Leute reagieren“. Die Reaktion war zunächst sehr große Betroffenheit.
Ganz viele Leute, auch Akademiker, haben gesagt, dass ihnen das nicht klar war, dass so ein krasses Ungleichgewicht bei Suiziden, bei illegalen Drogen usw. herrscht und dass man doch darüber reden muss. Das war der Punkt wo ich gesagt hab
„Das spricht die Menschen an. Du kommst mit diesem Thema und sofort verfängt das.“
Das war der Auslöser 2019 und dann habe ich das Buch letztes Jahr geschrieben. Fast alle Menschen, die mit dem Thema des Buches konfrontiert werden, reagieren darauf und wollen wissen, was sich dahinter verbirgt. Manchmal fühlen sie sich angegriffen. Das gibt es leider auch, aber in den meisten Fällen sind sie sehr überrascht und auch wirklich überfordert damit, dass dieses Ungleichgewicht so groß ist.
Gibt es auch toxische Reaktionen auf Dein Buch?
Boris von Heesen: Ich weiß nicht, ob ich es toxisch nennen würde, aber es gibt ablehnende Reaktionen. Ich würde sagen, dass jüngere Menschen aller Geschlechter sehr offen und interessiert sind.
Es ist tatsächlich so, dass sich Männer in meinem Alter, ab Anfang 50, durch den Titel manchmal angegriffen fühlen. Ich habe dann aber die Erfahrung gemacht, dass ich acht von zehn Männern überzeugen kann, weil ich dann sage: „Ich habe das gemacht, weil hier ein großer gesellschaftlicher Schaden entsteht und wir darüber reden müssen. Deshalb habe ich die Männer als die Verursacher auf den Titel genommen.“
Wir werden in diese Rolle als Mann reingeboren und von einer immer noch patriarchalischen Gesellschaft geprägt.
Das heißt, man kann dem Mann, der in diese Situation reinrutscht, keinen Vorwurf machen. Im Grunde genommen sind es die Kosten des Patriachats die ich zusammengetragen habe, aber ich habe bewusst den Finger in die Wunde gelegt, um diese Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es gibt leider auch Männer - ich habe das z. B. mit einem Journalisten erlebt - die sich gekränkt fühlen. Er fühlte sich und seinen Sohn durch das Buch diskreditiert. Ich habe das Buch geschrieben, um erstmal auf Fakten aufmerksam zu machen, um dann darüber eine Debatte zu entfachen. Das ist die Idee des Buches.
Was ist der Bereich, in dem männliche toxische Verhaltensweisen die Gesellschaft am meisten messbar kosten?
Boris von Heesen: Einsam an der Spitze steht der Bereich der Süchte. Zwei Dinge sind dort interessant. Zum einen, je heftiger die Sucht ist, desto höher ist der Anteil der Männer. 58 Prozent Männeranteil beim Rauchen, 73 Prozent bei den Alkoholabhängigen, 80 Prozent bei den illegalen Drogen und außer Konkurrenz ist die Spielsucht mit einem Männeranteil von 88 Prozent.
Der zweite Punkt ist, dass der Bereich der Süchte in alle anderen Felder indirekt abstrahlt. Zum Beispiel verursachen Männer fünfmal häufiger Unfälle mit Personenschäden unter Alkoholeinfluss als Frauen. Männer begehen 70 Prozent der Diebstähle. Dort ist ein Großteil auf Beschaffungskriminalität zurückzuführen. Drogen sind also schon der absolut führende Bereich.
Ein anderer großer Bereich sind ernährungsbezogene Schäden. Dadurch, dass Männer mehr Alkohol trinken, mehr Softdrinks trinken, mehr Fleisch essen, seltener Vegetarier und Veganer sind, hat das Auswirkungen auf ihr Gewicht und dann auch auf Krankheitsbehandlungskosten in Bezug auf Diabetes oder Herzkreislauferkrankungen. In dem Bereich habe ich fünf Milliarden Euro zusammengetragen.
Du beschäftigst Dich auch mit nicht messbaren Verhaltensweisen und ihren Effekten, wie z. B. Hass gegen Frauen im Netz, Rechtsextremismus oder die sogenannten Incels: Vielleicht kannst Du das nochmal erklären, inwieweit, dass eigentlich noch in diese Rechnung mit reingehört.
Boris von Heesen: Es gibt gesellschaftliche Entwicklungen, die von Männern sehr stark dominiert werden. Zum Beispiel Hass auf Frauen, besonders im anonymen digitalen Raum der enorme Kosten verursacht. Bei der Polizei, Anzeigen, aber auch Krankschreibungen, Ängste, die erzeugt werden, Menschen, die dann in Therapie müssen. Das ist ein Feld, für das noch keine entsprechenden Daten ermittelt worden sind. Ich habe immer nur solche Zahlen zusammengetragen, wo die Daten wirklich verfügbar waren.
Dann gibt es den Bereich der Sexualität. Da fallen solche Fälle rein wie Pornographie, wie Gangsta-Rap oder auch Prostitution, die häufig sehr viele misogyne - also Frauen abwertende - Folgen haben. Es ist schwer zu quantifizieren, aber es ist eine enorme Belastung für unsere Gesellschaft, es ist eine Belastung für Frauen.
Dann gibt es noch einen anderen Bereich, den ich auch sehr wichtig halte: selbstschädigendes Verhalten von Männern. Dadurch, dass sich Männer ungesünder ernähren, sie sich risikoreicher verhalten, leben sie im Durchschnitt immer noch fünf Jahre kürzer als Frauen. Und sie beherrschen die Suizidstatistik. Das ist ein Feld, da macht es aus ethischen Gründen keinen Sinn Kosten zu ermitteln, aber es ist trotzdem wichtig darauf aufmerksam zu machen.
Am Ende geht es mir mit dem Buch um die Einzelschicksale hinter den Statistiken, es geht um die Familien, die zerrissen werden, um die Männer, die zu früh sterben, um die Frauen die schwer verletzt werden. Die Statistiken sind nur ein Mittel zum Zweck, um dieses dramatische Ungleichgewicht sichtbar zu machen.

Du hast in dem Buch erwähnt, dass Norwegen ein Land ist, das vergleichsweise gleichberechtigt ist. Wie würdest Du unser deutsches Patriachat im Vergleich zu anderen Ländern beurteilen?
Boris von Heesen: Erstmal: Es ist schon viel passiert. Mir ist wichtig, dass man nicht immer alles schwarzmalt. Heute sind Frauen und Männer in Beruf und Familie im Grunde keine Grenzen. Sie können Rollen einnehmen, die vor 50 Jahren undenkbar waren. Es ist viel möglich, aber es hat sich weniger getan als wir denken, wenn wir auf diese Statistiken schauen.
Bei diesen Statistiken sind zwei Dinge spannend. Das eine ist der Index der Gleichberechtigung, der von der OCED berechnet wird, und da wird genau deutlich, dass bei den Ländern, die ein besonders hohes Maß an Gleichstellung in der Gesellschaft haben, sich die Lebenserwartung angleicht. Skandinavische Länder, liegen da viel dichter beieinander.
Was ich da besonders spannend finde, sind sogenannte „Beschwerdefreie Jahre ab 65.“ Ich find das ein interessantes Maß, weil wir alle irgendwie auf den Ruhestand hinarbeiten und wollen dann möglichst lange noch ein gesundes Leben genießen.
In den skandinavischen Ländern mit höherer Gleichberechtigung leben Männer teilweise sechs bis sieben Jahre länger beschwerdefrei ab 65.
Das ist ein starker Indikator dafür, dass es sich für Männer lohnt sich auf die Reise zu machen und zu fragen: „Wo folge ich ungesunden Rollenmustern? Darauf aufbauend, was kann ich meinem Leben verändern-? Oder, wie verhalte ich mich im Kreise meiner männlichen Freunde?“
Der Aufbruch lohnt sich, weil wir ein Vielfaches zurückerhalten. Ein längeres und gesünderes Leben oder bessere und intensivere Beziehungen zu unseren Kindern. Wir können wirkliche Freundschaften entwickeln, nicht nur Kumpel-Freundschaften und wir haben einen besseren Zugang zu unserer Gefühlsfeld. Das finde ich das spannendste Feld.
Ich habe eine Ausbildung als Männer-Jungen-Gewaltberater und begleite sowohl auf der Arbeit im Verein aber auch ehrenamtlich an einem Tag in der Woche Männer in Krisensituationen. Dort erlebe ich genau das immer wieder als Quelle für ungesundes männliches Verhalten: Viele Männer haben keinen Zugang zu ihrer Gefühlswelt. Sie sind dann scheinbar wütend, aber unter der obersten Schicht sind sie eigentlich ängstlich, traurig oder verunsichert, wissen das aber gar nicht.
Wenn Du drei Dinge in Deutschland ändern könntest, welche Dinge wären das?
Boris von Heesen: Der erste Punkt, den ich mir wünschen würde, wäre, dass die Behörden dazu verpflichtet würden solche Daten, wie ich sie in dem Buch zusammengetragen habe, mindestens einmal im Jahr zu veröffentlichen und darauf aufmerksam zu machen. Auf das Ungleichgewicht der Geschlechter, auf die Folgen, aber auch mögliche Lösungsvorschläge und Maßnahmen daraus ableiten. Das wäre der erste Schritt. Bevor wir etwas ändern können, müssen wir es erstmal wissen.
Das zweite, was ich mir wünschen würde, wäre, dass wir Geschlechterrollen systematisch kritisch hinterfragen. Ich würde mir wünschen, dass wir das System aufbrechen, wie ein Junge zu sein hat, wie ein Mädchen zu sein hat. Sondern, dass sich junge Menschen Eigenschaften aus einem Pool heraussuchen, ohne das ihnen die Gesellschaft vorgaukelt wie man als Mann oder Frau zu sein hat. Das ist nämlich genau das, was am Ende bei Männern und auch bei Frauen ungesunde Verhaltensweisen verursacht.
Ich habe in dem Buch von einer Geschlechter-Stereotyp-Autobahn gesprochen: Du wirst geboren mit deinem Geschlecht und bist dann auf einer Autobahn und kommst gar nicht mehr rüber auf die andere Seite. Wenn du aber offen für vermeintlich weibliche Eigenschaften wie Fürsorge, Mitmenschlichkeit, Teamorientierung oder Kooperationsbereitschaft bist, bist du dein ganzes Leben damit beschäftigt das von dir abzuspalten und abzuhalten. Und das ist belastend und anstrengend. In der Realität geht das nur mit einem riesigen Maßnahmenpaket und viel Geld, denn die Macht der Medien und Werbung ist enorm groß. Man braucht nur den Fernseher einschalten und dann denkst du dir: „Okay, so muss ein Mann sein, krass!“. Das geht mit Instagram und Social-Media weiter. Ich erlebe es auch bei meinen Kindern, die können sich dem kaum entziehen.
Die beiden Sachen reichen mir! Das diese Zahlen auf den Tisch kommen und das wir an Rollenstereotypen rangehen. Wenn wir das Schaffen, dann sind wir schon richtig weit.
Welche männlichen toxischen Verhaltensweisen fallen Dir besonders in der Marktforschungsbranche auf?
Boris von Heesen: Männliche toxische Verhaltensweisen pauschal auf die Branche zu übertragen finde ich schwierig.
Aber natürlich ist es so, dass die Marktforschung – zumindest, solange ich aktiv war – fast zu hundert Prozent von Männern gestaltet und dominiert wurde. Das ist ein Indikator dafür, wie stark das Patriarchat mit all seinen Folgen in der Branche noch wirkt.
Vom Gründer von Speedfacts hin zum Buch über die Auswirkungen des Patriachats - Was ist in den Jahren zwischen Speedfacts und heute passiert?
Boris von Heesen: In meiner Brust schlagen zwei Herzen. Das eine ist ein sozial-karitatives und das andere ist ein kreativ-schöpferisches. Ein Gründergen habe ich auch. Diese beiden Herzen kämpfen miteinander. Das hat dazu geführt, dass ich BWL studiert habe, aber den Schwerpunkt auf soziales Marketing gelegt habe. Dann war ich in der Diakonie und Drogenhilfe, bis ich dann mit einer Idee in der Online-Marktforschung gelandet bin. Und danach bin ich wieder zurück in die Sozialwirtschaft.
Ich würde sagen, dass dieses Buch fast eine Mischung aus beidem ist. Weil es eine Idee ist, die bis jetzt noch kein Mensch hatte, sich damit auseinanderzusetzen ungesundes Geschlechterverhalten zu monetarisieren, um den Blick darauf zu richten. Gleichzeitig weist es auf eine gesellschaftliche Schieflage hin.
In dem Feld, in dem ich aktuell tätig bin, bin ich sehr glücklich. Ich bin mehr bei mir. Mein relativ unstetes und abwechslungsreiches Berufsleben drückt irgendwie aus, dass ich ein Suchender, ein Fragender bin und mich immer wieder überlege: „Ist dass das Richtige für mich? Will ich das weiter machen? Was passt eigentlich zu mir?“
Ich bin aber immer noch sehr interessiert und höre bei alten Freunden nach, wie es der Mafo-Branche so geht. Und ich schaue tatsächlich regelmäßig auf marktforschung.de.
Über Boris von Heesen

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